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  • Aktenzeichen FK (un-)gelöst. Benjamin Balints »Kafkas letzter Prozess« ist (leider) mehr als eine Gerichtsreportage

    Etwas zu besitzen bedeutet, darüber verfügen zu können. Ein Besitz ist das Gut, das jemandem gehört. Doch das, was in Besitz genommen wurde, kann sich zur Besessenheit entwickeln, kann seinen Besitzer selbst besitzen, ihn in Anspruch nehmen, was einst dem Teufel vorbehalten war. Wer besitzt wen, wer hat die Kontrolle in diesem fanatischen Belagerungsspiel? [Weiterlesen auf literaturkritik.de]

    → 3:10 PM, Jul 2
  • Eifersüchtiges Ausweichen

    Im Februar 1819 schrieb Adele Schopenhauer ihrem Bruder Arthur einen langen Brief, in dem sie ihm das folgende Versäumnis vorhielt: »In Venedig hast Du Byron nicht gesehen. Das ist mir höchst fatal und unerklärlich; denn wenig Dichter haben mich so angesprochen, wenigere haben mir den Wunsch sie zu sehen gegeben.« Wie kam es zu diesem Nicht-Treffen? Was steckte hinter dieser Verfehlung des berühmten Engländers mit dem noch nicht berühmten Deutschen?

    Am 23. September 1818 brach der 30jährige Arthur Schopenhauer – sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung hatte er nach vierjähriger Arbeit gerade abgeschlossen – aus Dresden zu seiner ersten Italienreise auf. Goethe hatte ihm am 9. August in einem Brief aus Karlsbad geschrieben: »Möge die italiänische Reise glücklich seyn! An Vergnügen und Nutzen wird es nicht fehlen. Vielleicht machen Sie von einliegender Carte Gebrauch.« So befand sich in Schopenhauers Reisegepäck auch jene Goethesche Karte, bei der es sich um ein Empfehlungsschreiben an Lord Byron handelte, von dem Goethe wußte, daß dieser sich seit geraumer Zeit im ›Land, wo die Zitronen blühn‹ aufhielt.

    Der 28jährige George Gordon Lord Byron war am 10. November 1816 in Venedig angekommen. Er wird insgesamt sechs Jahre im selbstgewählten italienischen Exil bleiben, wo er seinen Don Juan verfassen wird. Als ein solcher erschien er Percy Bysshe Shelley, der Byron im Herbst 1818 in Venedig – zu einer Zeit also, in der sich auch Schopenhauer dort aufhielt – einen Besuch abstattete, um nach dem Tod seiner Tochter Clara ein wenig Ablenkung zu finden. Benita Eisler schreibt in ihrer wunderbaren und detailreichen Byron-Biographie: »Während Byron seine nächtlichen Streifzüge durch Venedig schilderte, stieg in diesem [Shelley] abwechselnd Neid, Bewunderung und Abscheu auf. [...] Der puritanische und provinzielle Shelley war ernstlich schockiert (was zweifelsohne in Byrons Absicht lag) über all die Hinweise auf Byrons Verderbtheit.« Die Annahme liegt nahe, daß es diese lasterhaften Charaktereigenschaften waren, die Promiskuität, die Homosexualität, die ein Treffen Schopenhauers mit ebenjenem skandalumwitterten englischen Dichter durchkreuzt haben könnten. Doch ein anderer Grund wog mehr.

    Viele Jahrzehnte nach seiner Italienreise vertraute Schopenhauer dem Komponisten und Wagner-Schüler Robert v. Hornstein den Grund seines Nicht-Treffens mit dem nur um einen Monat älteren Lord Byron an. Der Philosophiehistoriker Kuno Fischer gibt diese Erinnerungen in seiner zuerst 1893 erschienenen Schopenhauer-Monographie mit den Worten wieder: »Als er [Schopenhauer] eines Tages auf dem Lido mit seiner Freundin spazieren ging, jagte plötzlich ein Reiter im Galopp an ihnen vorüber. ›Ecco il poeta inglese!‹ rief die Freundin aus und konnte den Eindruck Byrons nicht mehr vergessen. Dadurch wurde die Eifersucht Schopenhauers dergestalt erregt, dass er die Bekanntschaft dieses großen und interessanten Dichters vermied, was er in späteren Jahren außerordentlich bereut hat.«

    Es war also Eifersucht, die Furcht »vor Hörnern«, die Schopenhauer dazu bewog, Goethes Karte nicht abzugeben und folglich Byron nicht zu treffen. Die Verfehlung der beiden Männer in Venedig kam durch ein Ausweichen des Philosophen zustande.


    Die Schopenhauers. Der Familienbriefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer. Herausgegeben und eingeleitet von Ludger Lütkehaus. Haffmans, 1991, p. 278.

    Arthur Schopenhauer. Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Herausgegeben und mit einem Essay von Ludger Lütkehaus. Haffmans, 1992, pp. 43-4.

    Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. Hanser, 1988. Genehmigte Taschenbuchausgabe, btb, 2006, p. 142 [III.1]. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 5.

    Benita Eisler. Byron. Der Held im Kostüm. Aus dem Amerikanischen von Maria Mill. Blessing, 1999, pp. 620-1.

    Kuno Fischer. Arthur Schopenhauer. Leben, Werk und Lehre. Herausgegeben und eingeleitet von Maria und Werner Woschnak. Marix, 2010, p. 95.

    Arthur Schopenhauer. Gespräche. Herausgegeben von Arthur Hübscher. Neue, stark erweiterte Ausgabe. Frommann-Holzboog, 1971, p. 220.

    → 1:20 PM, Jan 26
  • 2018 – Mein Bücherjahr

    Am letzten Tag des Jahres werfe ich – wie schon 2012 und 2017 – einen chronologisch ausgerichteten Blick zurück auf die 30 abwechslungs- und lehrreichen (Hör-)Bücher, die ich in den vergangenen zwölf Monaten (wieder-)lesen und hören konnte:

    Die Cover des Jahres (Auswahl)

    Hans Blumenberg. Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Anselm Haverkamp, Suhrkamp, 2007. [Zweite Lektüre nach 2013.]

    David Foster Wallace. Das hier ist Wasser / This Is Water. Anstiftung zum Denken. Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme vorgebracht bei einem wichtigen Anlass. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach, Kiepenheuer & Witsch, 2012. [Zweite Lektüre nach 2012.]

    Hans Blumenberg. Schriften zur Technik. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Suhrkamp, 2015.

    Yuval Noah Harari. Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn, 3. Aufl., C. H. Beck, 2017.

    Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017. Gesamtausgabe Bd. 3, herausgegeben von Walter Fanta.

    Peter Sloterdijk. Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp, 2016.

    Kurt Flasch. Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966. Klostermann, 2017.

    Rüdiger Safranski. Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Hanser, 2003.

    Michael Wolff. Feuer und Zorn. Im Weißen Haus von Donald Trump. Ungekürzte Ausgabe. Gelesen von Richard Barenberg, argon Hörbuch, 2018.

    Alfred Nordmann. Technikphilosophie zur Einführung. 2., korrigierte und erweiterte Aufl., Junius, 2015.

    Michel Houellebecq. In Schopenhauers Gegenwart. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner, 2. Aufl., Dumont, 2017.

    Thomas de Quincey. Bekenntnisse eines englischen Opiumessers. Aus dem Englischen Übertragen von Walter Schmiele, Insel, 2009.

    Fumio Sasaki. Goodbye, Things. The New Japanese Minimalism. Ungekürzte Ausgabe. Gelesen von Keith Szarabajka, Blackstone Audiobooks, 2017.

    Magali Nieradka-Steiner. Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer. Theiss/WBG, 2018.

    Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus. Minimalism. Live a Meaningful Life. 2. Aufl., Asymmetrical Press, 2016.

    Guillaume Apollinaire. Sitten und Wunder der Zeit. Die sitzende Frau. Eine Chronik Frankreichs und Amerikas. Aus dem Französischen von Lydia Babilas, Suhrkamp, 1992.

    Wolfram Eilenberger. Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929. 4. Aufl., Klett-Cotta, 2018.

    Max Tegmark. Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz. Aus dem Amerikanischen von Hubert Mania, Ullstein, 2017.

    Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Aus dem Englischen übertragen von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb. Klett-Cotta, 1992.

    James Joyce Bilder. Entworfen und gestaltet von Bob Cato. Herausgegeben von Greg Vitiello. Mit einer Einführung von Anthony Burgess. Suhrkamp, 1994.

    Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000.

    Vladimir Nabokov. Lolita. Deutsch von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, H. M. Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. 5. Aufl., Rowohlt, 2005. Gesammelte Werke, herausgegeben von Dieter E. Zimmer, Bd. VIII.

    Thomas Bauer. Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeiten und Vielfalt. Sonderausgabe, Reclam, 2018.

    Wittgenstein. Eine Familie in Briefen. Herausgegeben von Brian McGuinness und Radmila Schweitzer. Übersetzungen aus dem Englischen von Joachim Schulte unter Mitarbeit von Maria Concetta Ascher. In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Insbruck. Haymon, 2018.

    Alexander Waugh. Das Haus Wittgenstein. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie. Aus dem Englischen von Susanne Röckel. S. Fischer, 2009.

    William Carlos Williams. Die Worte, die Worte, die Worte. Gedichte. Amerikanisch und deutsch. Übertragung, das Gedicht ›Envoi‹ und Nachwort von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp, 2016.

    Vittorio Hösle. Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. C.H.Beck, 2018.

    Wolf Ekkehard Griesenbach und Sebastian Diederich. Lebensweise mit Nico oder NiWo II: Die Reise geht weiter. Privatdruck, 2018.

    Joan Didion. Sentimentale Reisen. Essays. Aus dem Amerikanischen von Mary Fran Gilbert, Karin Graf, Sabine Hedinger und Eike Schönfeld. Neuausgabe. Ullstein, 2016.

    Et in Arcadia Ego. Arthur Schopenhauer und Italien. Notizen aus Reisebuch, Foliant, Brieftasche, Quartant, Adversaria samt Aktenstücken. Herausgegeben von Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop. Königshausen & Neumann, 2018.

    → 9:00 AM, Dec 31
  • Sabotage

    In seiner aktuellen »Neulich«-Kolumne für die Literaturzeitschrift Volltext gibt der Schriftsteller Andreas Maier folgende Anekdote zum besten: »Neulich schlief mir in der U-Bahn ein Fuß ein, den ich darauf hob und schüttelte. Ein mir gegenübersitzender Mann rief gleich: Spinnst du, hast du keinen Respekt? Ich sagte, mein Fuß sei eingeschlafen, und hob ihn wieder, um ihn zu schütteln. Darauf er, völlig wildgeworden: Du Scheißnazi, du Faschist, du deutsche Drecksau, man muss euch alle umbringen. Er schrie durch den ganzen Waggon und meinte mit ›euch alle‹ uns alle im Waggon. Übersetzt in klare Sprache: Er war Araber, besoffen und glaubte, ich hätte ihm ›die Fußsohle gezeigt‹. Er hatte dieses rhetorisch miese ›Respekt‹-Wort zur Hand (und Gott sei Dank kein Messer).« Unweigerlich mußte ich an die berühmt-berüchtigte Pressekonferenz vom 14. Dezember 2008 in Bagdad denken, in welcher der irakische Journalist Muntadhar al-Zaidi zu weltweiter Prominenz avancierte, und zwar nicht etwa aufgrund kritischer Fragen, die er stellte, sondern vielmehr weil er seine Schuhe auf den damaligen US-Präsidenten George W. Bush warf und ihn zweimal nur knapp verfehlte. Vor dem Hintergrund islamischer Hygieneverordnungen erhält die Sabotage (frz. saboter für ›in Holzschuhen umhertappen‹, ›derb auftreten‹, ›mit dem Kreisel spielen‹, ›stoßen‹, ›quälen‹) eine neue Dimension.


    Andreas Maier. »Neulich.« Volltext, Nr. 3/2018, pp. 24-5, hier p. 24.

    Art. »sabotieren.« Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Genehmigte Lizenzausgabe, Edition Kramer, 2018, pp. 1153-4.

    → 9:00 AM, Oct 22
  • Das extravagante Jahr 1947/48

    Nachdem wir in den vergangenen zwölf Monaten das 50. Jubiläum der Johnsonschen Jahrestage feiern konnten – die vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 notierten 366 Einträge füllen 1891 Romanseiten –, stieß ich auf ein weiteres, 20 Jahre älteres, literarisches Jubiläum: Die erste ›Reise‹ (man sollte vielleicht besser von verzweifelter Flucht sprechen, oder mit den Worten des Erzählers von »ständige[n] schuldbewußte[n] Ortswechsel[n]«), die Humbert Humbert mit seinem geliebten zwölfjährigen Nymphchen Dolores Haze in Vladimir Nabokovs skandalbehaftetem Roman Lolita (EA Olympia Press, Paris, 1955) unternimmt, fand zwischen August 1947 und August 1948 statt. Der obsessive Humbert berichtet von der amerikanischen Odyssee das Folgende: »Unsere Route in jenem verrückten Jahr [...] begann mit einer Reihe von Schleifen und Schnörkeln in Neuengland, schlängelte sich dann nach Süden, hinunter und wieder herauf, zum Atlantik hin und wieder vom Atlantik weg; tauchte tief in ce qu'on appelle Dixieland hinein, vermied Florida, weil dort die Farlows waren, schwenkte nach Westen, zickzackte durch Mais- und Baumwollzonen [...]; überquerte auf zwei verschiedenen Pässen die Rockies, streifte durch südliche Wüsten, wo wir überwinterten; erreichte den Stillen Ozean, wandte sich durch den lilafarbenen Flaum blühender Büsche am Rande von Waldstraßen nach Norden; erreichte fast die kanadische Grenze; verlief dann wieder nach Osten, durch Badlands wie durch gute Lande, zurück zur Landwirtschaft großen Stils, vermied trotz Klein-Los gellendem Protest Klein-Los Geburtsort in einer Gegend, die Mais, Kohle und Schweine produzierte, und kehrte schließlich in den Schoß des Ostens zurück, wo sie dann in der College-Stadt Beardsley zu Ende kam.« HAPPY 70TH ANNIVERSARY!


    Vladimir Nabokov. Lolita. Deutsch von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, H. M. Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. 5. Aufl., Rowohlt, 2005, pp. 247-8, 282, 284. Gesammelte Werke, herausgegeben von Dieter E. Zimmer, Bd. VIII.

    → 10:25 AM, Sep 1
  • Finale Verfehlungen, Teil 2

    Vor drei Jahren habe ich – inspiriert durch Hans Blumenberg und Henning Ritter – in der Freitag-Community einen Beitrag über zwei finale Verfehlungen Goethes geschrieben, namentlich über dessen Nicht-Treffen mit Winckelmann und Byron. Vor einigen Tagen stieß ich in Ray Monks lesenswerter Wittgenstein-Biographie auf ein weiteres Beispiel einer solchen finalen Verfehlung, gut 80 Jahre nach Goethes Tod und sich in Krakau ereignend, deren Umstände ich ausführlich zitieren möchte: »Die Goplana [ein Wachschiff, das auf der Weichsel patrouillierte] nahm Kurs zurück nach Krakau, tief in österreichischem Gebiet, wo die Armee ihr Winterquartier aufschlagen sollte. Noch vor der Ankunft erreichte Wittgenstein ein Gruß von Georg Trakl, der im Militärhospital von Krakau psychiatrisch behandelt wurde. Wittgenstein war von Ficker bereits über Trakls Zustand informiert worden, als dieser Trakl in Krakau besucht und Wittgenstein schriftlich gebeten hatte, ihn zu besuchen. Trakl fühle sich, schrieb Ficker, extrem einsam und kenne in Krakau keinen Menschen. ›Sie würden mich zu großem Dank verpflichten‹, schrieb Trakl selbst, ›wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuches geben würden. ... Möglicherweise werde ich das Spital in den nächsten Tagen verlassen können um wieder ins Feld zurückzukehren. Bevor darüber eine Entscheidung fällt, möchte ich herzlich gerne mit Ihnen sprechen.‹ Da sich Wittgenstein bei seinen Kameraden unwohl fühlte, war er über die Einladung entzückt: ›Wie gerne möchte ich ihn kennen lernen. Hoffentlich treffe ich ihn, wenn ich nach Krakau komme! Vielleicht wäre es mir eine große Stärkung.‹ Als die Goplana am 5. November [1914] schließlich Krakau erreichte, war er ›sehr gespannt, ob ich Trakl treffen werde. Ich hoffe es sehr‹. ›Ich vermisse sehr einen Menschen, mit dem ich mich ein wenig ausreden kann. Es wird auch ohne einen solchen gehen müssen. Aber es würde mich sehr stärken. ... In Krakau. Es ist schon zu spät, Trakl heute noch zu besuchen. – – – Möge der Geist mir Kraft geben.‹ Wittgenstein hatte unwissentlich etwas bitter Ironisches notiert: Als er am nächsten Morgen ins Hospital eilte, war es wirklich zu spät: Trakl hatte sich zwei Tage zuvor, am 3. November, mit einer Überdosis Kokain das Leben genommen.« Im zweiten Heft seiner Geheimen Tagebücher notierte Wittgenstein unter dem Datum des 6. November 1914 fassungslos: »Früh in die Stadt zum Garnisonsspital. Erfuhr dort, daß Trakl vor wenigen Tagen gestorben ist. Dies traf mich sehr stark. Wie traurig, wie traurig!!! Ich schrieb darüber sofort an Ficker. Besorgungen gemacht und dann gegen 6 Uhr aufs Schiff gekommen. Nicht gearbeitet. Der arme Trakl. – – – Dein Wille geschehe. – – –« Trakl, den Wittgenstein erst im Sommer 1914 im Rahmen einer Spende an die von Ludwig von Ficker herausgegebene Kulturzeitschrift Der Brenner großzügig finanziell unterstützt hatte – »Herr L. v. Ficker überwies mir«, so Trakl in seinem erst 1988 in Wien entdeckten Dankesschreiben an Wittgenstein vom 23. Juli 1914, »gestern in Ihrem Namen 20.000 Kronen [was heute etwa 21.000 Euro entspräche]. Erlauben Sie mir, Ihnen für Ihre Hochherzigkeit ergebenst zu danken«–, leitete die finale Verfehlung mit seinem geschätzten Mäzen vermutlich selbst in die Wege. »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«, heißt es in Trakls Gedicht »Grodek«. Vielleicht sah der Dichter einfach keine andere Möglichkeit mehr, den furchtbaren Erlebnissen des Krieges zu entgehen, als sein Herz mit Kokain erkalten zu lassen.


    Nico Schulte-Ebbert. »Finale Verfehlungen. Die Chronologie der Endpunkte und die Chronologie der Verfehlungen: Goethe, Winckelmann, Byron.« der Freitag. Das Meinungsmedium, 12. Aug. 2015, https://www.freitag.de/autoren/nicoschulteebbert/finale-verfehlungen.

    Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Aus dem Englischen übertragen von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb. Klett-Cotta, 1992, pp. 137-8.

    Wilhelm Baum. Wittgenstein im Ersten Weltkrieg. Die »Geheimen Tagebücher« und die Erfahrungen an der Front (1914-1918). Kitab, 2014, p. 56.

    Ludwig (von) Ficker – Ludwig Wittgenstein. Briefwechsel 1914-1920, herausgegeben von Annette Steinsiek und Anton Unterkircher, mit einem Nachwort von Allan Janik, Innsbruck UP, 2014, p. 20.

    Georg Trakl. »Grodek [2. Fassung].« Dichtungen und Briefe, herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar, 3. Aufl., Otto Müller, 1974,  p. 94.

    → 1:00 PM, Aug 1
  • Frust am Text. Gedanken zum Thomas-Bernhard-Sound

    Es fällt mir schwer, Thomas Bernhard zu empfehlen. Dieses Geständnis klingt nach einem erzwungenen, allerdings mache ich es aus freien Stücken und vor dem Hintergrund jahrelanger literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem so eigentümlichen österreichischen Schriftsteller. Empfehlungen sind mit Vorsicht zu genießen, Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Eine Empfehlung möchte Genuss bereiten, einen Nutzen bringen, Lust verschaffen, und das heißt in diesem Falle: Lektüregenuss. Doch gerade diese Lust am Text kippt allzu schnell in Frust um, was ich auf den typischen Bernhard-Sound zurückführen möchte. [Weiterlesen in Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, Heft 2/2017, pp. 79-90]

    → 10:00 AM, Mar 15
  • Jahresschalttage

    Als die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im August vergangenen Jahres darauf hinwies, daß beim fünfzigsten Jubiläum der Johnsonschen Jahrestage eine kalendarische Übereinstimmung mit den Jahren 2017/18 bestehe, vergaß sie – trotz Hinweis auf das Schaltjahr 1968 – zu erwähnen, daß die Tageskongruenz nur bis zum 28. Februar währen würde. Der ›heutige‹ Jahrestag erstreckt sich über neun Seiten und trägt das Datum »29. Februar, 1968 Donnerstag«; fünfzig Jahre später ist dieser Donnerstag der 1. März. »Wir sollten ihn [den zusätzlichen Tag] statt am 29. Februar am 32. Dezember erwarten«, so Alexander Demandt in seiner Kulturgeschichte der Zeit, »aber Caesar hielt aus kultischen Gründen an dem Februartermin fest.« Beinahe wäre also diese etwas unschöne, schiefe Lektürelage der Jahrestage in ihrem Jubiläumsjahr verhindert worden.


    Andreas Bernard. »Zurück zum Riverside Drive.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Aug. 2017, p. 41.

    Nico Schulte-Ebbert. »Jahrestag der Jahrestage.« denkkerker, 21. Aug. 2017, https://denkkerker.com/2017/08/21/jahrestag-der-jahrestage/.

    Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, pp. 710-8.

    Alexander Demandt. Zeit. Eine Kulturgeschichte. Propyläen, 2015, p. 230.

    → 3:15 PM, Mar 1
  • Die Quelle des Genies

    Die zweite Seite des George-North-Manuskripts, die die Passage zeigt, die Shakespeare zum Schreiben des Eröffnungsmonologs in »Richard III.« verwendete

    Die New York Times berichtet, daß zwei findige Forscher, Dennis McCarthy und June Schlueter, mit Hilfe der Plagiatssoftware WCopyfind herausgefunden hätten, daß sich William Shakespeare zu elf seiner Stücke von dem unveröffentlichten Manuskript A Brief Discourse of Rebellion & Rebels, verfaßt von George North im späten 16. Jahrhundert, habe inspirieren lassen. »It [the source] affects the language, it shapes the scenes and it, to a certain extent, really even influences the philosophy of the plays«, so McCarthy. Das Auffinden des Manuskripts war mühsam; es wurde schließlich in der British Library entdeckt, die es 1933 erworben hatte. Rebellion and Rebels wurde nun bei Boydell & Brewer erstmals publiziert und kann für $ 120 beziehungsweise € 90,99 erworben werden. Die Quelle des Genies hat wahrlich ihren Preis.


    Michael Blanding. »Plagiarism Software Unveils a New Source for 11 of Shakespeare's Plays.« The New York Times, Feb. 7, 2018, https://www.nytimes.com/2018/02/07/books/plagiarism-software-unveils-a-new-source-for-11-of-shakespeares-plays.html.

    → 10:00 AM, Feb 8
  • Halbe Sachen

    Ich finde im Mann ohne Eigenschaften eine kluge und nüchterne Auslegung des bei Platon überlieferten Kugelmenschen-Mythos (symp. 189a1-193e2). Nachdem sich Agathe gefragt hat, warum es so schwer sei, die beiden zu- und ineinander passenden Menschenhälften wiederzuvereinigen, die Zeus geteilt und dadurch geschwächt hatte, antwortet ihr Bruder Ulrich: »Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen. so ›hälftet‹ sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster.« Die Macht des Eros verleitet zum Ausruf: »Was nicht paßt, wird passend gemacht!« (Im Zweidimensionalen könnte man diese Methode die Quadratur des Kreises nennen.) So erodieren im Laufe der Zeit die Profile der Hälften durch ungeschicktes und übereiltes trial and error, bis selbst perfekte Gegenstücke keinerlei Verbindungsmöglichkeiten mehr erkennen lassen. Die Symbole stumpfen ab und verlieren ihre magische Wirkung. Sie sind gefangen zwischen Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht nach dem Urzustand, und können doch bloß halbe Sachen machen.


    Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017, pp. 391-2. Gesamtausgabe Band 3, herausgegeben von Walter Fanta.

    → 4:00 PM, Jan 30
  • 2017 – Mein Bücherjahr

    Am letzten Tag des Jahres werfe ich einen chronologisch ausgerichteten Blick zurück auf die abwechslungs- und lehrreichen Bücher, die ich in den vergangenen zwölf Monaten (wieder-)lesen konnte:

    • Arno Schmidt. Essays und Aufsätze 1. Herausgegeben von der Arno Schmidt Stiftung. Haffmans, 1995. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches, Studienausgabe Bd. 3.
    • E. M. Forster. Die Maschine steht still. Aus dem Englischen von Gregor Runge. Hoffmann und Campe, 2016.
    • Wendy Moffat. E. M. Forster. A New Life. Bloomsbury, 2010.
    • Jan Philipp Reemtsma. Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Reclam, 2016.
    • Hans Blumenberg. Die Sorge geht über den Fluß. Suhrkamp, 1987. [Zweite Lektüre nach 2009.]
    • Manfred Geier. Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Rowohlt, 2017.
    • Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016. Gesamtausgabe Bd. 2, herausgegeben von Walter Fanta.
    • Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Neubearbeitet von Karin Metzler. 11. Aufl., Kröner, 1984. Kröners Taschenausgabe, Bd. 2. [Zweite Lektüre nach 1998.]
    • David Foster Wallace. Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich. Aus dem Amerikanischen von Markus Ingendaay. 14. Aufl., Goldmann, 2006. [Zweite Lektüre nach 2012.]
    • William Faulkner. Eine Rose für Emily. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. Diogenes, 1972. [Zweite Lektüre nach 2011.]
    • Walter Benjamin. Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. Suhrkamp, 1987. [Zweite Lektüre nach 2004.]
    • James Joyce. Dubliner. Übersetzt von Dieter E. Zimmer. Suhrkamp, 1995. [Zweite Lektüre nach 2006.]
    • Jacques Derrida. Die unbedingte Universität. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. 6. Aufl., Suhrkamp, 2016.
    • Philip Roth. Das sterbende Tier. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 2003. [Zweite Lektüre nach 2003.]
    • Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg. C. H. Beck, 2017.
    • Ian McEwan. Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 2007. [Zweite Lektüre nach 2010.]
    • Jim O’Donnell. The Day John Met Paul. An Hour-By-Hour Account of How The Beatles Began. Routledge, 2006.
    • E. M. Cioran. »Auf den Gipfeln der Verzweiflung.« Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp, 2008, pp. 11-154. [Zweite Lektüre nach 2009.]
    • Paul-Henri Campbell. nach den narkosen. Gedichte. Wunderhorn, 2017.
    • Emmanuelle Loyer. Lévi-Strauss. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, 2017.
    • Patrick Wilcken. Claude Lévi-Strauss. The Poet in the Laboratory. Bloomsbury, 2010.
    • W. G. Sebald. Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Lizenzausgabe, 6. Aufl., Fischer Tb, 2012.
    • Homer. Die Odyssee. Übersetzt in deutsche Prosa von Wolfgang Schadewaldt. Rowohlt, 1958. Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Herausgegeben von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Wolfgang von Einsiedel. Griechische Literatur, Bd. 2.
    • Leonid Zypkin. Ein Sommer in Baden-Baden. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Mit einem Vorwort von Susan Sontag. 2. Aufl., Berlin Verlag, 2006.

    Mit der Lektüre 2017 begonnen, diese jedoch noch nicht abgeschlossen:

    • Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017. Gesamtausgabe Bd. 3, herausgegeben von Walter Fanta.
    • Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000.
    → 8:30 AM, Dec 31
  • Aufregung zur Tätigkeit

    Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, das mir am Wochenende zugestellt wurde, finde ich eine Photographie von Goethes während eines Bombenangriffs am 9. Februar 1945 zerstörtem Arbeitszimmer. Ganz gleich, wie das Verhältnis von Originalzustand und musealer Inszenierung, von Authentizität und Rekonstruktion des Weimarer Domizils gewesen sein mag: hier liegt nicht nur die Architektur in Trümmern, sondern vor allem die Aura des genius loci. Der Dichter selbst spricht uns jedoch Trost zu, als könnte er uns, über ein Jahrhundert nach seinem Tod, fassungslos inmitten der Schuttberge stehen sehen: »Es darf uns nicht niederschlagen«, heißt es im Dezember 1787 in Goethes Italien-Bericht, »wenn sich uns die Bemerkung aufdringt, das Große sei vergänglich; vielmehr wenn wir finden das Vergangene sei groß gewesen, muß es uns aufmuntern selbst etwas von Bedeutung zu leisten das fortan unsre Nachfolger, und wär’ es auch schon in Trümmer zerfallen, zu edler Tätigkeit aufrege, woran es unsre Vorvordern niemals haben ermangeln lassen.«


    Paul Kahl. »Kulturgeschichte des Dichterhauses. Das Dichterhaus als historisches Phänomen.« Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Herausgegeben von Alexander Honold, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp und Ulrich Raulff, Bd. LXI, de Gruyter, 2017, pp. 325-45, hier p. 340.

    Johann Wolfgang Goethe. Italienische Reise. In Zusammenarbeit mit Christof Thones herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller. Hanser, 1992. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, p. 543. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Bd. 15.

    → 11:30 AM, Dec 19
  • »Schoiße!«

    Nachdem David Auerbach im Juli 2016 den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump in einem lesenswerten Text mit der Figur des exzentrischen Frauenmörders Moosbrugger aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930-43) verglichen hatte – »Trump and Moosbrugger are both amoral ciphers, pursuing self-aggrandizement in the absence of any substantial self« –, zieht Charles Simic nun Parallelen zwischen dem amtierenden US-Präsidenten Trump und Alfred Jarrys groteskem König Ubu aus dem gleichnamigen Theaterstück, das am 10. Dezember 1896 in Paris eine skandalbehaftete Premiere feierte. Simic schreibt: »Since Trump became president, every time I told myself this man is bonkers, I remembered Ubu, realizing how the story of his presidency and the cast of characters he has assembled in the White House would easily fit into Jarry’s play without a single word needing to be changed.« Machen wir die Probe aufs Exempel und blicken an den Anfang des Stücks: »Vater Ubu. Schoiße! / Mutter Ubu. Ach wie reizend, Vater Ubu; Ihr seid fürwahr ein rechter Lumpensack. / Vater Ubu. Daß ich Euch nicht mal erschlag, Mutter Ubu! / Mutter Ubu. Doch nicht mich, Vater Ubu; einen andern sollt ihr totmachen. / Vater Ubu. Bei meiner grünen Rotze, das versteh ich nicht.« Fast könnte man meinen, einer Pressekonferenz mit dem vermeintlich mächtigsten Mann der Welt beizuwohnen! »Obwohl es paradox erscheinen mag«, schrieb Oscar Wilde im Jahre 1889, »[…] ist es darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.« Wenn Kunst und Leben ihre Positionen tauschten, geriete Trumps Präsidentschaft zu einem der größten Kunstwerke überhaupt; das Leben selbst versänke indes in absoluter Irrelevanz.


    David Auerbach. »Donald Trump: Moosbrugger for President.« Crooked Timber, Jul. 26, 2016, http://crookedtimber.org/2016/07/26/donald-trump-moosbrugger-for-president/.

    Charles Simic. »Year One: Our President Ubu.« NYRDaily, Nov. 6, 2017, http://www.nybooks.com/daily/2017/11/06/year-one-our-president-ubu/.

    Alfred Jarry. König Ubu. Drama in fünf Aufzügen. Übersetzt und herausgegeben von Ulrich Bossier, Reclam, 1996, p. 5 [1.1.1-7].

    Oscar Wilde. »Der Verfall der Lüge. Eine Betrachtung.« Essays II. Aus dem Englischen von Christine Hoeppener, Norbert Kohl, Christine Koschel, Hedda Soellner und Inge von Weidenbaum, Insel, 2000, pp. 9-44, hier p. 29. Sämtliche Werke in sieben Bänden, herausgegeben von Norbert Kohl, Bd. 7.

    → 10:40 AM, Nov 7
  • Der geheiligte Tag

    Daß der am gestrigen 16. Juni von Aficionados moderner Literatur weltweit gefeierte 113. Bloomsday beinahe zwei Tage früher stattgefunden hätte, wissen viele Ulysses-Jünger nicht. Im ersten Brief des 22jährigen James Joyce an Nora Barnacle, datiert auf den 15. Juni 1904, heißt es: »I may be blind. I looked for a long time at a head of reddish-brown hair and decided it was not yours. I went home quite dejected. I would like to make an appointment but it might not suit you. I hope you will be kind enough to make one with me – if you have not forgotten me!« Den Hintergrund liefert der Kommentar zum Brief: »Sie [Nora] kam nicht zur vereinbarten Zeit [ebenjenem 14. Juni] und ihr [Noras und James’] erster gemeinsamer Spaziergang fand am folgenden Abend statt, dem 16. Juni.« Richard Ellmann erklärt: »An diesem 16. Juni trat er [Joyce] mit seiner Umwelt in Beziehung und ließ die Einsamkeit, die er seit dem Tod seiner Mutter verspürt hatte, hinter sich zurück. Später sagte er ihr [Nora] dann: ›Du hast mich zum Mann gemacht.‹ Der 16. Juni war der geheiligte Tag, der Stephen Dedalus, den rebellischen Jüngling, von Leopold Bloom, dem nachgiebigen Gatten, trennte.« So liegt den Feierlichkeiten zum Bloomsday – der wohl erste fand am 16. Juni 1929 unter dem Namen Déjeuner Ulysse im Hôtel Léopold in Les Vaux-de-Cernay, einem kleinen Dorf hinter Versailles, statt – eine Initiation zugrunde, die jedoch vom strahlenden, mehrdeutigen, detailreichen Plot des Ulysses gänzlich in den Schatten gestellt wird. Allerdings muß man weder um die biographischen Hintergründe dieses Datums wissen, noch ist die Lektüre des Romans eine Notwendigkeit, denn: »Yes, many people read Ulysses (as Monroe apparently did), but, as our Bloomsday celebrations show, one need not penetrate the mystery in order to recognize, and partake of, its prestige«, so Jonathan Goldman. Es bleibt dennoch zu hoffen, daß der Bloomsday viele Teilnehmer zum Lesen dieses ungeheuren Liebesbeweises motivieren wird.


    Richard Ellmann. James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe, Suhrkamp, 1996, p. 248; p. XII. [Faksimile des Briefes]; p. 906.

    James Joyce. Briefe an Nora. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Fritz Senn. 3. Aufl., Suhrkamp, 1996, p. 135.

    Jonathan Goldman. »Bloomsday Explained.« The Paris Review, Jun. 13, 2014, https://www.theparisreview.org/blog/2014/06/13/bloomsday-explained/.

    → 5:12 PM, Jun 17
  • Bakteriokratie

    Daß Computer immer mehr Texte zu schreiben in der Lage sind, daß sie schon heute in beträchtlichem Umfang für Sport-, Finanz- und Wetterberichte eingesetzt werden – »[b]is 2020 will die AP 80 Prozent ihres Nachrichtenangebots automatisieren« –, daß diese Texte von von Menschen verfaßten kaum noch zu unterscheiden sind, daß sich die Qualität dieser künstlichen Texte permanent verbessert, daß diese Algorithmokratie auch in Bereiche vordringt, in denen der kreative, inspirierte, musengeküßte Mensch bisher die Krone der Schöpfung repräsentierte (etwa im epischen oder lyrischen Bereich) – all das scheint als Unausweichlichkeit einer technologischen Entwicklung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen und unter dem Schlagwort ›Selbstentmündigung‹ ad acta gelegt zu werden. Eine andere Herrschaftsform, die wesentlich älter, ja geradezu ursprünglich ist, erscheint mir da faszinierender und in ihren Auswirkungen geradezu universell: die Bakteriokratie. Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, daß die Mikroben, die wir in und mit uns tragen, die Mikroben, aufgrund derer wir einem potentiellen Partner attraktiv erscheinen, auch direkt unseren Fortpflanzungserfolg beeinflussen. Dachten wir noch, nach dem Tode Gottes endlich wieder selbst im Zentrum allen Seins auf einem gigantischen Massagestuhl zu sitzen, machen uns winzige Symbionten diesen Status streitig und lassen uns als fremdbestimmte biochemische Masse erscheinen. Der Wissenschaftsjournalist Moises Velasquez-Manoff denkt diese Marginalisierung in extremo, indem er zutiefst Menschliches wie Liebe, Sehnsucht oder Lyrik als ein Nebenprodukt mikrobiotischer Prozesse darstellt: »So love, desire, the cheesy rom-coms, the sappy ballads, the Shakespearean sonnets — all of them may depend on that teeming ecosystem of microbes within.« Es scheint, daß wir erneut nicht Herr im eigenen Haus sind und daß wir diese Position auch nie einzunehmen in der Lage sein werden.


    Adrian Lobe. »Prosa als Programm.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12. Feb. 2017, p. 47.

    Moises Velasquez-Manoff. »Microbes, a Love Story.« The New York Times, Feb., 10, 2017, https://www.nytimes.com/2017/02/10/opinion/sunday/microbes-a-love-story.html.

    → 2:30 PM, Feb 12
  • »And I’m just like that bird«

    Sowohl Edo Reents als auch Heinrich Detering stellen in der heutigen F.A.Z. die Oralität des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan als ein wichtiges Charakteristikum seines Werkes heraus. So findet man im Text des ersten die Passage: »In gewisser Weise setzt sie [das Nobelpreiskomitee?] die Literatur, die in ihren Anfängen und für lange Zeit ja mündlich war, nun wieder in ihr Recht, indem sie jemanden prämiert, der kaum Bücher vorzulegen hat, der lieber zu seiner lyra singt, also lautlich in Erscheinung tritt.« In Deterings Artikel heißt es: »Es ist die Sehnsucht, aus einer avancierten und hochdifferenzierten Schriftkultur heraus einen neuen Anschluss zu finden an die Ursprünge einer Poesie, in der Wort und Klang, Kunstwerk und Aufführung noch eine ungeschiedene Einheit gewesen waren.« So ist diese Auszeichnung weniger eine progressive oder politische Entscheidung, sondern vielmehr eine Erinnerung an die Wiege der Literatur in der Flüchtigkeit und Eindringlichkeit der Stimme, back to the roots quasi. Paradoxerweise ist Dylan verstummt; bis dato gibt es keinerlei Reaktion seinerseits auf den Nobelpreis. Und gerade deshalb möchte ich, an Mörike angelehnt, den Reents durch den Titel seines Textes eingeführt hat, schließen: ›Dylan, ja du bist’s! / Dich haben wir vernommen!‹


    Edo Reents. »Er ist’s!« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.

    Heinrich Detering. »Des alten Knaben Wunderhorn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.

    → 2:30 PM, Oct 14
  • Schwarze Briefe und diamantene Himmel

    In der Zeit lese ich ein paar dort vorabgedruckte Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz. »Sensationell neu ist daran«, so heißt es im einführenden Text, »die ungeschminkte Selbstauskunft über die politische Gesinnung.« In der Tat positioniert sich Heidegger in seinen Briefen als leidenschaftlicher Hitler-Bewunderer und Antisemit. Da kommt die Mitteilung der Schwedischen Akademie in Stockholm, die mich während der Lektüre erreicht, wie gerufen: Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den (jüdischen) Musiker Bob Dylan.


    Alexander Cammann und Adam Soboczynski. »Der Fall Heidegger.« Die Zeit, 13. Okt. 2016, p. 45.

    → 3:00 PM, Oct 13
  • Lärm und Schatten

    Musils Synästhesie: »Der Lärm draußen rauschte, schmetterte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte.«


    Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 338. Gesamtausgabe Band 1, herausgegeben von Walter Fanta.

    → 3:15 PM, Oct 11
  • Neologist

    Ich erfahre aus einer Rezension im Harper’s Magazine, daß der Opiumesser Thomas De Quincey (1785-1859) laut dem Oxford English Dictionary die Begriffe ›vermeidlich‹ (evadable), ›krankhaft‹ (pathologically) sowie ›unterbewußt‹ (subconscious) in die englische Sprache eingebracht und damit gleichsam die Kategorien der modernen Psychologie erfunden habe. Ob diese Kreativität auf den exzessiven Genuß von Opium zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Fest steht, daß De Quincey die Droge 1804 als Student in Oxford kennenlernte, anfänglich als Mittel gegen Zahnschmerzen, später dann als ›göttliches Vergnügen‹.


    Matthew Bevis. »Supping on Horrors. Thomas De Quincey’s bad habits.« Rezension zu Guilty Thing: A Life of Thomas De Quincey, von Frances Wilson. Harper’s Magazine, Oct. 2016, http://harpers.org/archive/2016/10/supping-on-horrors/.

    → 10:00 AM, Oct 7
  • Panerotismus

    Musils Parallelaktion der Liebe: »Denn wenn man liebt, ist alles Liebe, auch wenn es Schmerz und Abscheu ist.«


    Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 246. Gesamtausgabe Band 1, herausgegeben von Walter Fanta.

    → 8:00 AM, Oct 3
  • Die Welt als Tweet und Vorstellung. Stephan Porombkas E-Book »Über 140 Zeichen« versammelt sechzehn Twitter-Poetologien

    Ob Jack Dorsey voraussehen konnte, wie sich sein Kurznachrichtendienst Twitter entwickeln würde, als er am 21. März 2006 die simple Nachricht »just setting up my twttr« als allerersten Tweet absetzte? Daß Twitter inzwischen viel mehr als nur eine andere, eine digitale Live-Ticker-Plattform für jedermann ist, zeigen unzählige Kreative, die ›an den Grenzen der Timeline‹ twittern und so eine neue Art von Kommunikation, Kunst, Literatur erschaffen.

    Sechzehn dieser kreativen Twitterer hat der Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftler Stephan Porombka (sich selbst eingeschlossen) in einem im März 2014 beim Frohmann-Verlag erschienenen E-Book versammelt, um einen »Einblick in ihre Twitterwerkstatt« (so der Untertitel) zu bekommen, ihnen also quasi eine Selbstreflexion ihrer Twitter-Strategie, ihres Schreibens, Lesens und Kommunizierens abzuverlangen. Dabei kommt der Präposition über, die sich im Titel findet, besonderes Gewicht zu.

    »Über 140 Zeichen« bezieht sich einerseits auf die simple Feststellung, daß die im vorliegenden E-Book versammelten Essays über die von Twitter vorgegebene 140-Zeichen-Begrenzung hinausgehen, also mehr oder länger als ein Tweet sind. Andererseits signalisiert das Über die Behandlung eines bestimmten Themas, wie man es von Titeln antiquiert klingender Studien kennt, von Ciceros De oratore etwa, von Nietzsches »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, ja auch von Sloterdijks Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik – in diesem Falle also: Über Twitteroder: Über Tweets oder: Über das Twittern.

    Bereits mit der Ambivalenz des Titels wird ein maßgeblicher Wesenszug Twitters deutlich: Der enge Raum, der zur Verfügung steht, wird durch Doppeldeutigkeiten, durch Wortspiele, ja sogar durch Verkürzungen aufgesprengt und erweitert: »Die Kunst: Komplexes andeuten und mit einer epischen Geschichte in wenige Zeichen eindampfen. Gähnend uninteressante Abläufe in dekorativer Sprache komplex aufblasen oder faszinierende Vorkommnisse mit derber Sprache minimalisieren.« (@Chouxsie) Autor und Leser, Twitterer und Follower finden hier, so könnte man sagen, eine Idylle vor, die Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik als »Vollglück[] in der Beschränkung« definiert.

    In dieser Idylle als »Twitterwerkstatt« blühen Gedanken, Welten, Sprache(n); der Mikrobloggingdienst wird zum »Mikromagazinleben« (@sinnundverstand), zum »Sprachkunstdienst« (@Chouxsie), zum »Jump-’n’-Run-Spiel« (@FrohmannVerlag). Und es ist gerade der Spielcharakter des Twitterns, das Twittern als (durchaus auch im Wittgensteinschen Sinne zu verstehendes) Sprachspiel, eine Praxis, in der mit und durch Sprache gespielt wird, was in allen hier versammelten Beiträgen als verbindendes und äußerst positives Hauptmerkmal durchscheint: Twitter als »Wir-Spielautomat«, als »Lernspiel«, als »Strategiespiel«, als »Open-World-Spiel«, als »Wir-Ego-Shooter-Spiel« (@FrohmannVerlag). Die sechzehn Autoren, von denen einige ihre Twitter-Maske auch in ihren Essays nicht absetzen und mit ihrer Kunstfigur in Dialog treten, mit einem anderen Ich spielen, es sprechen lassen (@NeinQuarterly hält sich in seinem Beitrag konsequent an die Raumbeschränkung und geht nicht ›über 140 Zeichen‹ hinaus), nennen Spiel, Zufall, Narzißmus als Tweet-Impetus: »Auf Twitter geht es für mich nur um eine Sache: mich selbst. Es ist das perfekte Medium für Menschen, die gleichermaßen narzisstisch und nur bedingt gesellig sind.« (@Wondergirl)

    Zugleich geht es in den Mikro-Poetologien auch immer wieder um die Frage nach der Literarizität Twitters: »Dem Wesen nach aber sind Tweets eine Textform, die auf die nächste (oder fernste) Zukunft abonniert ist.« (@HansHuett) Nach dem Tod des Autors zeigt uns Twitter dessen Auferstehung in 140 Zeichen. @HansHuett sieht in Tweets die »nächste Literatur« emporsteigen: »Zusammenfügen, Kuratieren und Dichten«. Und auch @MannvomBalkon, dessen Twitter-Überlegungen äußerst gewinnbringend sind, erkennt in Tweets literarische Qualitäten: »Denn Twitter, diese ›nächste Literatur‹, ist ihrer Natur nach eine Literatur der Unruhe. Sie entsteht aus der Unruhe, sie beschreibt diese Unruhe und sie wird in der Unruhe rezipiert und kommentiert.« (@MannvomBalkon)

    Neben der Frage nach Relevanz, der Suche nach Pointen, dem Umgang mit Sucht ist es eben die Flüchtigkeit, die das Twittern als neue Literaturform ausmacht: »Nebenbei ist Twittern nichts anderes als Kritzeln. Kritzeln mit Buchstaben. Das rasch Hingeworfene, nur mit wenigen Strichen Umrissene macht den Reiz aus. Für genaue Beschreibungen ist kein Platz. Hier ein Strich, dort ein Kritzel-Kratzel, zack – raus!« (@sinnundverstand) Dieses »Schreiben in nervösen Zeiten in einem nervösen Medium« (@Anousch) ist zudem oftmals maßgeblich vom Zufall geprägt. Im 36. Paragraphen seiner Morgenröthe schreibt Friedrich Nietzsche: »Und doch liegt auf der Hand, dass der Zufall ehemals der grösste aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfinderischen Alten war, und dass bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war.«

    Eben den Zufall beschreibt @stporombka in seinem lesenswerten Werkstattbericht: »Es beginnt mit dem Zufall, der die Idee des Schicksals ablöst und lieber mit Wahrscheinlichkeiten, Risiken und den Fragen einer auf die Zukunft hin offenen Gegenwart umgeht.« (@stporombka) In einer Alltagsbeobachtung werden Licht und Schatten, Text und Bild miteinander verquickt, photographiert, getwittert; das Verbinden des Unverbundenen, das Zusammenbringen des Auseinanderliegenden, die Sichtbarmachung des Unsichtbaren – all dies ist Signum einer neuen Kunst, einer nächsten Literatur, einer morgigen Art des Präsentierens, Teilens, Kommentierens, die heute schon Alltag ist: »Die Kunst ist fasziniert davon, dass diese Bewegung auf spielerische Weise neuen Sinn erzeugt.« (@stporombka)

    Und da ist es wieder: das Spiel, das Twitter ist, Twitter, das ein Spiel ist, »ein Spiel frei schwebender Aufmerksamkeit« (@HansHuett), was der Literaturwissenschaftler Roland Reuß in seiner 2012 erschienenen Meditation Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch kritisiert: »›Online‹-Sein«, so Reuß, »bedeutet perforierte Aufmerksamkeit.« Man möchte diese negative Einschätzung der digitalen Welt im allgemeinen positiv auf Twitter im besonderen ummünzen: »Die Epen verpuffen, aber einen Gedanken, der das Beobachtete kondensiert, den kann ich behalten, umformen, immer weiter komprimieren, bis er in 140 Zeichen passt.« (@UteWeber) Hier und in anderen Beiträgen aus der »Twitterwerkstatt« kommt Konzentration zum Vorschein, Konzentration auf das Flüchtige, das einerseits schnell und ›im Flow‹, andererseits korrigiert, umgeschrieben, nachbearbeitet und erst über den Umweg des Entwürfe-Ordners getwittert wird, um ein möglichst perfektes Kunstwerk als ›Kunstzwerg‹ zu erschaffen: »Was ich gern möchte, ist ein gewisser eigener ›Twist‹ in den Tweets. Ein besonderer Reiz in der Formulierung, etwas Angeschärftes, etwas, das verdutzen lässt. Ein Bruch, ein Riss, eine Perspektivumkehr, ein Ebenenwechsel.« (@MannvomBalkon)

    Interessant erweist sich die teils jahrelange Genese der Twitter-Autoren von einfachen Followern einfacher News- oder Promi-Accounts zu kreativen Wortführern mit eigenen Themen, eigener Sprache, eigenem Stil. So zeigen die Beiträge eindringlich, spielerisch, ja auch verrückt das Finden einer zunächst fremden Stimme auf, die im Twitter-Universum als die eigene adaptiert, gepflegt sowie stets ein-, um- und neugestimmt wird: »Die Kunst des Twitterns ist vielleicht, diesen Anfang zu überwinden, seine Stimme zu finden und seine Inhalte, dabei seiner Blase zu entkommen, neue Blasen zu finden und auch bei Zeiten bereit sein, sie wieder platzen zu lassen.« (@Milenskaya)

    Der Leser erfährt in Über 140 Zeichen viel über unterschiedliche poetologische Konzepte, über Inspirationsquellen, Intentionen, Inhalte, Impulse und Interaktionen mit anderen Twitterern. Teilweise sind die Essays mit Tweets der jeweiligen Autoren durchsetzt, als anschauliche Beispiele einerseits, als Auflockerungen des Meta-Textes andererseits, was Lust am Text bedeutet und Lust auf Text oder präziser: Lust auf Tweets und das Twittern macht. Das Nachwort @stporombka’s, das ich mir als Vorwort gewünscht hätte, überzeugt als Skizze poetologischer Reflexionen, als historischer Blick auf den Umgang mit und den Einblick in die Werkstatt des Autors vom 18. Jahrhundert bis in die digitale Gegenwart, in der der Literatur- und Textbegriff erweitert wird und sich harscher Kritik, ja geradezu »Bremsversuchen« ausgesetzt sieht: »Statt mit den neuen Formen zu experimentieren und auch ihre kritischen, widerständigen Möglichkeiten zu testen, wird jeder, der online ist und postet, twittert, faved oder liked, erstmal darauf verpflichtet, das schlechte Gewissen zu haben, nichts Sinnvolles zu tun und mehr noch: an der kulturellen Sinnentleerung teilzuhaben.« (@stporombka)

    Als Abschluß des E-Books finden sich »Twitterbiografien«, die genauer als »Twittererbiographien« bezeichnet werden müßten, aus denen hervorgeht, daß sich einige der hier vorgestellten Autoren bereits mit eigenen Veröffentlichungen ›über 140 Zeichen‹ hervorgetan haben oder noch hervortun werden. Dies verspricht nicht weniger spannend zu sein als die hier vorgestellten Mikro-Poetologien des Twitterns: »Wie ich Tweets verfasse, kann ich kaum beschreiben. Sie kommen oder sind schon da. Wie soll ich den Geburtsort wüster Gedankenblitze beschreiben?« (@Chouxsie)

    Über 140 Zeichen. Autoren geben Einblick in ihre Twitterwerkstatt
    Hg. Stephan Porombka
    Berlin: Frohmann, 2014
    E-Book (ePub, mobi, pdf)
    Preis: EUR 2,99
    ISBN: 978-3-944195-24-7

    → 9:00 AM, Apr 5
  • Thomas Mann, nachdenklich

    Ein nachdenklicher Thomas Mann ziert Heinrich Deterings im Oktober 2012 erschienene Untersuchung Thomas Manns amerikanische Religion, die die Beziehung des Literaturnobelpreisträgers zur Unitarischen Kirche in Kalifornien zum Thema hat. Manns Blick scheint ins Leere zu gehen. Einen Penny für seine Gedanken! Über die im unteren Teil des Umschlags abgedruckte, handschriftliche Autogrammkarte Thomas Manns erfährt man, daß sie sich im Privatbesitz Wolfgang Dreiacks befinde: »To Stephen H. Fritchman, / defender of American / evangelic freedom / Thomas Mann«. Reverend Stephen Hole Fritchman (1902-81), dessen Name, so Detering, Mann »nach der ersten Begegnung ohne weiteres ›Fritzmann‹« (98) schrieb, war von 1948 bis 1969 Vorsitzender der First Unitarian Church of Los Angeles. Detering hat – wie Frido Mann in seinem die Studie abschließenden Essay anmerkt – »eine ergreifende Trauerrede« entdeckt, die »Fritchman zu Thomas Manns Tod 1955 vor seiner Gemeinde gehalten hatte und in der er Thomas Mann als einen religiösen Mahner mit den alttestamentarischen Propheten Hesekiel und Jeremias verglich.« (323) Nun, vielleicht denkt Mann auf der verwendeten Photographie über die Religion nach. Man meint, Skepsis in seinen Augen zu erkennen.

    Heinrich Detering, Thomas Mann und »Fritzmann«

    [Ursprünglich gepostet auf Google+]

    → 9:00 AM, Mar 4
  • Ibuprofen

    Nachdem der Orthopäde heute Morgen unter beängstigendem Knacken einen meiner Halswirbel reponiert hatte, fragte er mich, ob ich Ibuprofen kenne, denn er würde es mir gerne gegen die Schmerzen, die eben jener fehlgestellte Wirbel (vermutlich das Resultat eines übertrieben ausgeführten Vorhand-Topspins) in meinem Oberarm verursacht hat (und noch immer verursacht) verschreiben. Hier mußte ich an Peter Sloterdijks Zeilen und Tage denken, genauer an Sloterdijks Erfahrungen mit diesem Schmerzmittel. Am 20. Mai 2008 kritisiert er in Straford-upon-Avon eine Aufführung des Merchant of Venice: »Obwohl ich das Stück fast auswendig kenne, blieb es mir fremd, stimmungslos. Was die Schauspieler in ihrer juvenilen, übertrainierten Munterkeit von sich gaben, war für mich kaum als Shakespeares Englisch zu erkennen, es klang eher wie eine überdrehte Schüleraufführung. Natürlich war ich durch zu viel Ibuprofen verstimmt.« Am 14. Juni 2008 notiert er in Wien nach einer Radtour an der Donau entlang: »Bin rechtzeitig wieder zu Hause, um a) die Zahnschmerzen, die seit Monaten nie ganz verschwunden waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen, […].« Schließlich ist der Leser am 26. September 2010 beim Doping im Backstage-Bereich des Philosophischen Quartetts dabei: »In der Maske ließ ich mir nicht nur die üblichen matten Farben verpassen, damit die Nase nicht glüht und die Stirn nicht spiegelt, ich half mir selber auch über die Runden mit 2 mal 1000 Milligramm Aspirin und einer Handvoll Ibuprofen.« Für eine Handvoll ist es bei mir wohl noch zu früh. Ich beginne mit kleinen Schritten und der ersten sogenannten »Filmtablette«. Mehr zu Sloterdijks Immunisierungsakrobatik findet sich in meiner im Oktober bei literaturkritik.de erschienenen Rezension.

    Addendum, 1. Februar 2013: In der Tat scheinen Schriftsteller, nein: Künstler im allgemeinen (man denke etwa an die Drogenexperimente der Sixties, in denen Musiker, Schriftsteller und Maler Joints, Kekse und Spritzen herumreichten wie den liturgischen Kelch!) Drogenexperimenten gegenüber nicht abgeneigt zu sein. Wobei man als »Künstler« eigentlich schon von Natur aus (und insofern per definitionem) ein wenig neben der Spur denkt, sieht, existiert. Bei Sloterdijk, dem philosophischen Gesamtkunstwerk, erscheint der Ibuprofen-Konsum durchaus rational, also einzig als schmerzstillende Therapie, nicht als wie auch immer geartetes Kreativitätssteigerungsdoping. (Zum »Hirndoping« aktuell: http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/hirndoping-jeder-fuenfte-student-nimmt-mittel-zu-leistungssteigerung-a-880810.html) Wer weiß, unter welchen »Schmerzen« all die berühmten »Junkies« gelitten haben, die der Welt Songs, Bücher, Gemälde geschenkt haben? Macht uns das zu Sadisten? Wir ergötzen uns indirekt an ihrem Leid, was mich gerade an einen Aphorismus Stanisław Jerzy Lecs erinnert: »Frauen sind sadistisch: sie quälen uns mit den Leiden, die wir ihnen zufügen.« (Ist das ein Beitrag zur Sexismus-Debatte?) Doch zurück zu den Drogen: Von derartig »harten« Mittelchen sind wir ja weit entfernt. Unsere Wehwehchen (man beachte die beiläufige Verharmlosung durch Diminutivform) resultieren aus Zivilisationskrankheiten wie den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen, einen möglichst effetvollen Topspin zu ziehen etc. pp.

    Addendum, 2. Februar 2013: Heute Morgen, im wattierten Ibuprofen-Rausch, kam mir folgender, leicht vernebelter Gedanke: Interessant wäre es auch, (literarische) Figuren, die drogensüchtig sind, miteinander zu vergleichen. Was zeichnet sie aus? Weshalb greifen sie zu Schmerzmitteln oder Psychopharmaka? Und welche Charaktere müßten genannt werden? Spontan fallen mir nur Sherlock Holmes und Dr. Jekyll ein. Man könnte auch über die Literatur hinausgehen. Ich denke an Dr. House, der seinen übermäßigen Vicodin-Konsum damit zu rechtfertigen sucht, daß er kein Schmerzmittelproblem habe, sondern vielmehr ein Schmerzproblem. Resultiert unsere Sympathie oder Faszination aus der Hilflosigkeit, Zerrissenheit oder aussichtslosen Abhängigkeit der Figuren? Oder sind wir vielleicht neidisch auf ihre (durch Drogen gesteigerten) Fähigkeiten?

    [Ursprünglich gepostet auf Google+]

    → 9:00 AM, Feb 1
  • 2012 – Mein Jahr in Büchern

    »Damit er [Albert Schweitzer] nicht einschläft beim Lesen, hat er sich angewöhnt, einen Eimer mit kaltem Wasser unter seinen Schreibtisch zu stellen. Wenn er den Ausführungen in den Büchern nicht mehr wirklich folgen kann, zieht er seine Socken aus, stellt seine Füße ins kalte Wasser und liest dann weiter.« (Florian Illies. 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer, 2012. 72.)

    Neben vielen angelesenen, überflogenen oder gar nur durchblätterten Büchern und einer (Zu-)Vielzahl wissenschaftlicher Aufsätze, bunter Fachartikel und dissertationsrelevanter Sekundärquellen konnte ich in diesem Jahr die Lektüre folgender Bücher genießen:

    JANUAR

    Bernd Mattheus. Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Berlin: Matthes & Seitz, 2007.

    FEBRUAR

    Werner Stegmaier. Friedrich Nietzsche zur Einführung. Hamburg: Junius, 2011. (Eigene Rezension unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16547)

    MÄRZ

    Achim Thomas Hack. Abul Abaz. Zur Biographie eines Elefanten. Badenweiler: Bachmann, 2011. (Eigene Rezension unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16636)

    Peter Sloterdijk. Streß und Freiheit. Berlin: Suhrkamp, 2011. (Eigene Rezension unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16709)

    Patrice Bollon. Cioran, der Ketzer. Ein biographischer Essay. Übers. Ferdinand Leopold. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006.

    APRIL

    Leo Tolstoi. Auferstehung. Übers. Wadim Tronin und Ilse Frapan. Durchgesehen von Hans-Ulrich Göhler. München: Winkler, 1958.

    MAI

    David Foster Wallace. Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken. Übers. Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. (Eigene Rezension unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16878)

    JUNI

    George Steiner. Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Übers. Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.

    David Foster Wallace. Am Beispiel des Hummers. Übers. Marcus Ingendaay. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010.

    Gunnar Decker. Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. München: Hanser, 2012.

    JULI

    Fritz Senn. Noch mehr über Joyce. Streiflichter. Frankfurt a. M.: Schöffing, 2012.

    AUGUST

    Hans Mayer. Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

    Peter Sloterdijk. Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011. Berlin: Suhrkamp, 2012. (Eigene Rezension unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17092)

    SEPTEMBER

    Terry Eagleton. Einführung in die Literaturtheorie. Übers. Elfi Bettinger und Elke Hentschel. 4. erweiterte und aktualisierte Aufl. Stuttgart und Weimar: Metzler, 1997.

    Roland Reuß. Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch. Frankfurt a. M.: Stroemfeld, 2012.

    OKTOBER

    John Jeremiah Sullivan. Pulphead. Vom Ende Amerikas. Übers. Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann. Berlin: Suhrkamp, 2012.

    The John Lennon Letters. Edited and with an Introduction by Hunter Davies. London: Weidenfeld & Nicolson, 2012. (Eigene Rezension unter: https://denkkerker.com/2012/10/25/single-fantasy-oder-der-rest-ist-anekdote-gedanken-zu-the-john-lennon-letters/)

    Michael Maar. Lolita und der deutsche Leutnant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.

    NOVEMBER

    Stephen Greenblatt. Die Wende. Wie die Renaissance begann. Übers. Klaus Binder. 4. Aufl. München: Siedler, 2012.

    Reiner Stach. Ist das Kafka? 99 Fundstücke. Frankfurt a. M.: Fischer, 2012.

    Hans Blumenberg. Quellen, Ströme, Eisberge. Hg. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Berlin: Suhrkamp, 2012.

    Christian Niemeyer. Friedrich Nietzsche. Berlin: Suhrkamp, 2012.

    Jürgen Vollmer. The Beatles in Hamburg. München: Schirmer/Mosel, 2004.

    DEZEMBER

    Joachim Kaiser. Sprechen wir über Musik. Eine kleine Klassik-Kunde. In Zusammenarbeit mit Henriette Kaiser. München: Siedler, 2012.

    Sherwood Anderson. Winesburg, Ohio. Eine Reihe Erzählungen vom Kleinstadtleben in Ohio. Hg., neu übersetzt und mit einem Essay von Mirko Bonné. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co., 2012.

    Henning Ritter. Verehrte Denker. Porträts nach Begegnungen. Springe: zu Klampen, 2012.

    Andreas Maier. Wäldchestag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000.

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    → 9:00 AM, Dec 31
  • »Bitte keine Besuche« oder: »Folge nicht mir, folge dir!« Hermann Hesse zum 50. Todestag

    Wenn man in dieser Woche an einem Zeitschriftenregal vorbeischlendert, so wird man eines Mannes mit Strohhut gewahr, der dem Vorbeischlendernden vom Titelblatt des Spiegel aus direkt in die Augen schaut. Es ist eine merkwürdig kolorierte Version einer Fotografie, die das Hamburger Nachrichtenmagazin bereits im Jahre 1958 zierte. Doch nicht allein die Farbe macht den Unterschied: Das aktuelle Titelblatt zeigt den Schriftsteller Hermann Hesse – denn um eben jenen »Störenfried«, so der Schriftzug, handelt es sich dabei – mit erhobenem Mittelfinger. Darunter die Appositionen (in Großbuchstaben!): »SINNSUCHER, DICHTER, ANARCHIST«. Ein verstörendes, wenn nicht gar provozierendes Bild.

    Doch so sehr die Differenz von friedlicher Mimik und aggressiver Gestik auch irritieren mag: Sie trifft den Menschen Hesse, der sich nicht festlegen läßt, der von den einen vergöttert, von den anderen verachtet wird. Hermann Hesse bezieht Stellung – und bezieht sie zugleich nicht. Er heiratet dreimal – und bleibt doch ein ewiger Alleingänger. Er feiert das Leben – und denkt doch stets an Suizid. Er verteufelt den Pietismus – und kommt doch nie vom Glauben los. Er ist ein Seher, der zeit seines Lebens unter Augen- und Kopfschmerzen leidet – wie auch Friedrich Nietzsche. (Seine dritte Ehefrau Ninon liest ihm ab 1929 fast 1.500 Bücher vor!)

    Mit dem von ihm bewunderten Philosophen aus Röcken teilt Hesse auch das Asketische, Einsame, Einzelgängerische, das ebenso wie das Doppelgängermotiv sein Leben und Schreiben charakterisiert. Die Doppelstruktur von Gut und Böse, Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich – sprich: diese Doppelhelix als evolutionär-genetischer Impetus durchzieht das Werk des bis heute polarisierenden Schriftstellers von der ersten bis zur letzten Seite.

    Eng mit diesem gnostischen Denken verbunden ist Hesses radikales Distanzschaffen, worin er Hans Blumenberg oder – ganz extrem – Thomas Pynchon gleicht. Schon früh fühlt er sich als Fremdkörper in seiner Familie, als ein Anderer und Außenseiter, der als Brandstifter und potentieller Amokläufer gar in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird. Sein Biograph Gunnar Decker bezeichnet ihn gleich an drei Stellen seiner in diesem Jahr bei Hanser erschienenen, sehr lesenswerten Biographie als »Berührungsneurotiker«, der sein Leben strikt nach seinem eigenen Rhythmus ausrichtet und »Unberührbarkeitsrituale« pflegt. Diese Abwehrmechanismen gehen so weit, daß Hesse selbst seine eigene Familie und seine Kinder nicht erträgt. Der Wein und das Alleinsein bleiben wichtiger als menschliche Beziehungen.

    Hier zeigt sich in extremo seine Aversion gegen jegliche Form von Vereinen, Bünden, Gruppen oder Mitgliedschaften, was ihm oft Anfeindungen und – gerade während des Ersten Weltkrieges und in den Jahren nach 1933 – den Ruf eines Nestbeschmutzers bis hin zum Vaterlandshasser einbringt. So verwundert es nicht, daß Hesse auch Preisen und Ehrungen ablehnend gegenübersteht. Als ihm nach bemerkenswertem Einsatz Thomas Manns in Stockholm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen wird, nimmt er diesen nicht persönlich in Empfang.

    Stockholm – Hesse verachtet die Metropolen! Als einsamer Steppenwolf liebt er das Ländliche, das seiner Imagination Raum gibt. Ohnehin reist der einst begeisterte und leidenschaftliche Wanderer (auch hierin ähnelt er etwa Nietzsche oder Thomas Bernhard) mit zunehmendem Alter immer weniger, vertieft sich immer mehr ins innere Erkunden, das er mit dem weniger wichtigen Äußeren kontrastiert. (Zuletzt besucht der Schweizer Hesse seine Heimat Deutschland im Jahre 1936.)

    Viele Fotos und vereinzelte Filmaufnahmen zeigen Hesse als stoischen Asketen bei der Gartenarbeit. Er schneidet Rosen oder sitzt einfach am Feuer, zündelt, verbrennt Reisig und starrt gebannt in die Flammen. Das Feuer ist für ihn Symbol des Lebens, Wasser ist stets Medium des Todes. Im Garten findet Hesse, der Mitentdecker Kafkas, die Ruhe zur Meditation. Gunnar Decker schreibt: »So ist der Garten nicht nur ein Sinnbild des menschlichen Lebens, für Hesse wird er das Modell seiner Arbeit als Autor, eine Schule des Sehens und des Säens, des glücklichen Gleichgewichts von vita activa und vita contemplativa.«

    Aus diesem Gleichgewicht heraus entsteht mit großem Fleiß und strenger Disziplin ein Werk, das 20 Bände umfaßt, dazu kommen noch ein Dutzend Briefbände, Hunderte Zeichnungen und Aquarelle. Als Hermann Hesse, dem seine Leukämie-Diagnose nicht mitgeteilt wird – mit Goethe teilt der Hypochonder »die Abwehr gegen Krankheit und Tod« (Decker) –, am 9. August 1962 morgens zwischen 7 und 9 Uhr in Montagnola an einem Hirnschlag stirbt, hinterläßt er der Welt obendrein ein Nachlaß-Konvolut von 44.000 Briefen.

    Wir werden auch 50 Jahre nach seinem Tod noch viel von und über Hermann Hesse erfahren, nicht zuletzt dank eines von ihm verschnürten, ominösen Päckchens, das sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, und das nicht vor dem Jahre 2017 geöffnet werden darf – Hesses Art der Flaschenpost in und für die Zukunft!

    → 9:00 AM, Aug 9
  • Außenseiter

    Seit einigen Wochen schon lese ich mit großem Gewinn in Hans Mayers zuerst 1975 erschienenem und 2007 aus Anlaß Mayers 100. Geburtstag wiederaufgelegtem opus magnum Außenseiter. Ich habe das Buch im April zufällig (!) bei Zweitausendeins in Münster entdeckt – von € 15 auf € 7,95 heruntergesetzt. Da mich die Figur des Fremden, des Anderen, des Außenseiters schon immer fasziniert hat, habe ich es ohne groß zu überlegen einfach mitgenommen. Ich hatte vorher noch nie von Hans Mayer (1907-2001) gehört. Er war Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Hannover und Tübingen.

    Schon nach den ersten Seiten wurde mir klar, daß hier ein breitgebildeter, großer Stilist am Werk ist, den ich mit Hans Blumenberg vergleichen möchte. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« Bäng! Das sitzt! Seine These verifiziert Mayer auf den kommenden 464 Seiten (mit Anhang und Personenregister sind es 508) anhand von existentiellen Außenseiterfiguren, von starken Frauen, Homosexuellen und Juden aus der Literaturgeschichte. Man könnte sagen, daß Mayer hier einen großen Überblick über abendländische Hauptwerke der Literatur schlägt, und wie er dies macht, ist keine Sekunde lang ermüdend!

    Er behandelt Jeanne d’Arc bei Schiller, Brecht, Shaw und Wischnewski, George Eliot und George Sand, Dürrenmatt und Pinter, Marlowe, Shakespeare, Winckelmann, Heine, Platen, Andersen, Verlaine, Rimbaud, Ludwig von Bayern, Tschaikowski, Wilde, Gide, Klaus Mann, Sarte und Genet, Shylock, Heine, Dickens, Proust, Joyce… Beim Tippen fällt mir erst so richtig auf, was alles in diesem unscheinbaren Buch steckt! Eine wahre Fundgrube des Wissens!

    Auch wenn ich momentan erst auf Seite 247 bin – ich könnte keine bessere Empfehlung aussprechen! (Ist es ein Zufall (!), daß es sich wieder um ein Suhrkamp-Buch – noch dazu um ein gebundenes – handelt?) Der Außenseiter dient Mayer dazu, breitgefächert Anekdoten zu erzählen, essayhaft ein Kompendium der Literaturgeschichte zu schreiben, das eigentlich auf jede Literaturliste für Geisteswissenschaftler gehört.

    Hans Mayers Außenseiter zum 100. Geburtstag des Autors

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    → 8:00 AM, Jul 30
  • Le Grand Meaulnes

    Einer der unbekannten Klassiker des 20. Jahrhunderts, ein Kultbuch, das man unbedingt lesen sollte: Henri Alain-Fourniers Der große Meaulnes aus dem Jahre 1913. Der Thiele-Verlag brachte den Roman 2009 in einer Neuübersetzung Christiane Landgrebes und mit einem Vorwort Rüdiger Safranskis heraus. Safranski war ähnlich begeistert wie Julian Barnes, der im Guardian von seiner Re-Lektüre berichtet.

    Julian Barnes. »Le Grand Meaulnes revisited.« The Guardian, Apr. 13, 2012, https://www.theguardian.com/books/2012/apr/13/grand-meaulnes-wanderer-julian-barnes.

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    → 8:00 AM, Apr 14
  • Cui bono?

    Wem nützt Literatur? Hat sie einen therapeutischen Effekt? Fühlen wir uns weniger allein? Lenkt sie uns von unserer Sterblichkeit ab oder werden wir ihrer vielmehr bewußt? Garth Risk Hallberg geht diesen Fragen in seinem Essay »Why Write Novels at All?« nach.

    Garth Risk Hallberg. »Why Write Novels at All?« The New York Times Magazine, Jan 13, 2012, https://www.nytimes.com/2012/01/15/magazine/why-write-novels-at-all.html.

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    → 9:00 AM, Jan 18
  • Lathe biosas

    In der heutigen F.A.Z. ist ein über zwei Seiten reichender Artikel Henning Ritters abgedruckt, der sich als biographische Skizze Hans Blumenbergs lesen läßt, und der den Münsteraner Philosophen in gewissem Sinne doppelt ›sichtbar‹ werden läßt. Ritter beschreibt den Kontakt des (unvorbereiteten) Lesers mit dem umfassend gebildeten Philosophen als eine ›erhabene‹ Begegnung, wie man sie in der Natur oder auch vor Kunstwerken erfährt. Die Schriften Blumenbergs (er-)fordern daher einen »intellektuelle[n] Abenteurer« als Leser, der sich einerseits vom Autor leiten läßt, der sich andererseits auch mit großer Kraft einen Weg durch die zugewachsenen Pfade freischlagen muß.

    Neben der Frage nach der Leserschaft, der imaginierten und der tatsächlichen, die dem Autor ein großes Echo und damit Motivation zum Weiterschreiben gab, stellt Ritter Blumenbergs »starkes literarisches Interesse« in den Fokus seines Artikels. Sein Stil kann als philosophische Prosa charakterisiert werden. Indem Blumenberg sich bei seinen Deutungen unzähliger literarischer Beispiele bedient, stärkt er die Literatur »in ihrem Anspruch auf Mitspracherecht nachdrücklich«. Wie etwa Lévi-Strauss den Mythos als neben der Wissenschaft ebenbürtige Art und Weise der Daseinsbeschreibung und -erklärung definiert, sieht Blumenberg die Literatur als weites Feld menschlicher Erfahrungen: »Die dichterische Phantasie«, erklärt Ritter, »schafft nicht bloß Ornamente des Verstehens, sondern gibt gleichberechtigte Einsätze.« Dieses Projekt fordert eine »Literarisierung der Philosophie«, wie sie etwa schon der ›Dichterphilosoph‹ Paul Valéry umsetzte, dem Blumenberg nach Ritters Einschätzung »die bis heute bedeutendsten Studien in deutscher Sprache gewidmet« habe. Blumenbergs comédie intellectuelle wird schließlich von einer Metaphorologie begründet, die als »implizite Polemik gegen die Herrschaft des Begriffs« aufgefaßt werden kann.

    Nach seiner Emeritierung endeten die umfangreichen Monographien und Blumenberg konzentrierte sich auf kürze Texte wie Fabeln, Anekdoten oder Glossen, wodurch er sich von der Philosophie in ihrer »akademischen, zunftmäßigen Form emanzipier[te]«. Sichtbarkeit und Biographie – zwei Phänomene, denen sich Blumenberg stets entzog. Zuletzt waren seine Schriften, seine Artikel und Bücher, die einzigen Lebenszeichen, so daß man ihn durchaus als einen deutschen Thomas Pynchon bezeichnen könne.
    Die eingangs erwähnte doppelte Sichtbarkeit wird folgendermaßen etabliert: Dem überaus lesenswerten ›biographischen‹ Artikel Henning Ritters sind zwei Photographien Blumenbergs beigefügt. Das bekannte und einzige vom Philosophen freigegebene ist auf der zweiten Seite abgedruckt; ein neues, ›unbekanntes‹ Bild ist dem Ritterschen Text vorangestellt, ja es erstreckt sich über dessen fünf Spalten. »Aus Scheu vor jeder aufdringlichen Sichtbarkeit seiner Person«, so liest man unter der stark körnigen Photographie, »sorgte Hans Blumenberg dafür, dass es keine Fotos von ihm gab, ein einziges kam zu Lebzeiten davon. Nun ist diese zweite Aufnahme des Philosophen aufgetaucht.« Eine etwas übertriebene Darstellung, ziert dieses Bild doch – wenn auch seitenverkehrt – das Cover von Denis Trierweilers im August 2010 bei PUF erschienenem Hans Blumenberg: Anthropologie philosophique.


    Henning Ritter. »Vom Wunder, die Sterne zu sehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Jan. 2012, p. Z 1-2.

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    → 9:00 AM, Jan 7
  • Kinozeit

    Am Nikolaustag haben einige Namenstag, andere Geburtstag, doch viele (oder fast alle) werden beschenkt. So ist dieser 6. Dezember nicht nur ein faszinierendes Datum für Kinder; auch für Erwachsene (oder solche, die von sich sagen, sie wären erwachsen) ist dieser Tag von einer magischen Aura umgeben. Obgleich sich an solchen Feiertagen Gott und die Welt in den Städten tummelt, war ein Abstecher ins Kino eine zwar riskante, aber letztlich absolut lohnenswerte Überraschung. Was wurde gespielt? Die neunzehnte, sehr authentische Verfilmung Jane Eyres. Absolut sehenswert!

    Verena Lueken. »Geschichtsunterricht in Frauenschauer.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Nov. 2011, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/video-filmkritik-geschichtsunterricht-in-frauenschauer-11545421.html.

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    → 9:00 AM, Dec 7
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