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  • Im Tränen-Reich

    Wenn mir so viele Weisen des Weinens zur Verfügung stehen, so wahrscheinlich deshalb, weil ich mich, wenn ich weine, stets an jemanden wende und der Empfänger meiner Tränen nicht immer derselbe ist: ich passe meine Arten des Weinens dem Typus von Erpressung an, die ich durch meine Tränen auf meine Umgebung auszuüben verstehe.

    Roland Barthes. Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Suhrkamp, 1988, pp. 252-3.

    Ein Podcast des Economist machte mich auf ein vermeintlich skurriles Beschäftigungsverhältnis aufmerksam: In der Demokratischen Republik Kongo wächst der Markt für professionell Trauernde. Wie schon aus dem Alten Ägypten überliefert, tauchen sogenannte Klageweiber bei Beerdigungen auf und weinen um die Verstorbenen – weil sie dafür bezahlt werden. Wird man für eine ganze Klagewoche gebucht, könne man mit einer Vergütung von bis zu 150 $ rechnen, ein Betrag, den ein kongolesischer Grundschullehrer in etwa monatlich erhalte. Weinen erweist sich also als lukrativer als die Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen. Während diese Art von Dienstleistung in der Hauptstadt Kinshasa schon etabliert sei, versuchten Unternehmer nun, den Osten des Landes mit pleureurs zu erschließen. Da in Kongo der Glaube herrsche, daß die verstorbene Person ihre eigene Bestattungszeremonie wie einen Film mitverfolgen könne, liege derartig überzogen-prunkvolles Trauern durchaus im Interesse der Zurückgebliebenen, denn falls die Dahingeschiedenen mit dem, was sie da sehen, nicht zufrieden sind, könnten sie zurückkehren und ihre Verwandten heimsuchen. Man geht also auf Nummer Sicher, wenn man Arbeiterinnen im Weinberg der Trauer bestellt.


    »Chaos and calculation: Brexit.« The Economist Radio, 27. Feb. 2019, 17:06-22:12.

    → 4:30 PM, Feb 28
  • Anekdoten aus einem Jahrhundert

    Was ich aus Emmanuelle Loyers monumentaler Biographie über den Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908-2009) gelernt habe:

    • er war 1,79 Meter groß;
    • er fiel 1933 durch die Führerscheinprüfung;
    • er war leidenschaftlicher Leser von Kriminalromanen;
    • er besuchte die Chinesische Oper in New York City mit Albert Camus;
    • Franz Boas starb 1942 direkt neben ihm;
    • Strawinsky machte auf ihn »den Eindruck einer pedantischen und ängstlichen russischen alten Dame«;
    • er brach mit Jacques Lacan in dessen Citroën DS zu »sehr lustig[en]« Expeditionen auf;
    • er fand in alten Kochbüchern in der New York Public Library »absolut sensationelle aphrodisische Rezepte«;
    • er war technophil, liebte Musik und Tiere;
    • er schnupfte einerseits gern Tabak, andererseits war er mit zwei bis drei Päckchen täglich auch ein starker Raucher;
    • er besaß eine Leidenschaft für Pilze;
    • er war klaustrophob und überpünktlich;
    • er äußerte sich sarkastisch, ja geradezu grausam gegenüber Roland Barthes’ literarischem Strukturalismus;
    • er mochte den Humor der US-amerikanischen Fernsehserie The Sopranos;
    • er hatte zwei Tageszeitungen abonniert;
    • er kaufte Max Ernst einen Kriegshelm ab, nachdem dieser sich von Peggy Guggenheim getrennt hatte und knapp bei Kasse war;
    • seine Lieblingsfarbe war Grün;
    • er neigte dazu, ohnmächtig umzukippen;
    • er schätzte Bücher von Michel Houellebecq;
    • er wünschte sich, daß es bei seiner Beerdigung regnen würde, damit die Trauernden möglichst formlos in Plastikstiefeln erscheinen würden.

    Emmanuelle Loyer. Lévi-Strauss. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, 2017, pp. 111, 135, 171-2, 380, 423, 440, 506-7, 578-9, 706, 715, 731-2, 740-1, 748, 750, 796, 805, 812, 883, 911, 946, 1031, 1034.

    → 9:50 AM, Nov 21
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