Von anderen Möpsen

Inge Jens zitiert in ihrer 2013 bei Rowohlt erschienenen Studie Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt Ludwig Marcuse, der in seiner Aufzählung der deutschen und österreichischen Exilanten im französischen Sanary-sur-Mer auch die »Sternheim-Tochter Mops« erwähnt. – Mops? Eine schnelle Internet-Recherche förderte zutage, daß Dorothea Sternheim, die 1905 geborene leibliche Tochter Carl und Thea Sternheims, »von ihrer Mutter schon als Kleinkind ›Mopsa‹ genannt [wurde] (mitunter ›Moiby‹, ›Mops‹ oder ›Mopse‹)«, ein Kosename, den sie auch als Erwachsene beibehielt.

Dies führte mich gedanklich zurück ins mittelfränkische Gunzenhausen, wo ich Ende Mai 2013 in der Buchhandlung am Färberturm, die damals noch Buchhandlung Dr. Schrenk hieß, Ernst Robert Curtius’ epochales Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter gekauft und dort auch zu gut einem Drittel gelesen habe. Im zehnten Kapitel, das mit »Die Ideallandschaft« betitelt ist, zitiert Curtius aus Virgils Eclogae, einem aus zehn Hirtengedichten bestehenden Sammelwerk, das man laut Curtius kennen muß, um Virgil kennen zu können. In V.1 tritt der junge Hirte Mopsus auf: »Cur non, Mopse, boni quoniam convenimus ambo, […]«, heißt es da, was mit »Mopsus, da wir nun beide vereint und beide geschickt sind, […]« übersetzt wird.

Mops, Mopsa, Mopse, Mopsus – eine kuriose, geradezu »mopsmäßig[e]« Reihe!


Inge Jens. Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt. Rowohlt, 2013, p. 31.

»Mopsa Sternheim.« Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/wiki/Mopsa_Sternheim.

Ernst Robert Curtius. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl., Francke, 1993, pp. 197-8.

»Schließlich bemerke ich, daß ich mich mopsmäßig auf Weihnachten freue«. Friedrich Nietzsche an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Dezember 1862, eKGWB/BVN-1862,339.


Koryphäenhaftes

Beim Sortieren alter Unterlagen flog mir der folgende Flyer in die Hände:

Bernard Comrie in Münster

Erstaunt mußte ich feststellen, daß Bernard Comrie seinen Vortrag in Münster heute vor 15 Jahren gehalten hatte. Tempus fugit! Ich kann mich nur noch schemenhaft daran erinnern. So sind mir Bruchstücke von Clemens-Peter Herbermannseinleitenden (und wie immer mit Augenzwinkern versehenen) Worten im Gedächtnis. Meine während des Vortrags gemachten Notizen, die ich mit einer Büroklammer am Flyer befestigt hatte, vermochten die Lücken der Erinnerung ein wenig zu füllen. So habe ich beispielsweise aufgeschrieben, daß Madegassisch eine austronesische (Barito-)Sprache sei, daß Comrie die Rechtschreibung der Haruai-Sprache erfunden habe, welche im Hochland Papua-Neuguineas gesprochen werde, und daß man aufgrund der nordenglischen Subjektregel auch »The boys is […]« statt »The boys are […]« sagen dürfe.

Als ich im Anschluß über den Münsteraner Weihnachtsmarkt schlenderte, waberte aus einer der Buden John Lennons »Imagine« durch die vorweihnachtlich-kitschige Glühweinatmosphäre, wo doch sein »Happy Xmas (War Is Over)« viel besser gepaßt hätte. Ich fragte mich, ob der Vers »Imagine there’s no countries«, mit dem die zweite Strophe beginnt, ein weiteres Beispiel für die von Comrie erwähnte grammatische Besonderheit darstellte.


Populismus

In ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2019 macht die New York Times auf ein bemerkenswertes, fast schon romantisch zu nennendes Langzeitprojekt aufmerksam, das im wahrsten Sinne des Wortes aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Seit den 1890er-Jahren arbeiten rund 400 Wissenschaftler am sogenannten THESAVRVS LINGVAE LATINAE, einem monumentalen, einsprachigen Wörterbuch der lateinischen Sprache, das bis dato 18 Bände umfaßt und – nach Aufschub von Q und N – beim Buchstaben R angekommen ist; man beabsichtigt im Jahre 2050 mit dem Lemma »zythum« (ein ägyptisches Malzbier) das ThLL abgeschlossen zu haben.

Die folgende Anekdote scheint mir erwähnenswert: »Gastwissenschaftler«, so heißt es in dem Artikel, »kommen oft vorbei [im Institut bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München], um bestimmte Wörter nachzuschlagen – das Gästebuch außerhalb der Bibliothek enthält in schwachen Lettern den Namen Joseph Ratzinger, besser bekannt als Papst Benedikt XVI. Er kam, um die Zettelkästen nach ›populus‹ zu befragen, was ›Massen‹ oder ›Volk‹ bedeutet.« [Meine Übersetzung] Es sei jedem selbst überlassen, eine Antwort auf die Frage zu ersinnen, warum Ratzinger ausgerechnet an diesem Begriff ein solches Interesse besaß. Ein Blick in den Thesaurus, vol. 10.1.2, Sp. 2713-38, zeigt, daß »populus« mit gut 25 Spalten einen weitaus umfangreicheren Eintrag darstellt als das gar nicht so weit entfernte »pontifex« mit derer neun (Sp. 2672-81).


Annalisa Quinn. »Latin Dictionary’s Journey: A to Zythum in 125 Years (and Counting).« The New York Times, Nov. 30, 2019, https://www.nytimes.com/2019/11/30/arts/latin-dictionary.html.

TLL Open Access. Bayerische Akademie der Wissenschaften, 2019, https://www.thesaurus.badw.de/en/tll-digital/tll-open-access.html.


Viralitäten

In einer kenntnisreichen, ausgewogenen und äußerst lesenswerten Rezension des 1948 geborenen amerikanischen Wissenschaftsjournalisten David Quammen findet sich die folgende kritische Passage:

Ein Leser kann Winegard all die schwungvollen Anspielungen auf die Popkultur, die schlechten Wortspiele, die unnötigen Fußnoten, die überhitzten zusammengesetzten Adjektive (›mosquito-haunted shadows‹ des Römischen Reiches; ›mosquito-doomed‹ Kolonisten in Darien) und die Tendenz zu wiederholten Klischees (Kaffee ›went viral‹, als er zuerst nach England importiert wurde; die Beulenpest ›went viral‹ im 14. Jahrhundert; das Buch Silent Spring ›went viral‹ 1962; und selbst die Grippe schaffte es 1919 ›to go viral‹, obwohl sie bereits ein Virus war) vergeben, weil seine Stimme freundlich und sein Thema riesig ist. Sein Buch ist charmant ambitioniert. Enttäuschender als die kleinen Unfälle ist seine Entscheidung, die wissenschaftliche Dimension der Moskitos fast vollständig zu vernachlässigen. [Meine Übersetzung]

In einer Zeit, in der Belangloses zum Phänomen wird, und Phänomene – vorwiegend im Internet – ›viral gehen‹, nimmt es nicht wunder, daß rückblickend auch die berühmt-berüchtigte Spanische Grippe mit diesem Begriff belegt wurde. Frei assoziierend könnte man nun von viral und Grippe über Kontakt, Ansteckung und Verbreitung hin zu Netzwerken, social media und Influenza/Influencer nachsinnen und so sicherlich irgendwann beim Moskito, der kleinen Mücke, Fliege (μυῖα, musca), und dessen elefantöser weltgeschichtlicher Einwirkung enden.


David Quammen. »Suckers.« Rezension zu The Mosquito: A Human History of Our Deadliest Predator, von Timothy C. Winegard. The New York Review of Books, Dec. 5, 2019, vol. LXVI, no. 19, pp. 19-21, hier p. 20.


Nacktheit

Nacktheit ist weniger der endgültige Status der Wahrheit als der vorläufige des Menschen. (Hans Blumenberg)

Neulich in der Buchhandlung Poertgen-Herder in Münster:

Ich suche die nackte Wahrheit.
Tun wir das nicht alle?

Die nackte Wahrheit


PPA

Glück ist nicht immer in der FAZ

Eine Frage, die mich schon seit geraumer Zeit umtrieb, und einhergehend damit ein Phänomen, das mich verwirrte, wurde heute durch einen fundierten Artikel des Sprachwissenschaftlers Helmut Glück in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung behandelt: Ist das Partizip I ein geeignetes oder gar das richtige Mittel, um die Geschlechterdifferenzierung in der Sprache aufzuheben? Glück, Gründungsherausgeber des Metzler Lexikon Sprache, weist auf die »Grundbedeutung des Partizips I« hin, nämlich die

Gleichzeitigkeit: ein Trinkender trinkt gerade jetzt, ein Spielender ist beim Spielen, ein Denkender denkt in diesem Moment. Trinker, Spieler und Denker hingegen üben die jeweilige Tätigkeit gewohnheitsmäßig aus.

Im folgenden geht Glück den Begriffen ›Student‹ und ›Studierender‹ sowohl historisch als auch statistisch nach, führt Definitionen aus Wörterbüchern an und zeigt an diversen Beispielen auf, wie ungrammatisch und (semantisch) falsch eine derartige Entwicklung politisch korrekten Sprechens ist (beispielsweise müßte die Ableitung ›studentisch‹ zu ›studierendenisch‹ umgeformt werden).

Man sollte diesem Trend also mit größter Skepsis und Standhaftigkeit begegnen, was keineswegs Kennzeichen von Engstirnigkeit, Ewiggestrigkeit oder gar Misogynie, sondern vielmehr Ausdruck eines Sprachgefühls ist, auf dem allzu schnell, allzu hitzig und allzu kopflos im Zuge eines immer aggressiver ausgetragenen Geschlechterkampfes herumgetrampelt wird. »Es gibt viele Fälle«, so Helmut Glück, »in denen Wörter und Wendungen zu Instrumenten politischer Propaganda gemacht wurden. Dass eine Endung mit einer klaren Bedeutung zu solchen Zwecken herangezogen wird, ist beispiellos.«


Helmut Glück. »Studenten sind nicht immer Studierende.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Aug. 2019, p. 6.


Wortschatzerweiterung

Ein Beitrag des Deutschlandfunks erweiterte jüngst meinen Wortschatz: Ich erfahre, daß der von 1973 bis 1997 in Kassel lehrende und 2003 verstorbene Schweizer Soziologe und ›Promenadologe‹ Lucius Burckhardt Anfang der 1970er-Jahre ein experimentelles »Lehrcanapé« an der ETH Zürich eingerichtet hatte.

Nun ist ein Lehrstuhl allseits bekannt; er bezeichnet die planmäßige Stelle eines Hochschullehrers, entlehnt vom altgriechischen καθέδρα, dem erhöhten Pult oder Lesestuhl, »von welchem aus ein unterricht vorgetragen wird« (DWB 12, Sp. 578). Ein Kanapee hingegen ist ein luxuriöseres, bequemeres und größeres Möbelstück als ein Stuhl, auf dem man nicht nur alleine sitzen kann. Und genau dies bildet den Kern des Burckhardtschen Konzepts: Sein Lehrcanapé sollte als architektur-soziologischer Treffpunkt dienen, ein Ort, der von zwei Disziplinen besetzt wird, ein Sitzsofa, auf dem man ins Gespräch kommt, kurzum ein Raum, den man zu zweit durchmessen kann. Nicht nur die Universitäten täten gut daran, derartige Lehrcanapés häufiger zu installieren.


Martin Schmitz. »Von der Urbanismuskritik zur Spaziergangswissenschaft. Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt (1/3).« Deutschlandfunk, 14. Juni 2015, www.deutschlandfunk.de/querfelde…


Blau ist bunt

Farben spielen im Leben der Menschen eine entscheidende Rolle. Allein die Tatsache, daß Farbwörter unter den Sinneswörtern besonders ausgeprägt sind, verdeutlicht die Relevanz dieser optischen Eindrücke, die durch eine traditionell-symbolische Aufladung noch vergrößert wird.

Aus einer Rezension erfahre ich, daß die Farbe Blau erst ab dem 17. Jahrhundert als Bezeichnung des Wassers verwendet worden sei. Homers Meer war noch »weindunkel« (οἶνοψ); auch wurde es oft als veilchen- (ἰοειδής) oder purpurfarben (πορφύρεος) bezeichnet. Der blaue Planet ist also seinerzeit ein violetter gewesen. Blau habe sich, so Jesse Russell, »von seiner ursprünglichen Verbindung mit Wärme, Hitze, Barbarei und den Kreaturen der Unterwelt zu seiner gegenwärtigen Verbindung mit Ruhe, Frieden und Träumerei entwickelt.«

Die polnische Linguistin Anna Wierzbicka stellte in ihrem 1990 veröffentlichten Aufsatz »The meaning of color terms« die Frage, was Menschen meinten, wenn sie Farbwörter benutzten. Ausgehend von Umweltuniversalien wie Tag, Nacht, Feuer, Sonne, Vegetation, Himmel und Erde entwickelte Wierzbicka eine Theorie der Konzepte, indem sie verdeutlichte:

Color perception is, by and large, the same for all human groupings […]. But color conceptualization is different in different cultures, although there are also some striking similarities. […] Whatever happens in the retina, and in the brain, it is not reflected directly in language. Language reflects what happens in the mind, not what happens in the brain; and our minds are shaped, partly, by our particular culture.

Von Werthers blauem Frack und Novalis’ blauer Blume über das Blausein nach dem Konsum von zuviel Alkohol, der blue jeans als Ausdruck von Freiheit und Rebellion und dem Blues als Musikgenre bis hin zu den Flaggen von UN und EU und zur französischen Herren-Fußballnationalmannschaft, die kurz »Les Bleus« genannt wird – die Farbe Blau ist omnipräsent und polysem wie andere Farben auch. Zeiten ändern sich, die Mode mit ihr, und ebenso die Farben und Farbbedeutungen mitsamt all der mannigfaltigen Verknüpfungen von Werten, Gefühlen und Symbolen sowie die Art und Weise, wie bunt wir unseren blauen Planeten sehen.


Jesse Russell. »The Colors of Our Dreams.« Rezension zu Blue: The History of a Color, von Michel Pastoureau. Claremont Review of Books, April 1, 2019, https://www.claremont.org/crb/basicpage/the-colors-of-our-dreams/.

Anna Wierzbicka. »The meaning of color terms. Semantics, culture, and cognition.« Cognitive Linguistics 1/1990, pp. 99-150, hier pp. 102-3.


Recht und billig

Nachdem ich am Aschermittwoch den siebten Band der Robert Musil-Gesamtausgabe in der Arnsberger Buchhandlung Sonja Vieth abgeholt hatte, wurde mir schlagartig bewußt, daß ich mit meiner Lektüre im Hintertreffen war. Am folgenden Tag suchte ich mit Band 4, »Fortsetzung aus dem Nachlaß (1937-1942)« des Mann ohne Eigenschaften, den Anschluß wiederzugewinnen.

In Kapitel 47, »Wandel unter Menschen«, stieß ich auf den folgenden Satz:

Es war keine Behauptung; bloß ein schmeichelndes Wortgebilde, ein Scherz, ein offenes Wölkchen aus Worten; und sie [Agathe und Ulrich] wußten, daß sich auserwählt zu fühlen das billigste Zaubermittel und sehr jugendlich sei: Trotzdem stieg Ulrichs Geschwisterwort an beiden langsam von der Erde bis über den Kopf empor.

Ich stolperte weniger über die Parataxe als vielmehr über ein Adjektiv: »billig«, dazu noch im Superlativ gesetzt. Es wollte sich nicht so recht mit dem es umgebenden Sich-auserwählt-Fühlen und der Jugendlichkeit in Einklang bringen lassen, ganz zu schweigen vom Zaubermittel, das es beschreibt.

Mir fiel jedoch ein, daß mich Kristy Husz vor vielen Jahren auf den zwar feinen, doch für heutige Ohren entscheidenden semantischen Wandel von »billig« aufmerksam gemacht hatte: Ursprünglich herrschte nämlich das Angemessene und Gerechtfertigte in der Bedeutung des Adjektivs vor (wie es etwa an der Formel »recht und billig« immer noch ersichtlich ist), bevor es mehr und mehr zu dem wurde, was wir heute darunter verstehen, und zwar zumeist preisgünstige, minderwertige, ja geistlose Dinge. Das Musilsche Zaubermittel ist also keineswegs Ramschware vom Grabbeltisch, sondern ein passendes und wirkungsvolles Elixier.


Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017, p. 107. Gesamtausgabe Bd. 4, herausgegeben von Walter Fanta.


Sabotage

In seiner aktuellen »Neulich«-Kolumne für die Literaturzeitschrift Volltext gibt der Schriftsteller Andreas Maier folgende Anekdote zum besten:

Neulich schlief mir in der U-Bahn ein Fuß ein, den ich darauf hob und schüttelte. Ein mir gegenübersitzender Mann rief gleich: Spinnst du, hast du keinen Respekt? Ich sagte, mein Fuß sei eingeschlafen, und hob ihn wieder, um ihn zu schütteln. Darauf er, völlig wildgeworden: Du Scheißnazi, du Faschist, du deutsche Drecksau, man muss euch alle umbringen. Er schrie durch den ganzen Waggon und meinte mit ›euch alle‹ uns alle im Waggon. Übersetzt in klare Sprache: Er war Araber, besoffen und glaubte, ich hätte ihm ›die Fußsohle gezeigt‹. Er hatte dieses rhetorisch miese ›Respekt‹-Wort zur Hand (und Gott sei Dank kein Messer).

Unweigerlich mußte ich an die berühmt-berüchtigte Pressekonferenz vom 14. Dezember 2008 in Bagdad denken, in welcher der irakische Journalist Muntadhar al-Zaidi zu weltweiter Prominenz avancierte, und zwar nicht etwa aufgrund kritischer Fragen, die er stellte, sondern vielmehr weil er seine Schuhe auf den damaligen US-Präsidenten George W. Bush warf und ihn zweimal nur knapp verfehlte. Vor dem Hintergrund islamischer Hygieneverordnungen erhält die Sabotage (frz. saboter für ›in Holzschuhen umhertappen‹, ›derb auftreten‹, ›mit dem Kreisel spielen‹, ›stoßen‹, ›quälen‹) eine neue Dimension.


Andreas Maier. »Neulich.« Volltext, Nr. 3/2018, pp. 24-5, hier p. 24.

Art. »sabotieren.« Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Genehmigte Lizenzausgabe, Edition Kramer, 2018, pp. 1153-4.


Bahnhof verstehen

Aus Uwe Johnsons Jahrestage-Eintrag vom 23. Juli 1968 lernt man Etymologisches:

›Das russische Wort für Bahnhof‹, führt Anita gegenüber der Freifrau von Mikolaitis aus, ›woksal [Вокзал], es verdankt sich dem Vergnügungspark nahe dem Bahnhof London-Vauxhall, wie auch der Zar Alexander der Zweite Nikolajewitsch einen errichten ließ in seiner Stadt Pawlowsk, Rayon Woronesh; das Wort woksal ist gewißlich gefallen.‹

Die Vauxhall Pleasure Gardens dienten also als Vorbild für das russische Bahnhofsgebäude, das auch als Musikpavillon genutzt wurde. Mit einem derartig ›vergnüglichen‹ Lehnwort kann die deutsche Sprache nicht aufwarten. In Wolfgang Pfeifers Etymologischem Wörterbuch heißt es nüchtern:

Am häufigsten wird heute Bahn für ›das auf Schienen laufende Verkehrsmittel‹ (Eisen-, Straßenbahn) gebraucht. Dazu die Zusammensetzungen Bahnhof m. (um 1840), das älteres Eisenbahnhof allmählich verdrängt, und Bahnsteig m. (1886), das sich gegenüber älterem Perron durchsetzt.

Der Bahnhof als Residenz der Eisenbahn. Wie schön, daß sich die russische Etymologie durch Johnsons Jahrestage Bahn ins Deutsche brechen konnte.


Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, p. 1438.

»Bahn.« Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Genehmigte Lizenzausgabe, Edition Kramer, 2018, pp. 87-8, hier p. 87.


Hochseephilosophie

Daß man durchaus mehrmals, ja unzählige Male, in denselben Fluß, nämlich denjenigen der Metaphern, steigen kann, bewies jüngst Wolfram Eilenberger in seinem bioquadrophonischen Bestseller Zeit der Zauberer, indem er das »Paradigma einer Daseinsmetapher« (Blumenberg) aufnahm und es kreativ erweiterte: »Cassirer«, so Eilenberger, »ist der unangefochtene Luxusliner unter den Hochseephilosophen. Kein noch so mächtiger Sturm vermag ihn aus der Ruhe, geschweige denn vom Kurs abzubringen.« Und wenige Seiten später ergänzt er: »Cassirer jedenfalls, der Lotse auf den Ozeanen der Redevielfalt, blieb an Bord, blieb Hamburg, blieb Warburg und damit nicht zuletzt seinem eigenen, kontinuitätsaffinen Wesen treu.« Daß Wasser als Existenzgrundlage und Zivilisationsmotor das wohl wichtigste Element darstellt, dürfte unbestritten sein. Die Frage jedoch, wer heutzutage den Kapitänsposten des Hochseephilosophen Ernst Cassirer eingenommen hat, dürfte indes weniger klar sein.


Hans Blumenberg. Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Suhrkamp, 1997.

Wolfram Eilenberger. Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929. 4. Aufl., Klett-Cotta, 2018, pp. 331; 334.


Die Kunst des Konflikts

In seinem Enthüllungsbestseller Fire and Fury, der den Wahlkampf und die ersten Monate der Präsidentschaft Donald Trumps beleuchtet, macht der amerikanische Journalist Michael Wolff auf folgenden Bedeutungswandel aufmerksam:

Man definierte sich selbst durch die Reaktion seiner Feinde. Konflikt war der Köder dieser Medien [der Internet-Medien, speziell Breitbart] und damit der Politik selbst. Politik war nicht mehr die Kunst des Kompromisses, sondern die Kunst des Konflikts.

Abgesehen von der Frage, ob nicht immer schon beide Auffassungen den Politikbegriff geprägt haben, drückt Wolffs Diagnose einen Wandel vom geistigen (compromittere, zusagen) zum körperlichen (confligere, zusammenschlagen) Umgang auf der politischen Bühne aus, vom Zorn zum Feuer.

Im zwölften Kapitel der Kunst des Krieges, das mit »Angriff durch Feuer« betitelt ist, heißt es:

Zorn mag sich mit der Zeit in Freude verwandeln; auf Verärgerung mag Zufriedenheit folgen. Doch ein Königreich, das einmal zerstört wurde, kann nie wieder errichtet werden; und auch die Toten können nicht ins Leben zurückgeholt werden.

Es bleibt abzuwarten, welche Dimension den Politikbegriff fortan beherrschen wird.


Michael Wolff. Feuer und Zorn. Im Weißen Haus von Donald Trump. Gelesen von Richard Barenberg, argon Hörbuch, 2018, Apple Music, Kap. 43, 1:54-2:07.

Sunzi. Die Kunst des Krieges. Herausgegeben und mit einem Vorwort von James Clavell. Knaur, 1988, p. 148.


Überzüchtung

Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch kommt in seiner gelehrten Blumenberg-Biographie auf die schwierigen Umstände zu sprechen, unter denen der junge Kieler Doktorand in der Nachkriegszeit forschen mußte, wobei Flasch en passant einen formidablen Neologismus anbringt:

[...]; ich [Flasch] nehme den Text [der Dissertation] des 27-Jährigen [Blumenberg] als ein Werk der Jahre 1945 bis 1947, in denen allein schon die Literaturbeschaffung den Autor vor Schwierigkeiten stellte, die die Researchhengste von heute sich kaum noch vorstellen können.

Die männlichen, unkastrierten Pferde, die häufig zur Zucht eingesetzt werden, tauchen, laut Flaschs Metapher, in menschlicher Gestalt im heutigen Wissenschaftsbetrieb auf, um textuellen Forschungsnachwuchs am Fließband zu (er-)zeugen. Als Deckhengste des Geistes scheinen sie Züge des polymechanos Odysseus zu tragen; ihre Recherche führen sie mit List und Tücke, vor allem jedoch unter Zuhilfenahme mechanisch-technischer Mittel wie Computer, Suchmaschinen, ja Algorithmen generell. Peter Sloterdijk erinnert daran, daß »der Krieg von alters her das Polytechnikum der Ingenieure bedeutet«, und daß es daher nicht verwundere, »wenn das Beiwort polymechanos zuerst einem Krieger zugesprochen wurde.«

Ob als Hengste oder Krieger – das Attest des inzwischen 88jährigen Kurt Flasch behält seine Gültigkeit: Die Forscher der Gegenwart würden in der Nachkriegszeit auf verlorenen Posten stehen.


Kurt Flasch. Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966. Klostermann, 2017, p. 140.

Peter Sloterdijk. »Odysseus der Sophist. Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress.« Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp, 2016, pp. 253-90, hier p. 283.


Bockige Ausdauer

In der aktuellen Ausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext ist das Gespräch abgedruckt (und wie man erfährt: »hier erstmals vollständig publiziert«), das Alexander Kluge im April 1994 mit dem damals 66jährigen Soziologen Niklas Luhmann in München geführt hat. Es endet mit Kluges Frage: »Was würden Sie als eine Ihrer Haupteigenschaften bezeichnen?«, worauf Luhmann prägnant antwortet: »Bockigkeit«.

Die Semantik dieses Begriffs umgibt nichts Mysteriöses; das Verb ›bocken‹ bedeutet – folgt man Kluges (nicht Alexander!) Etymologischem Wörterbuch – »steifbeinig dastehen und sich sperren wie ein Bock«. Luhmann sieht sich also als einen störrischen, widerstrebenden, vielleicht auch launischen Menschen, in dessen Hartnäckigkeit jedoch vor allem das Moment der unbedingten Ausdauer zum Tragen kommt.

Interessanterweise hatte der 61jährige Philosoph Hans Blumenberg 1982 im sogenannten Proustschen Fragebogen für das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Frage nach seinem Hauptcharakterzug nicht minder prägnant, doch weniger negativ konnotiert, als es Luhmann tat, mit »Ausdauer« beantwortet. Sicherlich muß man als Geistesarbeiter nicht nur flexibel und offen, sondern auch ausdauernd und stur wie ein Bock sein, zumindest wenn man ein ganzes Zettelkasten-Universum erschaffen und beherrschen möchte, wie dies Blumenberg und Luhmann getan haben.

Im Nachwort zu Quellen, Ströme, Eisberge findet sich – bezugnehmend auf eine Randbemerkung Blumenbergs auf einer Kopie von Luhmanns Text Kommunikation mit Zettelkästen – die folgende Anekdote: »Gegen Luhmanns Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹« – man beachte das beinahe bockig gesetzte Ausrufezeichen.


Alexander Kluge. »›Schirmherr makelloser Schlangenschönheit.‹« Volltext, Nr. 4/2017, pp. 34-51, hier pp. 34, 49.

Art. »bocken.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 137.

Rüdiger Zill. »Umweg zu sich. Hans Blumenbergs Spiegel-Bild.« Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VII/1, Frühjahr 2013, pp. 81-90, hier p. 88.

Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Nachwort. Quellen, Ströme, Eisberge, von Hans Blumenberg, herausgegeben von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Suhrkamp, 2012, pp. 271-85, hier p. 280.


Die Geburt des Denkkerkers

Ich muß feststellen – wenn auch nicht bestürzt, so doch immerhin betrübt –, daß der Begriff ›Denkkerker‹ nicht, wie von mir angenommen, auf den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard, sondern auf den Schweizer Autor Silvio Blatter zurückgeht. Dieser hatte den Begriff bereits 1978 – und damit acht Jahre vor Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall – in seinem Roman Zunehmendes Heimweh, dem ersten Teil seiner »Freiamt«-Trilogie, verwendet. Während Bernhard jedoch dem Denkkerker als Refugium eine durchaus positive Semantik verleiht, benutzt ihn Blatter hingegen kritisch als Symbol für die vom Katholizismus propagierte Lebensweise.


Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, herausgegeben von Hans Höller, Suhrkamp, 2004, p. 242. Thomas Bernhard Werke, herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 9.

Silvio Blatter. Zunehmendes Heimweh. Suhrkamp, 1978, p. 208.

Nico Schulte-Ebbert. Die Gewalt des Anderen. Aggression und Aggressivität bei Thomas Bernhard. Dissertation WWU Münster, 2012. Logos, 2015, Kap. 4.2.


Urknistern

Hört man sich das dröhnende, tinnitushafte Pochen des Urknalls auf der Homepage des Physikers John G. Cramer an, gewinnt man den Eindruck, es handelte sich dabei um Auszüge aus Pink Floyds Zabriskie Point Sessions. Jedenfalls ist der eigentliche Knall, der sich vor etwa 13,8 Milliarden Jahren ereignet haben soll, nicht zu hören, und selbst das Echo dieser Initialzündung mußte Cramer extrem verstärken, damit das menschliche Ohr die kosmische Frequenz wahrzunehmen vermag. Zudem ist der Begriff ›Urknall‹ strenggenommen irreführend, allerdings ist die Metapher immer schon ein wirksames Instrument gewesen, das Unbegreifliche begreifbar zu machen, zumal dieser Mechanismus häufig geradezu poetische Blüten trägt, wie man aktuell im Feuilleton der NZZ nachprüfen kann: »Was soll man von einer Schöpfung halten«, so heißt es dort,

die mit einem Knall beginnt? Ein Knistern hätte es doch auch getan, ein Rascheln vielleicht. Oder ein zartes Knarren. Es ginge anders zu in der Welt, wenn man von einem Urknistern sprechen könnte. Es wäre leiser in ihr. Schon aus Respekt davor, woher das alles kommt.

Natürlich hätte die Wissenschaft niemals ein Knistern, Rascheln oder Knarren akzeptiert; der klar definierte Knall ist weitaus weniger unheimlich und ungleich effektiver bei der Entzauberung des Universums.


John G. Cramer. »The Sound of the Big Bang.« University of Washington, 2003 & 2013, faculty.washington.edu/jcramer/B…

Paul Jandl. »Ruhe, bitte!« Neue Zürcher Zeitung. Auswahl für Deutschland, 12. Aug. 2017, p. 10.


Da-Heim-Sein

In Peter Sloterdijks kontroverser Basler (1997) beziehungsweise Elmauer Rede (1999) Regeln für den Menschenpark findet sich die folgende, auf Heideggers sogenannten Humanismusbrief (1946/47) anspielende Passage:

Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten, daß sie nur als ›Nachbarn des Seins‹ existieren – und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in unkündbarer Hauptmiete.

In Zeiten von Wohnungsnotstand und astronomisch hohen Mietpreisen ergibt das anthropotopologische Bild Sloterdijks neuen, konkreten Sinn: Das Sein als unerreichbares Da-Heim-Sein verstanden, läßt lange Warteschlangen Da-Seins-Berechtigter vor dem geistigen Auge erscheinen; die fließbandartige Wohnungsbesichtigung ist das luxussanierte Höhlengleichnis unserer Zeit. Schon ein kurzer Blick auf die ersehnten Quadratmeter lindert die Da-Seins-Not, doch: Der Begriff ›wohnen‹, der etymologisch mit ›zufrieden sein‹, ›lieben‹ und ›schätzen‹ verbunden ist, scheint seine Griffigkeit eingebüßt zu haben. »Eine schlechte Wohnung«, so Vater Märten in Goethes Was wir bringen, »macht brave Leute verächtlich.« Dies gilt im übrigen auch für das »Haus des Seins«.


Peter Sloterdijk. Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Sonderdruck. Suhrkamp, 1999, p. 30.

Art. »wohnen.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 994.

Johann Wolfgang Goethe. »Was wir bringen.« Weimarer Klassik 1798-1806. Herausgegeben von Victor Lange. Hanser, 1986. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 750-83, hier p. 754. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 6.1.

Martin Heidegger. Über den Humanismus. 11. Aufl., Klostermann, 2010, p. 5.


Ins Nirvana

Einer der bekanntesten und erfolgreichsten Polizisten der Weimarer Republik, der Berliner Kriminalkommissar Ernst Gennat (1880-1939), wurde »aufgrund seiner Körperfülle der ›Buddha vom Alex‹, oder einfach nur ›Der Dicke‹ genannt.« Unter seiner Federführung wurde »auch das berühmte ›Mordauto‹ angeschafft«.

Der auf den ersten Blick verstörende, ja beinahe komisch anmutende Gegensatz von ›Buddha‹ und ›Mordauto‹ wird entschärft, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, daß der Buddha ein Mensch ist, welcher unter anderem »Einsicht in das Wesen der Tatvergeltung als Unheilszusammenhang« hat. Gennat trat somit nicht nur als korpulenter Beamter eindrucksvoll in Erscheinung, sondern auch als personifiziertes karma.


Regina Stürickow. Verbrechen in Berlin. 32 historische Kriminalfälle 1890-1960. Elsengold, 2014, p. 52.

»Buddha.« Lexikon des Buddhismus. Grundbegriffe, Traditionen, Praxis in 1200 Stichworten von A-Z, von Klaus-Josef Notz. Genehmigte Lizenzausgabe, Herder, 1998. Fourier, 2002, pp. 88-93, hier p. 88.


Sinn und Wert

In seinem Anfang der 1930er Jahre entstandenen und erst im Sommer 2008 zufällig in einem unerschlossenen Teilnachlaß entdeckten Werk Elemente der Bildung mahnt der Romanist Ernst Robert Curtius, nicht nur die Frage nach Nutzen und Zweck zu stellen, sondern auch diejenige nach dem Sinn:

Als Beethoven die Neunte Symphonie schrieb, als Goethe den Faust dichtete, taten beide etwas, was sicher nutzlos und zwecklos und dennoch zweifellos wertvoll war. Wie soll man solches Tun bezeichnen? Wir nennen es sinnvoll.

Der Frage, was Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten nützen, liegt also eine tiefergehende Frage zugrunde, und zwar: »›Welchen Sinn kann dieses Wissen, dieses Ereignis, dieses Sachgebiet für mich gewinnen?‹«

Curtius’ Plädoyer für ›unnützes‹ Wissen und ›unnütze‹ Bildung hat in Abraham Flexners Essay »The Usefulness of Useless Knowledge« – zuerst in der Oktober-Ausgabe 1939 des Harper’s Magazine erschienen, jetzt, im März 2017, bei Princeton UP herausgebracht und mit einem lesenswerten Begleittext Robbert Dijkgraafs versehen – ein mit anschaulichen Beispielen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich angereichertes Pendant. Flexner, Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton, schreibt:

With the rapid accumulation of ›useless‹ or theoretic knowledge a situation has been created in which it has become increasingly possible to attack practical problems in a scientific spirit.

Wer vermag einzuschätzen, was gegenwärtige Neugier, Vorstellungskraft und deep thinking für die Zukunft bedeutet? Was heute unnütz und überflüssig erscheint, könnte sich morgen schon als sinn- und wertvoll erweisen: Der Denkkerker als Zukunftslabor.


Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg. C. H. Beck, 2017, p. 25.

Abraham Flexner. »The Usefulness of Useless Knowledge.« Harper’s, Oct. 1939, library.ias.edu/files/Use…

Robbert Dijkgraaf. »We Need More ›Useless‹ Knowledge.« The Chronicle of Higher Education, Mar. 17, 2017, www.chronicle.com/article/W…