Lathe biosas

In der heutigen F.A.Z. ist ein über zwei Seiten reichender Artikel Henning Ritters abgedruckt, der sich als biographische Skizze Hans Blumenbergs lesen läßt, und der den Münsteraner Philosophen in gewissem Sinne doppelt ›sichtbar‹ werden läßt. Ritter beschreibt den Kontakt des (unvorbereiteten) Lesers mit dem umfassend gebildeten Philosophen als eine ›erhabene‹ Begegnung, wie man sie in der Natur oder auch vor Kunstwerken erfährt. Die Schriften Blumenbergs (er-)fordern daher einen »intellektuelle[n] Abenteurer« als Leser, der sich einerseits vom Autor leiten läßt, der sich andererseits auch mit großer Kraft einen Weg durch die zugewachsenen Pfade freischlagen muß.

Neben der Frage nach der Leserschaft, der imaginierten und der tatsächlichen, die dem Autor ein großes Echo und damit Motivation zum Weiterschreiben gab, stellt Ritter Blumenbergs »starkes literarisches Interesse« in den Fokus seines Artikels. Sein Stil kann als philosophische Prosa charakterisiert werden. Indem Blumenberg sich bei seinen Deutungen unzähliger literarischer Beispiele bedient, stärkt er die Literatur »in ihrem Anspruch auf Mitspracherecht nachdrücklich«. Wie etwa Lévi-Strauss den Mythos als neben der Wissenschaft ebenbürtige Art und Weise der Daseinsbeschreibung und -erklärung definiert, sieht Blumenberg die Literatur als weites Feld menschlicher Erfahrungen: »Die dichterische Phantasie«, erklärt Ritter, »schafft nicht bloß Ornamente des Verstehens, sondern gibt gleichberechtigte Einsätze.« Dieses Projekt fordere eine »Literarisierung der Philosophie«, wie sie etwa schon der ›Dichterphilosoph‹ Paul Valéry umsetzte, dem Blumenberg nach Ritters Einschätzung »die bis heute bedeutendsten Studien in deutscher Sprache gewidmet« habe. Blumenbergs comédie intellectuelle wird schließlich von einer Metaphorologie begründet, die als »implizite Polemik gegen die Herrschaft des Begriffs« aufgefaßt werden kann.

Nach seiner Emeritierung endeten die umfangreichen Monographien und Blumenberg konzentrierte sich auf kürze Texte wie Fabeln, Anekdoten oder Glossen, wodurch er sich von der Philosophie in ihrer »akademischen, zunftmäßigen Form emanzipier[te]«. Sichtbarkeit und Biographie – zwei Phänomene, denen sich Blumenberg stets entzog. Zuletzt waren seine Schriften, seine Artikel und Bücher, die einzigen Lebenszeichen, so daß man ihn durchaus als einen deutschen Thomas Pynchon bezeichnen könne.

Die eingangs erwähnte doppelte Sichtbarkeit wird folgendermaßen etabliert: Dem überaus lesenswerten ›biographischen‹ Artikel Henning Ritters sind zwei Photographien Blumenbergs beigefügt. Das bekannte und einzige vom Philosophen freigegebene ist auf der zweiten Seite abgedruckt; ein neues, ›unbekanntes‹ Bild ist dem Ritterschen Text vorangestellt, ja es erstreckt sich über dessen fünf Spalten. »Aus Scheu vor jeder aufdringlichen Sichtbarkeit seiner Person«, so liest man unter der stark körnigen Photographie, »sorgte Hans Blumenberg dafür, dass es keine Fotos von ihm gab, ein einziges kam zu Lebzeiten davon. Nun ist diese zweite Aufnahme des Philosophen aufgetaucht.« Eine etwas übertriebene Darstellung, ziert dieses Bild doch – wenn auch seitenverkehrt – das Cover von Denis Trierweilers im August 2010 bei PUF erschienenem Hans Blumenberg: Anthropologie philosophique.


Henning Ritter. »Vom Wunder, die Sterne zu sehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Jan. 2012, p. Z 1-2.

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»Everyone’s got to be somewhere« – George Harrison zum 10. Todestag

An diesem 29. November jährt sich der Todestag George Harrisons zum zehnten Mal. Was kann – in Anbetracht der schier endlosen Fülle an Literatur, an Musik, an Filmen und Dokumentationen, die über ihn, sein Werk und Leben und letztlich auch über die Beatles als Ganzes, als Phänomen veröffentlicht wurde (und noch immer wird) – noch gesagt werden?

Zweifelsohne war George Harrison ein bedeutender Musiker, ein Gitarrist, der – einmal vom übermächtigen Songwriter-Duo Lennon/McCartney emanzipiert – seinen unverwechselbaren, mit indischen Klängen ornamentierten Stil prägen und seiner eigenen religiös-humanistischen Botschaft ungeachtet aller Moden und Meinungen treu bleiben konnte. Doch er war weit mehr als das: er war ein Wohltäter, ein Motorsportnarr, ein Philosoph mit intelligentem Witz, er war Ehemann, Vater und Freund unzähliger Menschen. Viele, die ihn gut und lange kannten, aber auch solche, die ihm nur kurz begegnet waren, sprechen von ihm wie von einem Heiligen, einem Weisen, der jedoch alles andere als distanziert oder gar abgehoben und verrückt war. Er war ein Mann des Volkes, ohne Berührungsängste oder Star-Allüren, er versammelte gerne Freunde um sich und begrub sie nahezu unter einer gigantischen Schicht aus Großzügigkeit und Liebe. Innerlich ist er sein Leben lang der einfache Junge aus Liverpool geblieben, der in rasender Geschwindigkeit »to the toppermost of the poppermost« emporgestiegen war, und der in gut zehn Jahren – man muß sich vergegenwärtigen, daß Harrison bei der offiziellen Auflösung der Beatles am 10. April 1970 gerade einmal 27 Jahre alt war! – Erfahrungen und Erlebnisse mehrerer Leben gemacht hatte.

George Harrison war jedoch eines auch: ein ewiger Gärtner – und zwar im umfassenden, auch im metaphorischen Sinne. So ist es kein Wunder, daß er seine zuerst 1980 erschienene, als Dialog mit Derek Taylor konzipierte Autobiographie I Me Mine »to gardeners everywhere« gewidmet hat. In den riesigen Parkanlagen seines Domizils »Friar Park« in Henley-on-Thames fand er Ruhe, Erdung und Inspiration. Hier war er der Mensch George, nicht der Ex-Beatle, nicht der Promi. In I Me Mine sagt er:

I’m really quite simple. I don’t want to be in the business full-time, because I’m a gardener. I plant flowers and watch them grow. I don’t go out to clubs and partying. I stay at home and watch the river flow.

Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, schrieb Elton John einen Song namens »Empty Garden (Hey Hey Johnny)«. Der Garten steht hier zwar für den New Yorker »Madison Square Garden«, in welchem Lennon 1974 ein Versprechen eingelöst hatte und bei einem Elton-John-Konzert aufgetreten war, doch können die Verse dieses Songs ebensogut auf George Harrison gemünzt sein: »He must have been a gardener that cared a lot / Who weeded out the tears and grew a good crop«. Lennons Tod traf auch Harrison schwer. In »All Those Years Ago«, seinem mit Paul McCartney, Ringo Starr und George Martin eingespielten Tribute-Song an den Freund, singt er: »Living with good and bad / I always look up to you / Now we’re left cold and sad / By someone the devil’s best friend / Someone who offended all«.

Man ist versucht, diese Worte an Lennon auch auf Harrison anzuwenden: Selbst nach zehn Jahren sind Familie, Freunde und Fans auf der ganzen Welt immer noch »left cold and sad«, doch ist diese Traurigkeit mit Blick auf Harrisons Lebensphilosophie, auf seine religiösen und spirituellen Überzeugungen vollkommen unbegründet. Man muß sich selbst diese schon stoische Einstellung zum Tod – der niemals das Ende ist, auch wenn »all things must pass« – in den dunklen Stunden vor Augen führen, man muß sich George Harrison als einen zufriedenen Menschen vorstellen, der – wo immer er auch sein mag (irgendwo muß er ja sein, oder mit den Worten John Lennons: »Wherever you are / You are here«) – weiterexistiert. In seiner Rede anläßlich der Aufnahme Harrisons in die »Hollywood Bowl Hall of Fame« gab Eric Idle folgende Anekdote zum Besten:

I was on an island somewhere when a man came up to him and said: ›George Harrison, oh my God, what are you doing here?‹ – and he said: ›Well, everyone’s got to be somewhere.‹

(Wer sich ein Bild von George Harrisons Humor machen möchte, dem seien Klaus Voormanns Memoiren »Warum spielst du Imagine nicht auf dem weißen Klavier, John«. Erinnerungen an die Beatles und viele andere Freunde wärmstens empfohlen.)

Am ersten Todestag Harrisons kamen unter der Leitung Eric Claptons seine engsten Musikerfreunde in der Londoner »Royal Albert Hall« zusammen, um beim Concert For George – eine Anspielung und Reverenz auf Harrisons 1971 initiiertes Benefizkonzert Concert For Bangladesh – ihres Freundes zu gedenken. Obgleich der gesamte Abend, nicht zuletzt auch durch die hervorragende Doppel-DVD, ein unvergeßlicher war, sei an dieser Stelle auf das sehr bewegende Finale hingewiesen: Joe Browns Version des Isham-Jones-und-Gus-Kahn-Klassikers »I’ll See You In My Dreams« aus dem Jahre 1924.

Wenige Monate später, im März 2003, veröffentlichte Ringo Starr auf seinem zwölften Studio-Album Ringo Rama seinen Song für Harrison »Never Without You« (bei dem Eric Clapton die Gitarren-Soli übernahm) und stellte sich damit in eine Reihe mit seinen Beatles-Kollegen George und Paul, die in den Jahren 1981 und 1982 jeweils Tribute-Songs für John Lennon verfaßten: das bereits genannte »All Those Years Ago« und »Here Today«.

Zum 10. Todestag George Harrisons erscheinen das dreieinhalbstündige Biopic (das, etwas unglücklich gewählt, denselben Titel trägt wie ein Harrison-Album aus dem Jahre 1973) George Harrison: Living In The Material World von Martin Scorsese sowie ein gleichnamiges, 400 Seiten starkes Buch voller privater Fotos und persönlicher Erinnerungen von Weggefährten. George Harrison ist immer noch in aller Munde – und auf den Titelseiten der Zeitungen und Musik-Magazine. In I Me Mine beschreibt er diese Prominenz mit gemischten Gefühlen: »There was more good than evil in being a Beatle but it was awful being on the front page of everyone’s life, every day. What an intrusion into our lives.«

So gärtnert George Harrison wahrscheinlich noch ewig weiter: »A gardener like that one, no one can replace«. Er, der als ›stiller Beatle‹ in die Geschichte einging, verließ sie als ruhiger Philosoph und ist immer noch präsent: »And your song will play on without you / And this world won’t forget about you…«


Mit Liszt und Tücke

Welche Liszt-Biographie malt das bunteste und authentischste Bild des Virtuosen? Für alle Unentschlossenen, die im Jubiläumsjahr in all den Neuerscheinungen den Überblick verloren haben, stellt Michael Stallknecht die wichtigsten vor – und hält sich mit Kritik nicht zurück. Die Liszt-Biographie des Glenn-Gould-Experten Michael Stegemann hebt Stallknecht als gelungen heraus und nennt sie »[d]ie Standardbiographie der kommenden Jahre [...], weil [sie] bei aller Nähe die Fakten klar ordnet und durchdenkt.« Doch versäumt es Stallknecht keinesfalls die brillante, schon vor zwei Jahren erschienene, fast 1000 Seiten starke Liszt-Biographie des französischen Musikwissenschaftlers Serge Gut zu unterschlagen. Für jeden Geschmack (und jeden Anspruch!) dürfte der Liszt-Büchermarkt in diesem Herbst gewappnet sein.


Michael Stallknecht. »Zwischen Trinker und Genie.« Süddeutsche Zeitung, 14. Nov. 2011, https://www.sueddeutsche.de/kultur/liszt-biographien-zum-zwischen-trinker-und-genie-1.1188246

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American Idol

Nietzsche war nie in Amerika, doch Amerika war bei Nietzsche: Er ›vergötterte‹ Emerson, den er seit 1862 in Übersetzung las. Diese Vereinigung, »one of the most significant acts of transatlantic cross-fertilization in Western intellectual history«, ließ Emersons Warnung konkret werden: »Beware when the great God lets loose a thinker on this planet.« Dieser Denker sollte Nietzsche sein, wie Nietzsche selbst mit diesem Denker Schopenhauer identifiziert hatte. Das Buch American Nietzsche: A History of an Icon and His Ideas von Jennifer Ratner-Rosenhagen, das am 6. Dezember erscheinen soll, verspricht, eine interessante Darstellung der Rezeption Nietzsches in den Vereinigten Staaten zu sein.


Ross Posnock. »American Idol: On Nietzsche in America.« The Nation, Nov. 1, 2011, https://www.thenation.com/article/american-idol-nietzsche-america/

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Zettelkasten

Als ich eben das Nachwort zu Hans Blumenbergs Quellen (Hg. Ulrich v. Bülow u. Dorit Krusche. DLA Marbach, 2009) las, mußte ich über folgende Randbemerkung schmunzeln:

Seinen ersten Zettelkasten legte Blumenberg vermutlich bereits Anfang der vierziger Jahre an, in einer Zeit, in der er wegen seiner jüdischen Herkunft Verfolgungen und Benachteiligungen ausgesetzt war. Für diese Datierung spricht nicht nur der Zustand der frühen Karteikarten, sondern auch eine seiner Randbemerkungen in Niklas Luhmanns Erfahrungsbericht ›Kommunikation mit Zettelkästen‹ (in: N. L., ›Universität als Milieu‹, Bielefeld, 1992). Gegen dessen Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹. (91)

In den insgesamt 55 Jahren bis zu seinem Tode schuf Blumenberg ein Archiv aus 30.000 Karten! Blumenberg – nein! die Herausgeber seiner Nachlaß-Fragmente sind es, die mehr und mehr zum modernen Quintus Fixlein avancieren, indem sie sein Leben (und Denken!) aus Zettelkästen, aus Schubern und Mappen ziehen. Es bleibt zu hoffen, daß sie im Sinne des so peniblen Philosophen mit Feingefühl, Kommentaren und in historisch-kritischer Manier diese Mammutaufgabe bewältigen.

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