Auf dem Weg ins Vollidiotentum

Felix Heidenreich heute in der NZZ:

Erst die Handwerkszünfte bringen echtes Kunsthandwerk hervor, die wissenschaftlichen Institutionen Exzellenz. Wer etwas gut können will, kann nicht alles können. Aber irgendwann dreht sich das Verhältnis: In der berühmten Stecknadelfabrik findet sich, so [Adam] Smith, womöglich niemand mehr, der in der Lage wäre, allein eine Stecknadel fertigzustellen. Der zerhackte Arbeitsprozess macht uns zu Idioten, im besten Fall zu Fachidioten, im schlimmsten Fall zu Vollidioten.

Und weiter:

Genau diese Arbeitsteilung macht den treibenden Motor der Vermurksung unserer mentalen Infrastrukturen aus: Unsere Kinder lernen nicht mehr schreiben, weil sie es ja nicht können müssen. Bald werden sie wohl auch nicht mehr tippen müssen, sondern Spracherkennungsprogramme bedienen. Entsprechend schwindet die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen oder einer musikalischen Ausbildung.

Die Etablierung eines Vollidiotentums mittels Absenkung des Niveaus bringt automatisch, problemlos und unumgänglich eine Fülle neuer Genies hervor. Citius, altius, fortius – aber bitte mit einfachsten Mitteln.


Felix Heidenreich. »Mach’s leichter, wenn’s zu schwierig wird: Sobald die Kompetenzen schwinden, senken wir die Anforderungen. Aber wissen wir auch, was wir damit auslösen?« Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/bildungsdebatte-wie-wir-zu-fachidioten-werden-ld.1604614.


Idiolekt

»Man könnte«, erklärt Felix Heidenreich in seinem empfehlenswerten, Anfang Mai erschienenen Großessay Politische Metaphorologie, »an einzelnen Abschnitten seiner [Hans Blumenbergs] Texte zeigen, wie er mit literarischer Finesse einen Spannungsbogen aufbaut und am Ende eines Absatzes wie mit einer Coda schließt: Lange, bisweilen verschnörkelte Hypotaxen enden nicht selten mit einem sentenzenhaften Fazit.« (65) Heidenreich selbst neigt weder zu komplizierten Sätzen noch bringt er seine Gedanken mit einem Aper­çu auf den Punkt; er zelebriert vielmehr das überraschende Abdriften ins Englische, unklar, ob dieses Manöver eine tiefere Funktion erfüllen oder schlicht einen cool klingenden Manierismus bedienen soll, der allerdings oftmals awkward daherkommt: Ausdrücke wie out of the blue (9), whatever helps (10), more of the same (35), get over it! (51), and that’s it (91) oder view from nowhere (107) stehen exklamativ und scheinbar unmotiviert neben vertrauten griechischen und lateinischen Termini technici sowie vermeintlichen Fachbegriffen des Englischen wie muddling through (43), pole-drift (46), chandlerisms (46), cognitive shortcuts (47), empowerment (49), public understanding of science (105), exceptionalism (109) oder cliffhanger (110).

Bei einem seiner anglizistischen Ausflüge wurde ich besonders hellhörig: »Es ginge«, schreibt Heidenreich mit Bezug auf George Lakoffs und Mark Johnsons 1980 erschienener Studie Metaphors We Live By, »dann nicht nur um metaphors we live by, sondern um metaphors we kill and die for – um es mit John Lennon zu sagen.« (81) Nein, John Lennon hat »es« nicht so gesagt! Weder hat er jemals das Wort Metapher in seinen Liedtexten verwendet – obschon er es sicherlich in »Give Peace A Chance« (Ev’rybody’s talking ’bout metaphors…) oder »God« (I don’t believe in metaphors…) hätte tun können – noch hat er von »kill and die for« gesprochen. In »Imagine« heißt es in der zweiten Strophe: »Nothing to kill or die for« – Lennons Konjunktion bietet dem Adressaten eine Alternative; in Heidenreichs Version ist man zum Töten und Sterben verdammt.

Diese kleine musikhistorische Ungenauigkeit macht Heidenreich mit seinen Ausführungen über die deutsche Band Tocotronic wieder wett, der er »eine[] erschreckend gründliche[], disziplinierte[] und perfektionsorientierte[] Maloche am Mythos« (117) attestiert, insofern der Kärrnerarbeit – das Lektorat hätte die »Kernerarbeit« (104) unbedingt korrigieren müssen – der akademischen Philosophie ähnelt.


Felix Heidenreich. Politische Metaphorologie. Hans Blumenberg heute. Metzler/Springer, 2020.