Geburtstag
Kants Schüler und Kants Richter
Bei Hans Blumenberg finde ich die folgende philosophiehistorische Einschätzung:
Der Berliner Arzt Markus Herz war, nach der Qualität des Briefwechsels mit seinem Lehrer zu urteilen, der bedeutendste Schüler Kants.
Herz starb im Januar 1803, gut ein Jahr vor seinem Lehrer. Ich frage mich, ob es heute, an Kants 300. Geburtstag, noch Kant-Schüler gibt – von bedeutenden oder gar dem bedeutendsten zeitgenössischen einmal abgesehen. Hat uns Kant, 220 Jahre nach seinem Tod, immer noch etwas zu sagen oder beizubringen? Kann er uns noch ›belehren‹, oder haben wir uns inzwischen oberlehrerhaft zu seinen Richtern aufgeschwungen?
Martha My Dear
Am heutigen 5. Juni wird die große Klaviervirtuosin Martha Argerich achtzig Jahre alt. Joachim Kaiser (1928-2017) hat in seinem erstmals 1965 erschienenen »Klavier-Michelin« Große Pianisten in unserer Zeit über die damals noch junge Jubilarin geurteilt:
Wenn es Martha Argerich gelingt, ihrem technischen Temperament mit äußerstem Engagement und beherrschtester Anstrengung Ton für Ton, Takt für Takt einen gestaltenden Willen entgegenzusetzen, wenn sie Unruhe und motorische Monotonie beherrschen, in »Kunst« umsetzen kann, dann überwältigt sie. Martha Argerich verfügt nicht nur über ein absolutes Gehör, das sie auch vertrackteste Dissonanzen mühelos bezeichnen läßt, sie hat nicht nur ein immenses Gedächtnis, so daß sie sich kaum Fingersätze zu notieren braucht, nicht nur, wie ihre Freunde versichern, eine erstaunliche parodistische Begabung, die es ihr ermöglicht, ein Stück im Stil beliebig vieler großer Pianisten zu interpretieren, sondern sie kann sich in kurzer Zeit Werke ganz zu eigen machen, die so verschieden sind wie eine Beethoven-Sonate und ein Ravel.
Kaisers Nachfolger bei der Süddeutschen Zeitung, der Musikkritiker Helmut Mauró, beschreibt Martha Argerich in seiner Würdigung mit den Worten:
Wie bei allen herausragenden Musikern erreicht sie eine Intensität, bei der sich die Ordnung der Klänge in etwas begriffslos Sprechendes verwandelt, ohne seine klangliche Sinnlichkeit zu verlieren. Bei Argerich kommt aber noch etwas hinzu: ein charmanter Furor, der auch jene Zuhörer mitreißt, die das Konzert mit geschürzten Lippen und gemessener Emphase verfolgen. Argerich bringt auch Lateinlehrer in Wallung.
Der US-amerikanische Musikproduzent Rick Beato, dessen populäre Serie »What Makes This Song Great?« ich sehr schätze, würdigt die Jahrhundertpianistin Martha Argerich in seiner ganz eigenen, leidenschaftlichen Art und Weise, die sich auch und gerade durch viele Beispiele aus der langen Karriere der genialen Künstlerin auszeichnet. Sehens- und hörenswert!
Martha Argerich: 80 Year Old SUPER VIRTUOSO!! How Is This Even Possible?
Joachim Kaiser. Große Pianisten in unserer Zeit. Mit zahlreichen Notenbeispielen. Erweiterte Taschenbuchausgabe. 5. Aufl., Piper, 2004, p. 237.
Helmut Mauró. »Charmanter Furor.« Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/martha-argerich-80-geburtstag-weltpianistin-klassik-kammermusik-1.5312338.
Forever young, forever different
Anläßlich des morgigen achtzigsten Geburtstags des Singer-Songwriters und Nobelpreisträgers Bob Dylan (symbolträchtig zu Pfingsten) hat der 1972 geborene Journalist und Schriftsteller Edward Docx im Guardian eine chronologisch sortierte Liste mit achtzig Dylan-Songs aus sechs Jahrzehnten erstellt, die Interessierten Zugang zum musikalischen Werk des Jubilars jenseits seiner bekanntesten Songs – etwa »Mr Tambourine Man«, »Knocking on Heaven’s Door« oder »Blowing in the Wind« – bietet. Empfehlens- und hörenswert!
1. Song to Woody (1961)
2. Masters of War (1963)
3. Lonesome Death of Hattie Carrol (1963)
4. With God on Our Side (1963)
5. Restless Farewell (1963)
6. The Times They Are a-Changin’ (1963)
7. To Ramona (1964)
8. My Back Pages (1964)
9. Subterranean Home Sick Blues (1965)
10. Its All-right Ma (I’m Only Bleeding) (1965)
11. Maggie’s Farm (1965)
12. It’s All Over Now, Baby Blue (1965)
13. Like a Rolling Stone (1965)
14. Ballad of a Thin Man (1965)
15. Desolation Row (1965)
16. Positively 4th Street (1965)
17. Visions of Johanna (1965)
18. Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again (1966)
19. I Want You (1966)
20. All Along the Watchtower (1967)
21. I Dreamed I Saw St. Augustine (1967)
22. Tears of Rage (1967)
23. This Wheel’s on Fire (1967)
24. Lay Lady Lay (1969)
25. I Threw it All Away (1969)
26. When I Paint My Masterpiece (1971)
27. Going Going Gone (1973)
28. Forever Young (1973)
29. Dirge (1973)
30. Tangled Up in Blue (1974)
31. Simple Twist of Fate (1974)
32._ Idiot Wind (1974)
33. If You See Her, Say Hello (1974)
34. Shelter from the Storm (1974)
35. Abandoned Love (1974)
36. Hurricane (1975)
37. Isis (1975)
38. One More Cup of Coffee (1975)
39. Changing of the Guards (1978)
40. No Time to Think (1978)
41. Senor (Tales of Yankee Power) (1978)
42. Where Are You Tonight (Journey Through Dark Heat) (1978)
43. Gotta Serve Somebody (1979)
44. Slow Train Coming (1979)
45. When He Returns (1979)
46. The Groom’s Still Waiting at the Altar (1981)
47. Every Grain of Sand (1981)
48. Angelina (1981)
49. Jokerman (1983)
50. I and I (1983)
51. Blind Willie McTell (1983)
52. Tight Connection to My Heart (Has Anybody Seen My Love) (1985)
53. Brownsville Girl (1986)
54. Political World (1989)
55. Everything is Broken (1989)
56. Ring Them Bells (1989)
57. Most of the Time (1989)
58. What Was it You Wanted? (1989)
59. Series of Dreams (1989)
60. Born in Time (1990)
61. Handy Dandy (1990)
62._ Not Dark Yet (1997)
63. Make You Feel My Love (1997)
64. Red River Shore (1997)
65. Things Have Changed (1999)
66. Mississippi (2001)
67. Cross The Green Mountain (2002)
68. Tell Ol’ Bill (2005)
69. Spirit On The Water (2006)
70. When the Deal Goes Down (2006)
71. Workingman’s Blues #2 (2006)
72. Ain’t Talkin’ (2006)
73. Huck’s Tune (2006)
74. Beyond Her Lies Nothin’ (2008)
75. Forgetful Heart (2008)
76. Scarlet Town (2012)
77. My Own Version of You (2020)
78. Mother of Muses (2020)
79. Key West (Philosopher Pirate) (2020)
80. Murder Most Foul (2020)
Edward Docx. »Beyond Mr Tambourine Man: 80 Bob Dylan songs everyone should know.« The Guardian, 22 May 2021, https://www.theguardian.com/music/2021/may/22/beyond-mr-tambourine-man-80-bob-dylan-songs-everyone-should-know.
Isolierter Doppelgeburtstag
Es erscheint nur folgerichtig und symbolisch, daß Sean Lennon, der am heutigen 9. Oktober 45 Jahre alt wird, seinem Vater John, dessen 80. Geburtstag ebenfalls heute zu feiern wäre, nicht nur an selbigen, sondern auch an die ›inselartigen‹ Lebenssituationen der Menschen in der COVID-19-Pandemie erinnert, und zwar mit dem 1970 auf dem Album John Lennon/Plastic Ono Band veröffentlichten Song »Isolation«. Daß der Sohn dabei nicht nur so aussieht wie der Vater, sondern auch so klingt, ist ein berückender Nebeneffekt.
Kristallklarer Klangteppich
»Ich muß sagen«, so Glenn Gould im zweiten Telefongespräch, das er 1974 mit dem amerikanischen Musikpublizisten Jonathan Cott für den Rolling Stone geführt hat, »daß ich damals wie heute darüber entsetzt war, was die Beatles der Popmusik angetan haben.« – Heute vor 50 Jahren, am 26. Mai 1967, erschien im Vereinigten Königreich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und aus Anlaß dieses runden Geburtstages wird – wie sollte es anders sein? – eine ›Deluxe Edition‹ dieses bahnbrechenden Albums veröffentlicht. Doch warum nur braucht die Welt einen Sgt.-Pepper-Stereo-Remix? Der für dieses Projekt verantwortlich zeichnende 47jährige Giles Martin, George Martins Sohn (der sich übrigens mit John Lennon den 9. Oktober als Geburtstag teilt), erklärt in einem hörenswerten Interview mit NPR: »What we do is we go back to the previous generation [the original tapes], so we’re mixing off generations of tape that they never mixed off. […] So it’s almost like a car that comes straight out of a paint shop. The tapes are glistening. What was recorded in ’67 sounds pure and crystal clear — there’s not any hiss or anything. And with this version of Sgt. Pepper that’s what we try to do — we’re trying to get you closer to the music.« Daß die ›Lackierung‹ durchaus hörbar ist, kann ich nur bestätigen; Songs wie »Lucy In The Sky With Diamonds« oder »She’s Leaving Home« heben sich deutlich von ihren bekannten Versionen ab, sie klingen frischer, prononcierter, ja geradezu erschütternd perfekt. Ob Glenn Gould, der von den Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zeit seines Lebens fasziniert war, seine Kritik zumindest abschwächen würde, könnte er diese neue Nähe zur Musik erleben, wie sie nun im 50 Jahre jungen Sgt. Pepper zum Ausdruck kommt?
Bob Boilen. »Why Remix ‘Sgt. Pepper’s’? Giles Martin, The Man Behind The Project, Explains.« NPR, May 23, 2017, http://www.npr.org/sections/allsongs/2017/05/23/528678711/why-remix-sgt-peppers-giles-martin-the-man-behind-the-project-explains.
Jonathan Cott. Nahaufnahme. Telefongespräche mit Glenn Gould. 4. Aufl., Alexander Verlag Berlin, 2007, p. 96.
Dialektik der Aufklärung
Im letzten Jahr, am 11. Mai 2012, erfuhr ich auf einer Geburtstagsfeier in Münster Erstaunliches: Einer der Gäste kam auf mich zu, als im Hintergrund Otis Reddings im Januar 1968 postum veröffentlichter Klassiker »(Sittin’ On) The Dock of the Bay« lief. Der mir Unbekannte fragte mich, ob mir je aufgefallen sei, daß es in dem Song eine Stelle gebe, an der man hören könne, wie Otis Redding ein Bullauge putzt (im unten angefügten Video bei 0:54 und bei 1:50). Ich schaute ihn irritiert an, lächelte und rechnete diese Frage der offensichtlich schon alkoholgetrübten Wahrnehmung des Partybesuchers an. Doch er ließ nicht locker, spielte mir die Stelle wieder und wieder vor, äußerte wieder und wieder: »Da! Genau da poliert Otis das Bullauge!«, bis ich es tatsächlich hörte! Am nächsten Tag nahm ich mir den Song in ruhiger Atmosphäre erneut vor: Das Poliergeräusch entpuppte sich schnell als Möwenschreie. Ich war ein wenig enttäuscht. Doch so wie ich von Anfang an im Beatles-Song »Tomorrow Never Knows« aus dem verzerrten Lachen Paul McCartneys und den zerschnipselten Gitarren-Loops Möwen über Liverpool schweben sehe, sehe ich bei »(Sittin’ On) The Dock of the Bay« seit diesem Abend Otis Redding mit einem Putzlappen am Bullauge stehen.
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Glenngenial
Neues Altes von Sir Nigel Twitt-Thornwaite und Dr. Karlheinz Klopweisser. Auf zehn DVDs hat Sony nun »The Complete CBC Broadcasts 1954-1977« herausgebracht, Fernseh-Interviews mit Glenn Gould. Im Gould-Jahr 2012 (80. Geburtstag und zugleich 30. Todestag) dürfte diese Box so manch Überraschendes, Lustiges und »Glenngeniales« (ein Wort Thomas Bernhards aus seinem Roman Der Untergeher) für den Zuschauer und Zuhörer bereithalten. (Aktueller Preis: € 56,99)
Wolfram Goertz. »Klavierkunst in Schlachtschiffgrau.« Die Zeit, 19. Jan. 2012, https://www.zeit.de/2012/04/D-DVD-Glenn-Gold.
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Näher, mein Bob, zu dir
Plötzlich stoppte das Techno-Gedudel: In den späten neunziger Jahren hörten die Schüler Kristy Husz und Nico Schulte-Ebbert einen Bob-Dylan-Song im Radio, der ihr Leben verändern sollte. Zum 70. Geburtstag der Folk-Legende erinnern sich die beiden an ihre ersten Jahre mit »His Bobness« - und ein verwirrendes Konzerterlebnis. [Weiterlesen auf SPIEGEL ONLINE.]