Bakteriokratie

Daß Computer immer mehr Texte zu schreiben in der Lage sind, daß sie schon heute in beträchtlichem Umfang für Sport-, Finanz- und Wetterberichte eingesetzt werden – »[b]is 2020 will die AP 80 Prozent ihres Nachrichtenangebots automatisieren« –, daß diese Texte von von Menschen verfaßten kaum noch zu unterscheiden sind, daß sich die Qualität dieser künstlichen Texte permanent verbessert, daß diese Algorithmokratie auch in Bereiche vordringt, in denen der kreative, inspirierte, musengeküßte Mensch bisher die Krone der Schöpfung repräsentierte (etwa im epischen oder lyrischen Bereich) – all das scheint als Unausweichlichkeit einer technologischen Entwicklung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen und unter dem Schlagwort ›Selbstentmündigung‹ ad acta gelegt zu werden. Eine andere Herrschaftsform, die wesentlich älter, ja geradezu ursprünglich ist, erscheint mir da faszinierender und in ihren Auswirkungen geradezu universell: die Bakteriokratie. Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, daß die Mikroben, die wir in und mit uns tragen, die Mikroben, aufgrund derer wir einem potentiellen Partner attraktiv erscheinen, auch direkt unseren Fortpflanzungserfolg beeinflussen. Dachten wir noch, nach dem Tode Gottes endlich wieder selbst im Zentrum allen Seins auf einem gigantischen Massagestuhl zu sitzen, machen uns winzige Symbionten diesen Status streitig und lassen uns als fremdbestimmte biochemische Masse erscheinen. Der Wissenschaftsjournalist Moises Velasquez-Manoff denkt diese Marginalisierung in extremo, indem er zutiefst Menschliches wie Liebe, Sehnsucht oder Lyrik als ein Nebenprodukt mikrobiotischer Prozesse darstellt: »So love, desire, the cheesy rom-coms, the sappy ballads, the Shakespearean sonnets — all of them may depend on that teeming ecosystem of microbes within.« Es scheint, daß wir erneut nicht Herr im eigenen Haus sind und daß wir diese Position auch nie einzunehmen in der Lage sein werden.


Adrian Lobe. »Prosa als Programm.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12. Feb. 2017, p. 47.

Moises Velasquez-Manoff. »Microbes, a Love Story.« The New York Times, Feb., 10, 2017, https://www.nytimes.com/2017/02/10/opinion/sunday/microbes-a-love-story.html.


Unendliche Weiten

Freeman Dyson geht mit Konstantin Ziolkowski darin konform, daß die Zukunft der Weltraumexpeditionen weniger ein Problem der Raumfahrttechnik sei, sondern daß sie vielmehr auf dem Gebiet der Biotechnologie stattfinden werde. Dahinter steckt der Anfang der 1940er Jahre geprägte und durch Star Trek populär gewordene Begriff des Terraformings: die Ur- und Lebbarmachung fremder und eigentlich lebensfeindlicher Planeten. Nachdem er bereits auf der Erde gravierend geschrumpft ist, dürfte der Existenzraum Gottes qua biotechnologischer Fortschritte des Menschen auch im Universum zur Nische verkümmern.


Freeman Dyson. »The Green Universe: A Vision.« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 4-6.


Autodafé

Daß Diderots Encyclopédie noch ein ganz anderes Licht in die so finstere, unaufgeklärte Welt brachte, belegt die Panikreaktion Papst Klemens XII.: Er setzte das Werk auf den Index, »und seine katholischen Eigentümer wurden aufgefordert, es durch einen Priester verbrennen zu lassen. Andernfalls würden sie exkommuniziert werden.« Der Mann Gottes nimmt dadurch die Rolle des gegenaufklärerischen Pyromanen ein: Dunkelheit und Kälte vermittelst Licht und Flammen. Im Buch der 24 Philosophen, einem vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammenden theosophischen Dokument, heißt es: »Gott ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht.«


Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 151.

Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Lateinisch-Deutsch. Erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch. Beck, 2011, p. 67.


Das digitale Böse. Gedanken zu Sascha Lobos »Die digitale Kränkung des Menschen«

Sascha Lobo fühlt sich in seinem am 12. Januar 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichten Artikel »Die digitale Kränkung des Menschen« zutiefst getäuscht und nicht minder enttäuscht; die Ausmaße der geheimdienstlichen Spähaktionen habe er unterschätzt. Er spüre nach Snowdens Aufklärung Kränkung, Verstörung, hilflose Wut. Das wahre Gesicht der digitalen Welt habe sich nunmehr gezeigt, die Maske sei gefallen und also die Wahrheit ans Licht gekommen. Dieses Wissen, diese Wahrheit scheint zu kränken.

Den Ausgangspunkt der Loboschen Reflexionen bilden die von Sigmund Freud im Jahre 1917 identifizierten drei Kränkungen der Menschheit, namentlich die kosmologische (der Mensch ist nicht länger Mittelpunkt des Universums), die biologische (der Mensch stammt vom Affen ab) sowie die psychologische (das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus). Neben diversen anderen Kränkungen (etwa der ökonomischen oder der neurobiologischen), die nach Freud geprägt worden sind, will Lobo nun eine vierte Kränkung für sich beanspruchen: »die digitale Kränkung der Menschheit, der größte Irrtum des Netzzeitalters«.

Eine Kränkung ist eine unangenehme, krankmachende Empfindung; sie schwächt, plagt, beleidigt, quält, verletzt, beschädigt. Bereits die Freudsche Verwendung des Begriffs mutet eigenartig, ja übertrieben an: Raste tatsächlich ein Kränkungstsunami um die Welt, nachdem Kopernikus, Darwin oder Freud dem Menschen eine Nebenrolle im Existenzschauspiel zugewiesen hatten? Und fühlte sich der Otto-Normal-Internet-User nach den Snowdenschen Enthüllungen tatsächlich gekränkt? Lobo relativiert: »Die tiefste Kränkung aber hat eine Gruppe erfahren, der ich angehöre: die Netzgemeinde, die Hobby-Lobby für das freie und offene Internet, vielleicht dreißigtausend Leute in Deutschland.«

Neben dieser »Hobby-Lobby« sieht Lobo auch die Politik und die Wirtschaft als gekränkt an. Lieschen Müller dürfte allerdings nicht mehr als Überraschung, vielleicht Empörung, bestenfalls Desillusionierung, also eine durchaus positive, aufrüttelnde und das eigene digitale Handeln reflektierende Ent-täuschung verspüren – wenn überhaupt, denn Lieschen Müller hat ja nichts zu verbergen, und daß sie nicht der Mittelpunkt der Welt ist, stört sie in der Regel auch nicht sonderlich. Ja, »[d]ie fast vollständige Durchdringung der digitalen Sphäre durch Spähapparate aber hat den famosen Jahrtausendmarkt der Möglichkeiten in ein Spielfeld von Gnaden der NSA verwandelt«, so Lobo, doch die »Chockwirkung« (Walter Benjamin), die die Internet-Aura zerstört, äußerst sich lediglich als Minimalausschlag des menschheitsgeschichtlichen Seismographen.

Oder doch nicht? Ist diese vierte Kränkung der Menschheit groß genug, einschneidend genug, bedeutend genug, um sie als ein drittes Beben nach 1755 und 1945 zu bezeichnen? Muß dem natürlichen Bösen und dem moralischen Bösen, das in Lissabon und Auschwitz offenbar wurde und dem Susan Neiman 2002 eine lesenswerte »andere Geschichte der Philosophie« gewidmet hat, das digitale Böse von Fort Meade beigestellt werden? Darf man überhaupt eine Naturkatastrophe mit den überdimensionalen Greueltaten des Zweiten Weltkrieges und den abstrakten Algorithmen eines globalen Panoptikums vergleichen?

Lobo wagt einen kleineren Schritt: »Und dann diese Ironie, nein, diese Verhöhnung des Schicksals: Edward Snowden, Held des Internets, bringt die Botschaft, dass mit dem geliebten Internet die gesamte Welt überwacht wird. Diese Kränkung ist so umfassend, als sei die Heimat Internet über Nacht in ein digitales Seveso verwandelt. Wütende Proteste gegen diese Vergiftung und ihre Urheber, natürlich.« Das Dioxin-Unglück des Jahres 1976, das als eines der größten europäischen Umweltkatastrophen gilt, spiegelt sich in der Kontaminierung des Internets durch PRISM und Tempora.

Doch vielleicht haben Lobo und Freud mit ihrem Gekränkt-Sein recht. Vielleicht ist diese vierte Kränkung des Menschen ja vielmehr dessen erste, da sie den Menschen, das Individuum, den Einzelnen wirklich betrifft, zumindest ihn betreffen kann: Die Welt ist nicht länger Mittelpunkt des Universums, der Mensch ist nicht länger Mittelpunkt der Welt, 2013 scheint er zurückzukehren in eben dieses schon vor Jahrhunderten verlorengegangene Zentrum. Der Mensch steht wieder im Mittelpunkt; endlich, möchte man sagen. Doch er steht im Mittelpunkt einer Überwachungs-, Kontroll- und Bestrafungsmacht, die Gottes Leerstelle einzunehmen scheint, nicht als metaphysisches Wesen, sondern als konkrete Institutionen mit metaphysisch anmutenden, unkontrollierbaren, verselbständigten, hochkomplexen Spionagemechanismen.

Die menschliche Selbstdegradierung als Selbstdezentrierung ist einer digitalen Fremdfokussierung gewichen. Das Leiden, das Unwohlsein, ja auch die Kränkung ist in beiden Positionen vorhanden. Gott ist tot, der Mensch ist tot, das Ich ist tot. Die vierte von Lobo beschriebene und durchlittene Kränkung resultiert aus der Reanimation Gottes, um die besten aller möglichen Welten zu überwachen, des Menschen, um ihn in der analogen und des Ichs, um es in der digitalen Welt faßbar, auswertbar, kontrollierbar zu machen. Die digitale Zufriedenheit ist verlorengegangen. Nun fühlt sich die »Hobby-Lobby« enttäuscht, geschockt und gekränkt, nicht weil wir an die Peripherie gedrängt, sondern vielmehr weil wir zurück ins Zentrum gezogen worden sind.

Wie trösten wir uns nach diesen Enttäuschungen, Schocks, Kränkungen? Sigmund Freud hat in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« drei Quellen genannt, aus denen Leid entstehe: »die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln«. Natur, Körper und soziale Beziehungen – diese drei Größen müssen mit den digitalen Beziehungen, den globalen Vernetzungen, der Schöpfung einer zweiten Welt ergänzt werden. Lobo rät: »Den Irrtum eingestehen, den Schmerz der Kränkung aushalten, denn dieser Tiefpunkt kann nicht, darf nicht das Ende sein. Das Internet ist kaputt, die Idee der digitalen Vernetzung ist es nicht. Die Indianer mussten irgendwann begreifen, dass die von den Eroberern geschenkten schönen Textilien verseucht waren mit Krankheitserregern. Das hat das Konzept Kleidung nicht schlechter gemacht.«

Kleidung – Gewebe – Text – Hypertext. Komplexe Vernetzungen wohin man blickt! Unmögliche Voraussagen. Unkontrollierbare Prozesse. Verklärte Aufklärung. Marco Wehr forderte am 7. Januar 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift »Die Kompetenzillusion« einen »mathematical turn« für das 21. Jahrhundert. Wie wertvoll sind Prognosen? Wie genau können sie sein? Lobos Kränkung rührt gerade auch von der eigenen Expertenblindheit her: »Das Internet ist nicht das, wofür ich es so lange gehalten habe«, schreibt er gleich zu Beginn seines Artikels mit spürbarer Resignation. Wir müssen mit der Kränkung des Wieder-im-Zentrum-Stehens umzugehen lernen, ohnmächtig vielleicht, aber keineswegs ohne Hoffnung.


Free Will

Is free will a matter of definition? Is it an illusion, a fiction? How would ›the death of free will‹ change our world, our moral and legal concepts? How can inductive – or deductive, or perhaps even ›abductive‹ – inferring explain the way free will is working? Saying free will is an illusion is »like inferring from discoveries in organic chemistry that life is an illusion just because living organisms are made up of non-living stuff«, Eddy Nahmias writes in his discussion of that ›big issue‹. He argues that »neuroscience does not kill free will«, perhaps because it’s not (yet) able to do so: Against the background of Charles Sanders Peirce’s ›Theory of Cognition‹ and its so called »Four Incapacities Claimed for Man«, human beings have »no conception of the absolutely incognizable«, and I think free will is such an incognizable entity. Would the death of free will be the death of God?

Eddy Nahmias. »Is Neuroscience the Death of Free Will?« The New York Times, Nov. 13, 2011, https://opinionator.blogs.nytimes.com/2011/11/13/is-neuroscience-the-death-of-free-will/.

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Into the Abyss

Werner Herzog’s documentary film Into the Abyss (in selected cities in the U.S. from this day, in Europe on March 23, 2012) shows human beings as monsters and monsters as human beings. It deals with God (we all know the subtext: »Thou shalt not kill«), with the manifold aspects of violence, and with death penalty or the question of »live and let die«. It’s possible Herzog had Nietzsche’s aphorism 146 from Jenseits von Gut und Böse in his mind before or while filming in Texas: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« That is: »He who fights with monsters should be careful lest he thereby become a monster. And if thou gaze long into an abyss, the abyss will also gaze into thee.«

Lorrie Moore. »Werner Herzog on Death Row.« The New York Review of Books, Nov. 10, 2011, https://www.nybooks.com/daily/2011/11/10/werner-herzog-death-row/.

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