Interview
Kristallklarer Klangteppich
»Ich muß sagen«, so Glenn Gould im zweiten Telefongespräch, das er 1974 mit dem amerikanischen Musikpublizisten Jonathan Cott für den Rolling Stone geführt hat, »daß ich damals wie heute darüber entsetzt war, was die Beatles der Popmusik angetan haben.« – Heute vor 50 Jahren, am 26. Mai 1967, erschien im Vereinigten Königreich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und aus Anlaß dieses runden Geburtstages wird – wie sollte es anders sein? – eine ›Deluxe Edition‹ dieses bahnbrechenden Albums veröffentlicht. Doch warum nur braucht die Welt einen Sgt.-Pepper-Stereo-Remix? Der für dieses Projekt verantwortlich zeichnende 47jährige Giles Martin, George Martins Sohn (der sich übrigens mit John Lennon den 9. Oktober als Geburtstag teilt), erklärt in einem hörenswerten Interview mit NPR: »What we do is we go back to the previous generation [the original tapes], so we’re mixing off generations of tape that they never mixed off. […] So it’s almost like a car that comes straight out of a paint shop. The tapes are glistening. What was recorded in ’67 sounds pure and crystal clear — there’s not any hiss or anything. And with this version of Sgt. Pepper that’s what we try to do — we’re trying to get you closer to the music.« Daß die ›Lackierung‹ durchaus hörbar ist, kann ich nur bestätigen; Songs wie »Lucy In The Sky With Diamonds« oder »She’s Leaving Home« heben sich deutlich von ihren bekannten Versionen ab, sie klingen frischer, prononcierter, ja geradezu erschütternd perfekt. Ob Glenn Gould, der von den Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zeit seines Lebens fasziniert war, seine Kritik zumindest abschwächen würde, könnte er diese neue Nähe zur Musik erleben, wie sie nun im 50 Jahre jungen Sgt. Pepper zum Ausdruck kommt?
Bob Boilen. »Why Remix ‘Sgt. Pepper’s’? Giles Martin, The Man Behind The Project, Explains.« NPR, May 23, 2017, http://www.npr.org/sections/allsongs/2017/05/23/528678711/why-remix-sgt-peppers-giles-martin-the-man-behind-the-project-explains.
Jonathan Cott. Nahaufnahme. Telefongespräche mit Glenn Gould. 4. Aufl., Alexander Verlag Berlin, 2007, p. 96.
Übersetzung
»Damn it – don’t translate what I wrote, translate what I meant to write.« Ein lesenswertes Interview mit der Übersetzerin Eva Hesse über Sprache, Begegnungen mit Ezra Pound und Katzen als Lehrer: »Schließlich gab es auch noch meinen Kater Pussy, der ist auf vielen berühmten Leuten gesessen. Er hat sich breitgemacht wie ein Fladen, von ihm habe ich gelernt, was ›besitzergreifend‹ heißt.«
»Warum kommen Sie nicht von Pound los? Im Gespräch mit Eva Hesse.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Aug. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/im-gespraech-mit-eva-hesse-warum-kommen-sie-nicht-von-pound-los-11842691.html.
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Fragte er, dachte ich: Über die Schwierigkeiten, Spuren der Wahrheit zu lesen
Interviews mit Thomas Bernhard sind für Leser und – denkt man etwa an die von Krista Fleischmann gefilmten Gespräche Monologe auf Mallorca oder Die Ursache bin ich selbst – für Zuschauer besonders amüsant und sorgen für Kurzweil, setzt sich doch in ihnen und durch sie einer der sprachmächtigsten und bedeutendsten Autoren deutscher Sprache so gekonnt, verschmitzt und sympathisch in Szene, als würden wir ihn schon immer zu unseren besten Freunden, wenigstens aber zu unseren vertrauten Bekannten rechnen. Er ist der »Übertreibungskünstler«, der ohne mit der Wimper zu zucken über Gott und die Welt grantelt und schimpft, gleichzeitig mit Anekdoten und Gedankenspielen sein lustiges Potential zur Schau stellt.
Doch wer waren die Menschen, die dem zurückgezogen lebenden Dichter so nah kamen, denen er sich so offen präsentierte? Nun, viele waren es nicht. Es gab nur eine Handvoll Auserkorener, die sich mit Bernhard entweder in privater Atmosphäre auf seinem Ohlsdorfer Hof trafen oder ihn eher öffentlich im Wiener Café Bräunerhof befragten. Viele dieser Interviews sind zu Beginn des Jahres – teilweise erstmals, teilweise als Wiederabdruck – zusammen mit Reden, Leserbriefen und Feuilletons in Der Wahrheit auf der Spur im Suhrkamp-Verlag erschienen.
Diese Wahrheit, der der Leser auf der Spur ist, verstreut sich allerdings hin und wieder wie in den indirekten, zitathaften Berichten Bernhardscher Erzähler. Es gibt Wiederholungen, Variationen, Modulationen. Hat man schon Mühe, die feinen Nuancen zwischen Ironie und Ernst in den Äußerungen des österreichischen Schriftstellers herauszuhören, so stellen sich die Interviewer oder die diese Interviews Herausgebenden in beste Bernhard-Tradition und verwischen die Spuren zur Wahrheit.
In Der Wahrheit auf der Spur stößt man auf den Seiten 244 bis 264 auf ein Interview, das Bernhard am 15. Juli 1986 mit Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof in Wien geführt hat (so im Anhang nachzulesen auf Seite 339). Nun kommen dem im Bernhard-Kosmos Bewanderten Passagen daraus merkwürdig bekannt vor. In Kurt Hofmanns Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard (dtv, 4. Aufl. 2004) äußert sich der Schriftsteller auf den Seiten 70-71 wie folgt: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und jeder Weg ist richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt fünf Milliarden Menschen und fünf Milliarden richtige Wege.« In Der Wahrheit auf der Spur sagt Bernhard: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und für denjenigen ist jeder Weg richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt viereinhalb Milliarden Menschen und viereinhalb Milliarden richtige Wege.« (Seite 257) Im Anhang von Der Wahrheit auf der Spur erfährt man über die Publikationsgeschichte dieses Interviews, daß es zunächst 1987 in französischer Übersetzung erschienen ist, der deutsche Erstdruck erst im Herbst 2006 erfolgte (Seite 339).
Wie kann es sein, so könnte man als wahrheitssuchender Spurenleser fragen, daß sich die Zahl der Menschen und damit auch der richtigen Wege um eine halbe Milliarde vergrößert hat? Ist etwa das Bevölkerungswachstum stillschweigend in das Interview eingebaut worden? Der Hinweis auf das französische »Original« ist hierbei wenig hilfreich: »cinq milliards« versus »quatre et demi milliards« sind klar unterscheidbare Ausdrücke und sollten dem Übersetzer wenig Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus gibt es eine weitere Stolperfalle auf der Spur zur Wahrheit: Ist dieses Interview nun von Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof oder aber von Kurt Hofmann »in Ohlsdorf und Ottnang« (so steht es in der Vorbemerkung seines Buches auf Seite 7) geführt worden?
Die Antwort ist eine eher profane, auch wenn der Weg zur selbigen große Mühe bereitet hat, denn das dem Wahrheitssucher entgegenschlagende Schweigen diverser Personen und Institutionen ist das größte. Dennoch konnte es zu einem mehr oder minder angenehmen »Rauschen der Sprache« durchbrochen werden. Werner Wögerbauer, derzeit Professor für deutsche Literatur in Nantes, brachte Ordnung in das Stimmengewirr: Die deutsche Erstveröffentlichung dieses seines (!) Interviews erschien im Herbst 2006 in der Zeitschrift Kultur & Gespenster. Darin ist eine Nachbemerkung Wögerbauers zu finden, die zuerst 2002 im französischen Neuabdruck des Interviews publiziert worden ist. Wögerbauer schreibt dort auf S. 189: »Ich erinnere mich noch gut der plötzlichen Aufmerksamkeit eines Richters nebst Gerichtsschreiberin während einer Anhörung im Wiener Handelsgericht, wo ich 1990 einen taktlosen Verleger [des Löcker-Verlages] wegen Plagiats und anderer Hintergehungen belangte. (Er hatte sich des Interviewtextes – des ›meinigen‹ – bedient, um ein Buch mit zerstückelten Interviews anzureichern, das kurz nach Bernhards Tod veröffentlicht wurde.)«
Wögerbauer meint hier natürlich besagtes Kurt-Hofmann-Buch. Warum nun dtv diese Sammlung vor diesem fragwürdigen Hintergrund immer noch herausgibt – denn nach dem Vergleich durfte der Band zwar vom Löcker-Verlag nicht wieder aufgelegt werden, bereits geschlossene Lizenzverträge waren davon jedoch nicht berührt (wie Wögerbauer per E-Mail mitteilte) –, kann auch Wögerbauer nicht beantworten. So liegt nun also das Plagiat nicht beim Suhrkamp-Verlag und dessen Neuerscheinung Der Wahrheit auf der Spur, sondern vielmehr (vielleicht eher indirekt) bei dtv, der die Rechte vom Löcker-Verlag erworben hatte und noch immer diese höchst fragwürdige Kompilation Gespräche mit Thomas Bernhard herausgibt.
So hat Kurt Hofmann die Weltbevölkerung einfach um eine halbe Milliarde Menschen erhöht, weil sie eben in den Jahren, die seit dem originalen Wögerbauer-Interview vergangen waren, schlicht und einfach um eine halbe Milliarde gewachsen ist! Er hat Bernhard seine zeitlich angepaßten und vermeintlich korrigierten Worte in den Mund gelegt. (Konsequenterweise sollte es dann in der 5. Auflage auch »sieben Milliarden« heißen!) Natürlich sind derartige Abweichungen und Abwandlungen nichts Welterschütterndes; Bernhard selbst hätte sich wohl bestätigt gefühlt mit seinem Bonmot vom »Wahrheitsgehalt der Lüge«, welches in seiner als autobiographisch apostrophierten Schrift Der Keller. Eine Entziehung fällt. Vielleicht zeigen diese Stolpersteine, die verstreut auf den Spuren zur Wahrheit liegen und die einen zum Nach- und Überdenken, zum Gehen in die »entgegengesetzte Richtung« veranlassen, daß selbst die Interviews ihren Beitrag zur Stilisierung Bernhards als auch zur Konstituierung mehrerer Spuren und mehrerer Wahrheiten leisten.