Ironie
Ich nicht
In Franziska Augsteins Nachruf auf den am 17. Dezember im Alter von 91 Jahren verstorbenen Verleger Klaus Wagenbach heißt es:
Und noch eine zweite Eigenschaft ist es, neben der Ironie, die ein unabhängiger Verleger benötigt: Eigensinn. Der wurde dem kleinen Klaus von seinem Großvater beispielhaft geboten. Der hatte über seinem Hauseingang die Worte anbringen lassen: »Etsi omnes ego non« – Und wenn alle, ich nicht. Die Nazis fühlten sich angesprochen, und so erging der Befehl, der Großvater habe die Schrift zu entfernen. Das tat er dann auch. Aber fast wie Fontanes Ribbeck hatte er »vorausahnend schon« Messinglettern gewählt: Sein Bekenntnis sollte wären. Als Maurerpolier hatte er natürlich gewusst, dass Messing auf Putz seinen Schatten hinterlässt: Das Messing verschwand, die Schrift blieb lesbar.
Nachdem Jesus die Verleugnung durch Petrus vorhergesagt hatte, beteuerte dieser: »Und wenn sie alle Ärgernis nehmen, so doch ich nicht!« (Mk 14,29) Anders ausgedrückt: Auch wenn alle anderen so handeln sollten, ich werde es nicht tun.
Klaus Wagenbachs Unterschrift (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Dezember 2021)
Im Mai 2006 – meine Magisterarbeit über Kafkas labyrinthische Topographie wartete auf ein finales Korrekturlesen – las Klaus Wagenbach aus der Neuausgabe seiner Kafka-Biographie in der Münsteraner Buchhandlung Poertgen-Herder. Mein Exemplar erhielt wie unzählige andere die datierte Signatur des eigensinnigen Ironikers. Er hat einen großen Schatten hinterlassen.
Franziska Augstein. »Seine Neugier auf eine großzügige Welt. Klaus Wagenbach gestorben.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-tod-des-verlegers-klaus-wagenbach-17693341.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2.
Selbstkasteiungen eines Kritikers
Hinsichtlich fehlender Ironie und überbordendem »Identitätskitsch« in der heutigen Literatur, ersinnt der Klagenfurter Juror Philipp Tingler in einem Beitrag für die NZZ zwei Arten der Selbstkasteiung, die seinen Schmerz ob dieses Mangels und jener Entwicklung weniger gravierend erscheinen lassen sollen.
Die äußerliche Selbstkasteiung:
Seit zwei Jahren sitze ich in der Jury des Bachmann-Preises, und manchmal möchte ich mir in Klagenfurt Feuerquallen auf die Augen drücken.
Die innerliche Selbstkasteiung:
Lieber konsumiere ich undatierten Eiersalat aus dem Verkaufsautomaten in der Kantine des ORF Kärnten.
Man leidet mit ihm und ist versucht, sich seinen radikalen Experimenten anzuschließen, gäbe es nicht einen weniger leidvollen Ausweg, zumindest für den Hobbyleser und Laienkritiker: sich derartiger Literatur durch vollkommene Mißachtung zu entziehen, sie in keinster Weise zur Kenntnis zu nehmen.
Philipp Tingler. »Die richtige Moral macht schlechte Literatur nicht besser – und den Kritiker erst recht nicht.« Neue Zürcher Zeitung, 05.07.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/philipp-tingler-ueber-erfahrungen-am-klagenfurter-wettlesen-ld.1632823.