Johann Sebastian Bach
Naturtöne
Mathew Lyons beginnt seine Rezension zweier Neuerscheinungen über die Ursprünge und die Universalität der Musik mit einer beeindruckenden Passage:
Der erste Ton, von dem bekannt ist, daß er auf der Erde erklang, war ein E. Er wurde vor etwa 165 Millionen Jahren von einer Katydide (einer Art Grille) erzeugt, die ihre Flügel aneinanderrieb, was Wissenschaftler aus den Überresten eines dieser Insekten, die in Bernstein konserviert wurden, ableiteten. Betrachten Sie auch das Liebesleben der Stechmücke. Wenn ein männlicher Moskito eine Partnerin anlocken möchte, surrt er mit seinen Flügeln in einer Frequenz von 600 Hz, was der Tonhöhe von D entspricht. Die normale Tonhöhe der Flügel des Weibchens liegt bei 400 Hz, also G. Unmittelbar vor dem Sex harmonieren Männchen und Weibchen jedoch bei 1200 Hz, was, wie Michael Spitzer in seinem außergewöhnlichen neuen Buch The Musical Human feststellt, »eine ekstatische Oktave über dem D des Männchens« liegt. »Alles, was wir singen«, so Spitzer weiter, »ist nur eine Fußnote dazu.«
Vor diesem paläo-musikhistorischen Hintergrund werde ich Bachs ›Fußnote‹ zum bevorstehenden Osterfest, seine Matthäuspassion, mit anderen Ohren hören.
Mathew Lyons. »Symphony of a Thousand Millennia.« Rezension zu The Musical Human: A History of Life on Earth, von Michael Spitzer, sowie The Life of Music: New Adventures in the Western Classical Tradition, von Nicholas Kenyon. Literary Review, April 2021, https://literaryreview.co.uk/symphony-of-a-thousand-millennia.
Aufgeschobenes Ende
Der Zeitpunkt ist nah, wo du alles vergessen hast, und nahe der Zeitpunkt, wo alle dich vergessen haben. (Marc Aurel. Selbstbetrachtungen VII,21)
In den letzten Jahren hat sich eine gewisse Privattradition etabliert: An jedem Karfreitag nehme ich mir gut zweieinhalb Stunden Zeit, um mir Johann Sebastian Bachs am 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführte Matthäuspassion(BWV 244) anzuhören, und zwar die 1989 veröffentlichte Interpretation der English Baroque Soloists, des Monteverdi Choir sowie des London Oratory Junior Choir unter dem Dirigat John Eliot Gardiners.
In diesem Jahr werde ich von meiner musikalischen Tradition abweichen, denn der Zufall will es, daß sich am heutigen Karfreitag, an dem Christen in aller Welt des Todes Jesu Christi gedenken, die offizielle Trennung der Beatles zum fünfzigsten Male jährt. Damals, am 10. April 1970, genau acht Jahre nach dem Tod des »fünften Beatle« Stuart Sutcliffe, lag Ostern schon zwei Wochen zurück; die Auferstehung hatte bereits stattgefunden; das Weiter- und Nachleben begann.
Bachs Oratorium weicht Abbey Road, dem letzten Album, das die Beatles gemeinsam aufgenommen haben. Dem voraus ging ein schleichendes Zerbrechen der Liverpooler Band, ein langsames Auseinanderdriften ihrer Mitglieder John, Paul, George und Ringo, was schon im Frühjahr 1967 während der Aufnahmen zu Sgt. Pepper spür- und schließlich mit dem Engagement Allen Kleins als Manager und John Lennons interner Äußerung im September 1969, die Gruppe zu verlassen, greifbar wurde. Paul McCartney nutzte schließlich sein erstes Solo-Album, um das Ende der Beatles mit einem semi-offiziellen Statement öffentlich zu machen.
Titelseite des Daily Mirror vom 10. April 1970, via Beatles Bible
Unsterblichkeit steht nicht jedem; die meisten werden von ihr überfordert. Den Beatles ist längst immortalitas gewiß; ihr Ende wird aufgeschoben. Denn heute, fünfzig Jahre nach diesem musikhistorischen Erdbeben, sind die Beatles präsenter und lebendiger denn je: Bei Streaming-Diensten kann ihre Musik rund um die Uhr und überall gehört werden; die offiziellen Social-Media-Kanäle versorgen alte und neue Fans mit bekanntem und unbekanntem Material; auf Youtube finden sich unzählige Stunden Filmmaterial, Interviews, Dokumentationen etc. pp. Ihre Musik und auch ihre Leben sind fest im kulturellen Gedächtnis verwurzelt, so daß man jederzeit eine Zeile zitieren, eine Melodie summen oder eine Anekdote erzählen kann.
Eine dieser Anekdoten ist von Paul McCartney in der wuchtigen, im Jahre 2000 erschienenen Anthology überliefert: Als die Beatles im Frühjahr 1968 für mehrere Wochen im nordindischen Rishikesh waren, um Kursen in Transzendentaler Meditation im Ashram des Maharishi Mahesh Yogi beizuwohnen, ereignete sich das Folgende: »Maharishi hielt sehr viel von moderner Technik«, so McCartney, »weil er meinte, dass sie ihm helfen würde, auf der ganzen Welt bekannt zu werden und seine Botschaft schneller zu verbreiten. Einmal musste er nach New-Delhi, und da kam ein Hubschrauber rüber zum Camp und landete unten am Fluss. Wir sind alle in unseren Kaftanen runtergestiefelt, und dann hieß es: ›Einer von euch kann einen kurzen Flug mit Maharishi machen. Wer soll’s sein?‹ Natürlich war es John. Hinterher habe ich ihn gefragt: ›Warum warst du so scharf drauf, mit Maharishi zu fliegen?‹ – ›Ehrlich gesagt‹‚ meinte er, ›dachte ich, er würde mir vielleicht die ANTWORT stecken.‹ Das war typisch John!«
Vielleicht ist ja genau dies die einzig wahre Antwort auf die Frage, warum wir so fasziniert sind von den Beatles: Weil wir hoffen, sie würden es uns verraten.
Pathologie des Begriffs
Damian Thompson vertritt in seinem mit vielen Beispielen gespickten Artikel über den Alkoholkonsum großer Komponisten die Ansicht, daß man den Begriff alcoholism nicht auf historische Personen anwenden könne, da er einerseits erst 1849 geprägt, andererseits nicht hinreichend definiert worden sei. Diese beinahe radikalkonstruktivistische Sicht mag bei der sicherlich dürftigen und teils auf Anekdoten beruhenden Quellenlage durchaus nachvollziehbar sein. Von Bach etwa sei nur bekannt, daß dieser im Jahre 1713 während einer zweiwöchigen Reise nach Halle eine Bierrechnung über acht Gallonen (plus jede Menge Brandy) hätte begleichen müssen; daraus Rückschlüsse auf Alkoholismus zu ziehen, wäre wahrlich absurd! Wer weiß, wie sich die Semantik entwickeln wird? Ob zukünftige Forscher Ernest Hemingway, Dylan Thomas oder Charles Bukowksi noch als Alkoholiker bezeichnen werden?
Damian Thompson. »A surprising number of great composers were fond of the bottle – but can you hear it?« The Spectator, Dec., 10, 2016, http://www.spectator.co.uk/2016/12/a-surprising-number-of-great-composers-were-fond-of-the-bottle-but-can-you-hear-it/.
An immortal quintessence of dust. Vor 40 Jahren starb Nick Drake
»Lyrisch sein«, so schreibt der junge E. M. Cioran in seinem 1934 erschienenen Buch Auf den Gipfeln der Verzweiflung [Pe culmile disperării], »bedeutet, nicht in sich selbst verschlossen bleiben können.« Denke ich an Nick Drake, an sein viel zu kurzes Leben, aber vor allem an die Lyrizität seiner wie auf Wolken dahingleitenden Songs, bin ich froh, daß er sich der Welt nicht verschließen konnte. Höre ich seine hypnotisierende Musik, fällt mir sofort die Filigranität im Ausdruck auf, eine bambushafte Filigranität, mit der Drakes glasklare Sprache in lupenreinen Melodien hin- und herschwankt.
Nur drei Alben konnte der am 19. Juni 1948 im birmanischen Rangun geborene Nick Drake veröffentlichen, bevor er 1974 im Alter von nur 26 Jahren starb; er hatte zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 20.000 Alben verkauft. »He’s frozen forever in youth«, schreibt Peter Hogan in seinem 2009 erschienenen Nick Drake. The Complete guide to his music treffend. Und doch klingt die Musik, die dieser talentierte junge Mann in kürzester Zeit geschrieben, gespielt, gelebt hat, wie ein uralter Mythos, der von Fremdheit und Isolation, Natur und Großstadtleben erzählt.
Five Leaves Left, Nick Drakes Debüt-Album, wurde im September 1969 veröffentlicht. Es zeigt eindrücklich, wie sich eine neue, weise, traurige Stimme auf den hypertrophen Musikmarkt wagt und diesem mit größerer Sanftheit als Donovan und schärferer Verwegenheit als Dylan ihre ganz eigene Signatur aufprägt. Von Euphorie auf Kritikerseite ist allerdings kaum etwas zu finden. So fällt eine anonyme Besprechung des Albums im Melody Maker vom 26. Juli 1969 nicht nur auffallend zurückhaltend, ja kalt aus; sie ist in ihrer Kürze regelrecht erschreckend. Ich zitiere in toto aus Nick Drake. The Pink Moon Files (2011):
»NICK DRAKE: Five Leaves Left (Island)
All smokers will recognise the meaning of the title – it refers to the five leaves left near the end of a packet of cigarette papers. It sounds poetic and so does composer, singer and guitarist Nick Drake. His debut album for Island is interesting.«
In gewisser Weise gleicht Drakes Dasein als unbekannter und unterschätzter, zurückhaltender, enigmatischer Künstler, der von geradezu buddhistischer Demut, Weisheit und Feinfühligkeit erfüllt zu sein schien, dem Schicksal Sixto Rodriguez’, auch wenn letzterem ein spätes Happy End beschieden war. Doch eines unterscheidet die beiden gravierend: Während Rodriguez seine vermeintliche Erfolglosigkeit akzeptiert hat und ein Leben fernab des Musikgeschäfts annahm, wurde Drake von Depressionen gelähmt, die durch seine scheue Natur und Introvertiertheit nur noch verstärkt wurden.
Nick Drake, der besser musikalisch als verbal kommunizieren konnte, führte in den fünf Jahren, die zwischen seinem ersten Album und seinem tragischen Tod liegen, ein nomadisches Leben, pendelnd zwischen Cambridge, wo er studierte, London, wo er bei Freunden wohnte und Musik machte, und Tanworth-in-Arden, wo seine Wurzeln lagen – ohne Geld, ohne Erfolg, ohne Ziel. Sein zweites Album, an dem Drake gut neun Monate arbeitete, erschien im November 1970 und trug einen seltsamen Titel: Bryter Layter. In Trevor Danns substantieller Biographie Darker Than the Deepest Sea. The Search for Nick Drake (2006) erfährt man:
»Echoing a familiar phrase from TV and radio weather forecasts, he [Drake] gave it [the album] an olde worlde spelling, according to Robert Kirby, ›as a bit of a joke‹, perhaps remembering the membership card of the Cambridge Loungers. But it was also an ironic title. The lyrics should have left no one in any doubt that their author was going downhill fast.«
In der Tat verschlechterte sich Drakes Zustand merklich; Erfolglosigkeit, Selbstzweifel und Depressionen trieben ihn immer tiefer in einen Teufelskreis hinein. Er zeigte schon autistische Züge. Um 1971/72 suchte der großgewachsene, schlanke Musiker einen Psychiater im St Thomas’s Hospital in London auf. Peter Hogan zeichnet das Bild eines apathischen Mannes: »In Nick’s later years, there are countless stories of him sitting in total silence, staring into nothingness.«
Doch Kraft und Konzentration sollten für ein letztes Album reichen: Pink Moon, das im Februar 1972 erschien und in nur zwei Nächten aufgenommen wurde. Nick Drake befand sich in einer äußerst depressiven Phase, als er die Songs schrieb, doch dieses melancholische Album sollte sich am besten verkaufen. Einige Monate nach Pink Moon hatte Drake einen Nervenzusammenbruch. Er kam für fünf Wochen ins Barnsley Hall Psychiatric Hospital nach Bromsgrove, wo er einen Antidepressiva-Cocktail erhielt. Danach ging es auch körperlich mit ihm bergab. Er zog zurück zu seinen Eltern und verließ das Haus nur noch für kurze Spaziergänge.
In der Nacht des 24. November 1974 hörte Nick Drake Bachs Brandenburgische Konzerte und ging früh schlafen. Er stand mitten in der Nacht noch einmal auf, um in der Küche Cornflakes zu essen, was bei seiner Schlaflosigkeit nicht unüblich war. Ob es sich nun um Suizid oder um eine unbeabsichtigte Überdosis Tryptizol gehandelt hat, wird wohl nie mit letzter Gewißheit beantwortet werden können. Fest steht, daß Drake wohl etwa 30 Tabletten genommen hatte – das Doppelte bis Dreifache der Tagesdosis!
Seine Mutter fand ihn gegen Mittag leblos in seinem Bett. Auf dem Nachttisch lag das letzte Buch, das er gelesen hatte: Albert Camus’ Mythos des Sisyphos. Nick Drakes Asche wurde am 2. Dezember auf dem Friedhof der St Mary Magdalene Church in Tanworth-in-Arden bestattet. Etwa 50 Freunde und Weggefährten nahmen an der Zeremonie teil. Auf seinem Grabstein finden sich die Worte: »Nick Drake, 1948-1974. Remembered with love.« Die Rückseite ziert ein Vers aus Nicks Song »From the Morning«: »Now we rise, and we are everywhere.«
Dialekte
Kann man sich Johann Sebastian Bach mit obersächsischem Dialekt vorstellen? Oder Goethe, der – wie ich kürzlich im ersten Band der großen Biographie Nicholas Boyles las – das robuste Frankfurterisch sprach? Boyle schreibt: »[I]m Faust reimte er [Goethe] noch 1829 ›Tage‹ auf ›Sprache‹, so wie er 1774/75 ›genug‹ auf ›Besuch‹ gereimt hatte, und der Vers ›Das wäre mir die rechte Höhe‹, 1831 entstanden, ist waschechtes Frankfurterisch« (60). Der Dialekt ist nicht mit dem Akzent gleichzusetzen. Ein sehr schönes Beispiel gibt der junge Arnold Schwarzenegger, der sich mit starkem steirischem Akzent durch den Anfang 1970 erschienenen Fantasy-Film Hercules in New York dilettiert. Köstlich!
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