Es erscheint nur folgerichtig und symbolisch, daß Sean Lennon, der am heutigen 9. Oktober 45 Jahre alt wird, seinem Vater John, dessen 80. Geburtstag ebenfalls heute zu feiern wäre, nicht nur an selbigen, sondern auch an die ›inselartigen‹ Lebenssituationen der Menschen in der COVID-19-Pandemie erinnert, und zwar mit dem 1970 auf dem Album John Lennon/Plastic Ono Band veröffentlichten Song »Isolation«. Daß der Sohn dabei nicht nur so aussieht wie der Vater, sondern auch so klingt, ist ein berückender Nebeneffekt.
Am heutigen 1. Oktober jährt sich der Beginn meines Hochschulstudiums zum zwanzigsten Mal: Zum Wintersemester 2000/2001 – Gerhard Schröder war seit zwei Jahren Bundeskanzler, die Terroranschläge des 11. September hatten noch nicht stattgefunden und auf das erste iPhone mußte man noch sieben Jahre warten – startete ich an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit dem Diplomstudiengang Geologie/Paläontologie, bevor ich im Sommersemester 2002 vom Coesfelder Kreuz an den Domplatz, von den Natur- in die Geisteswissenschaften wechselte, hin zur Deutschen Philologie, Allgemeinen Sprachwissenschaft sowie zur Neueren und Neuesten Geschichte auf Magister. (Privat zog ich vom Gievenbecker Nienborgweg, 2000-2009, zur Annenstraße am Südpark, 2009-2010, schließlich in die Von-Einem-Straße vor den Toren Kinderhaus’, 2010-2012.) Grund genug, an diesem runden Jahrestag als Alumnus einen Blick in mein grünes Studienbuch zu werfen und die seinerzeit noch handschriftlich ausgefüllten Belegbögen der einzelnen Semester ins Digitale und Globale zu überführen.
Studienbuch und Ausweis für Studierende (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, September 2020)
BS = Blockseminar
HS = Hauptseminar
Ko = Kolloquium
(L)K = (Lektüre-)Kurs
OS = Oberseminar
PS = Proseminar
Ü = Übung
VL = Vorlesung
Wintersemester 2000/2001: Diplomstudium
Wo alles begann: Das Institut für Geologie und Paläontologie der WWU Münster, Corrensstr. 24 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, September 2020)
144204 Allgemeine Geologie – Exogene Dynamik (VL) Heinrich Bahlburg Mo-Do, 09:15-10:00, HS 2, IG I
144147 Einführung in die Paläontologie (Allgemeine Paläontologie) (VL) Friedrich Strauch Mo-Di, 10:00-11:00, HS 3, IG I
120788 Allgemeine Chemie und Einführung in die anorganische Chemie für Chemiker (Diplom und Lehramt), Lebensmittelchemiker, Pharmazeuten (1. Sem. AAppO) und weitere Naturwissenschaftler (VL) Franz Ekkehardt Hahn Mo-Fr, 12:00-13:00, C 1
120630 Theoretische Übungen zur Vorbereitung auf das anorganisch-chemische Praktikum für Biologen und Landschaftsökologen (Diplom) (Ü) Hans-Dieter Wiemhöfer Mo 18:00-20:00, C 1
110188 Physik für Naturwissenschaftler I (VL) Heinrich Franz Arlinghaus Di, Do, Fr, 08:00-09:00, HS 1, IG I
144132 Übungen zur Einführung in die Paläontologie (Allgemeine Paläontologie) (Ü) F. Stiller Do, 10:00-12:00, R. 518, AVZ, Corrensstr. 24
Sommersemester 2001: Diplomstudium
Der erste Übungsschein: »mit Erfolg« (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Juli 2001)
Protokoll zu den Geländetagen im westlichen Teutoburgerwald, 14.-16.06.01
Wuchtig: Die Institutsgruppe I in der Wilhelm-Klemm-Str. 10, in der ein Großteil der Veranstaltungen stattfand (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, September 2020)
Wintersemester 2001/2002: Diplomstudium
140423 Allgemeine Hydrogeologie (VL) Wilhelm G. Coldewey Mo, 11:00-13:00, HS 3, IG I
141276 Spezielle Mineralogie und Einführung in die Petrologie (VL) Christian Ballhaus Mo, 13:00-16:00, SR E, IG I
140208 Einführung in die Tektonik (Tektonik I) (VL, Ü) Eckard Speetzen Mi, 10:00-12:00, R. 518, AVZ, Corrensstr. 24
141280 Mineral- und Gesteinsbestimmungen (Ü) Christian Ballhaus Fr, 11:00-14:00, SR E, IG I
080?? Einführung in die lateinische Sprache I (Ü) Gotthard Schmidt Vierstündig, HS 220, Pferdegasse 3
Sommersemester 2002: Magisterstudium
Neuere deutsche Literaturwissenschaft: Der erste Seminarplan (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, April 2002)
090204 Einführung in das Studium der deutschen Sprachwissenschaft (PS) Benjamin Stoltenburg Mo, 10:00-12:00, J 121
080742 Einführung in die lateinische Sprache II (Ü) Gotthard Schmidt Mo, 16:00-18:00, S 6; Do, 16:00-18:00, S 2
090075 Kasusphänomene des Deutschen (VL) Rudolf Schützeichel Di, 09:00-10:00, J 12
081112 Einführung in das Studium der Alten Geschichte: Reisen in der alten Welt (PS) Hans-Christian Schneider Di, 16:00-18:00, F 10; Mi, 12:30 s.t.-14:00, R 232, Fürstenberghaus
091177 Einführung in das Studium der neueren deutschen Literaturwissenschaft (PS) Ortwin Lämke Mi, 09:00-11:00, R 20, Fürstenberghaus
097979 Einführung in das Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft II (Ü) Hartwig Franke Mi, 14:00-16:00, HS 220, Pferdegasse 3
080871 Geschichte des westlichen Mittelmeerraumes (bis zum Ende des Zweiten Punischen Krieges) (VL) Norbert Ehrhardt Do, Fr, 10:00-11:00, R 232, Fürstenberghaus
090018 Einführungsvorlesung für Erst- und Zweitsemester in allen Studiengängen (VL) S. Günthner, V. Honemann, J. Macha, E. Rolf, J. Splett, H. Kraft Fr, 14:00-16:00, Audimax, Johannisstr. 12-20
Referate und Seminararbeiten
Textuntersuchung zu Arno Schmidts »Leviathan oder Die beste der Welten« unter der Fragestellung »Ist der Ich-Protagonist religiös?«
Rechercheaufgabe: Georg Büchner
(Zusammen mit Linda Kutt und Alexander Keil) Die Reisen des Apostels Paulus
Wintersemester 2002/2003: Magisterstudium
Ceci n’est pas un baron: Die Statue Freiherr von Fürstenbergs vor dem Fürstenberghaus, in dem ein Großteil der Veranstaltungen stattfand (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, September 2020)
080784 Einführung in die lateinische Sprache III (Ü) Gotthard Schmidt Mo, Do, 09:00-11:00, S 2
090102 Rhetorik und Kultur (VL) Martina Wagner-Egelhaaf Mo, 16:00-18:00, J 12
080985 Das Reich in der Krise: Deutsche Geschichte von 1250 bis 1350 (VL) Heike Johanna Mierau Di, 14:00-16:00, Fürstenberghaus
091295 Heinrich von Kleist (PS) Ortwin Lämke Mi, 11:00-13:00, R 029, Fürstenberghaus
097968 Einführung in das Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft I (Ü) Hartwig Franke Mi, 14:00-16:00, HS 220, Pferdegasse 3
081192 Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte: Menschen und ihre Umwelt im Mittelalter (PS) Thomas Scharff Do, 14:00-16:00, R 32, Georgskommende 14; Fr, 11:00-13:00, R 1, Georgskommende 14
09xxxx Tutorium zur Einführungsübung Allgemeine Sprachwissenschaft (Ü) Robert Memering, Nicki Marten Do, 16:00-18:00, Institut Bergstr. 29a
090299 Einführung in die Analyse der deutschen Gegenwartssprache (PS) Götz Hindelang Do, 18:00-20:00, J 122
090011 Einführungsvorlesung für Erstsemester in den Studiengängen SI/SII/Magister (VL) T. Althaus, V. Honemann, A. Kilcher, L. Köhn, H. Kraft, D. Kremer, E. Ribbat, M. Wagner-Egelhaaf Fr, 14:00-16:00, Audimax, Johannisstr. 12-20
Referate und Seminararbeiten
(Zusammen mit Julia Frenking) Moderation: Semiotik (Wellbery); Referat: Das Käthchen von Heilbronn (1810)
Gustav, Toni und ›die Neger‹ – Über die Farb- und Lichtmetaphorik in Heinrich von Kleists »Die Verlobung in St. Domingo«
(Zusammen mit Ute Aben) Das mittelalterliche Weltbild – Raumvorstellungen und Vorstellungen von der Erde
Sommersemester 2003: Magisterstudium
»Gender Studies im Alltag.« Titelseite des Kommentierten Vorlesungsverzeichnisses des Instituts für Allgemeine Sprachwissenschaft (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, April 2003)
097990 Einführung in die Beschreibungskonventionen der neueren generativen Syntaxtheorie (PS) Heinz Alfred Bertz Mo, 14:00-16:00, Institut Bergstr. 29a
Albert Ehrenstein: Tubutsch – Kontext und Rezeption
»Der ewige Jude« – Albert Ehrensteins Ahasver-Figur im Vergleich mit anderen literarischen Adaptionen
Adjektivflexion der isolierenden, flektierenden, agglutinierenden und inkorporierenden Sprachtypen
Wintersemester 2003/2004: Magisterstudium
»Karl der Große. Fresko im Kreuzgang des Doms von Brixen (Bressanone).« Titelseite des Kommentierten Vorlesungsverzeichnisses des Historischen Seminars (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, September 2003)
081103 Geschichte und Zukunft der Globalisierung (VL) Stefan Haas Mo, 16:00-18:00, F 3
090487 Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht (PS) Henning von Gadow Di, 10:00-12:00, J 121
090119 Deutsche Literatur – ein Kanon II (VL) Ernst Ribbat Di, 16:00-18:00, Audimax
081319 Einführung in das Studium der neueren Geschichte: Die Revolution von 1848 in West und Ost (PS) Lothar Maier Di, 18:00-20:00, F 2a; Mi, 11:00-13:00, R 209, Georgskommende 14
097936 Arten und Formen der Deixis (VL) Clemens-Peter Herbermann Mi, Do, 10:00-11:00, Institut Bergstr. 29a
Die Menschenrechte: Erfindung der Frankfurter Paulskirche?
Die Verarbeitung von Eigennamen (EN) und Gattungsbezeichnungen (GB)
(Zusammen mit Johannes B. Finke) ReFraming. Eine zusammenfassende, kritische Betrachtung der linguistisch orientierten Frametheorie (unter besonderer Berücksichtigung der Konzeption K.-P. Konerdings)
Sommersemester 2004: Magisterstudium
Titelseite des Kommentierten Vorlesungsverzeichnisses der Institute für Deutsche Philologie I und II, Komparatistik, Niederländische Philologie und Nordische Philologie (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2004)
081575 Geschichte des Films (HS) Stefan Haas Mo, 11:00-13:00, R 209, Georgskommende 14
08???? Geschichte der visuellen Kultur am Beispiel des Films (VL) Stefan Haas Mo, 16:00-18:00, F 3
090102 Geschichte der deutschen Literatur: Klassik und Romantik (VL) Detlef Kremer Di, 10:00-12:00, J 12
097934 Kommunikation und Metakommunikation. Beiträge zu einer Metalinguistik (VL) Edeltraud Bülow Di, 12:00-13:00, Institut Bergstr. 29a
090079 Schaubühne der Aufklärung: Theater 1730-1780 (VL) Thomas Althaus Mi, 11:00-13:00, J 12
091443 Heiner Müllers Medea Material (HS) Karl Heinrich Hucke Do, 09:00-11:00, Studiobühne
090743 Jacques Derrida (LK) Rebecca Branner Do, 12:00-14:00, J 120
082423 Grundkurs Theoretische Philosophie II: Einführung in die Erkenntnistheorie (VL) Oliver R. Scholz Do, 14:00-16:00, F 3
Referate und Seminararbeiten
Der »Medea«-Mythos: Herrschaftsstrukturen in den Adaptionen Euripides’ und Müllers
Ausstattungen eines Mythos: Die Medea Euripides’, Ovids und Senecas im Vergleich
Die Systematisierung der Konfusion: Surrealistische Tendenzen in »Magical Mystery Tour«
Wintersemester 2004/2005: Magisterstudium
Beinahe kafkaesk: Aufzeichnungen aus der Hebräisch-Stunde (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Oktober 2004)
09???? Hebräisch (Ü/BS) Hartwig Franke Mo, 09:00-11:00 (Ü bis 25.11.04, dann BS 06.-08.01.05), Institut Bergstr. 29a
080960 Nordamerika in der europäischen Weltwirtschaft, 17.-20. Jahrhundert (VL) Georg Fertig Mo, 16:00-18:00, F 3
090091 Dispositive der Sichtbarkeit (VL) Detlef Kremer, Martina Wagner-Egelhaaf Di, 10:00-12:00, J 12
091633 Einführung in die ästhetischen Schriften Walter Benjamins und Theodor W. Adornos (LK) Renate Werner Di, 14:00-16:00, F 9
081325 Widerstand gegen den König im frühen und hohen Mittelalter. Legitimation, Organisationsformen, Konsequenzen (K) Gerd Althoff Mi, 14:00-16:00, F 5
Die Tradition der Begriffspaare »Subjekt/Prädikat« sowie »Thema/Rhema« von Hermann Paul bis Karl Boost
Der medientechnische Wahrnehmungswandel: Über den Einfluss der Fotografie auf die Literatur
(Zusammen mit Lars Köllner) Roland Barthes: Der lesbare Text und die Lust am Text
(Zusammen mit Lars Köllner und Stephan Lütke Hüttmann) Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer
Sommersemester 2005: Magisterstudium
Semesterprogramm und Referatsthemen des Hauptseminars »Reformation und Geschlechterverhältnis« (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, April 2005)
091756 Ästhetik des Raums. Raumkonfigurationen in der Literatur seit 1800 und im Film (VL) Detlef Kremer Mo, 11:00-13:00, J 12
091737 Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts (VL) Eric Achermann Mo, 13:00-15:00, J 12
090544 Der Sprachgebrauch in den Medien (HS) Franz Hundsnurscher Mo, 18:00-20:00, J 122
081031 Ursprünge der Globalisierung: Die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft, ca. 1500-1850 (VL) Ulrich Pfister Di, 12:00-14:00, F 2
081926 Lektüre und Interpretation niederrheinischer Quellen der Frühen Neuzeit (Ü) Johannes Schreiner Di, 18:00-20:00, R 32, Georgskommende 14
097940 Sprachliche Universalien – Geschichte und Theorie eines linguistischen Forschungszweigs (VL) Clemens-Peter Herbermann Mi, 10:00-11:00, Institut Aegidiistr. 5
081600 Reformation und Geschlechterverhältnis (HS) Barbara Stollberg-Rilinger Mi, 16:00-18:00, R 104, Fürstenberghaus
081027 Einführung in die Geschichte der Frühen Neuzeit (VL) Barbara Stollberg-Rilinger Do, 09:00-11:00, S 1
098086 Universalienforschung zur Semantik und zur sprachlichen Symbolisierung (HS) Clemens-Peter Herbermann Do, 11:00-13:00, Institut Aegidiistr. 5
090032 Symboltheorien II (VL) Eckard Rolf Do, 18:00-20:00, J 12
Referate und Seminararbeiten
Die Pressekritik von Karl Kraus: Indexikalisierung und konservative Sprachhygiene
Was bedeutet blau? Zur Semantik der Grundfarbwörter als sprachliche Universalie
(Zusammen mit Matthias Hahn) Anna Wierzbicka: The meaning of color terms
(Zusammen mit Evelyne v. Beyme) Das katholische Eherecht des Trienter Konzils
Wintersemester 2005/2006: Magisterstudium
Das Landhaus Rothenberge, in dem nicht nur diskutiert, sondern auch Tischtennis gespielt wurde (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Oktober 2005)
091233 Klassiker des Strukturalismus (Ü) Eric Achermann Mo, 16:00-18:00, R 124, Leonardo-Campus
090844 Mediendiskursanalyse (VL) Ekkehard Felder Di, 18:00-20:00, R 3, Leonardo-Campus
090940 Sprache und Kultur (VL) Susanne Günthner Mi, 12:00-14:00, J 12
091070 Mimesis und Fiktion (VL) Eric Achermann Mi, 14:00-16:00, J 12
091090 Einführung in die Texttheorie (historisch) (VL) Moritz Baßler Do, 10:00-12:00, J 12
091248 Einführung in die Texttheorie (LK) Moritz Baßler Do, 12:00-14:00, F 4
09???? Word & World. Practice and the Foundations of Language (BS) Eckard Rolf Mo-Mi, 17.-19.10.05, Landhaus Rothenberge
Referate und Seminararbeiten
Verfassen eines Exposés zur Magisterarbeit
Sommersemester 2006: Magisterstudium
Titelblatt meiner Magisterarbeit: Exemplar des Erstgutachters Detlef Kremer (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Juni 2006)
Keine belegten Veranstaltungen
Abgabe der Magisterarbeit, Juni 2006
Themen der mündlichen Prüfungen, September/Oktober 2006
Jean Paul: Theorie und Praxis
Schrift/Text, Bild, Bewegungsbild
Semiotik (unter besonderer Beachtung der Zeichentheorie Ch. S. Peirce’)
Eigennamentheorie
Deixis-Theorie
Die Revolution von 1848: Frankreich und ›Deutschland‹ im Vergleich
Die Darstellung des Holocaust im Spielfilm: »Schindlers Liste« und »Das Leben ist schön«
Wintersemester 2006/2007: Magisterstudium
Das Fürstenberghaus am Domplatz 20-22, vom Jesuitengang aus gesehen, in dem damals auch noch die germanistische Institutsbibliothek beheimatet war (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2007)
Keine belegten Veranstaltungen
Vorbereitung eines Exposés zur Dissertation
Sommersemester 2007: Promotionsaufbaustudium
Studierendenausweis/Semesterticket für das Sommersemester 2007 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2007)
092305 Zeichentheorie (OS) Eric Achermann Di, 18:00-20:00, SR 1, Fürstenberghaus
084205 Einführung in die Erkenntnistheorie (VL) Andreas Hüttemann Mi, 10:00-12:00, PC 7
090556 Klassiker der Weltliteratur. Ihre Rezeption und Wirkung in Deutschland (I) (VL) Achim Hölter Mi, 12:00-14:00, PC 7
091969 Zur Beziehung von Text und Bild. Geschichte und Theorie (VL) Eric Achermann, Tomas Tomasek Mi, 14:00-16:00, J 12
091476 Sprachtheorien II (VL) Eckard Rolf Do, 18:00-20:00, J 12
Vortrag Die Revitalisierung der Weltreligionen. Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne? Jürgen Habermas Mi, 30.01.08, 18:00-20:00, H 1
Referate und Seminararbeiten
(Zusammen mit Evelyne v. Beyme) Charles Sanders Peirce (1839-1914)
Sommersemester 2008: Promotionsaufbaustudium
Auszug aus meinen Mitschriften der Vorlesung »Semiologie, Sprechakttheorie, Grammatikologie« von Eckard Rolf sowie des Vortrags »Roland Barthes. Literarische Szenographien der Gesellschaft« von Marion Bönnighausen, gehalten im Rahmen der Ringvorlesung »In(ter)ventionen. Literatur – Gesellschaft – Politik« (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2008)
098324 Interdisziplinarität und Multimedialität der kognitiven Linguistik (HS) Edeltraud Bülow Mo, 10:00-12:00, Institut Aegidiistr. 5
090979 Klassiker der Weltliteratur. Ihre Rezeption und Wirkung in Deutschland (III) (VL) Achim Hölter Mi, 14:00-16:00, F 2
092307 Bedeutungstheorien – Theories of Meaning (VL) Eckard Rolf Do, 18:00-20:00, J 12
084795 Mensch und Kultur (VL) Spree Fr, 10:00-12:00, S 2
Referate und Seminararbeiten
Kognitive Semiotik. Versuch einer Beschreibung mentaler Repräsentationen vermittels der zeichentheoretisch-pragmatizistischen Überlegungen Charles Sanders Peirce’
Sommersemester 2009: Promotionsaufbaustudium
Beginn von Jürgen Kaubes Nachruf auf meinen Doktorvater Detlef Kremer, der am 3. Juni 2009 völlig überraschend gestorben ist. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.2009, p. 34)
084167 Einführung in die Metaphysik (VL) Oliver R. Scholz Do, 16:00-18:00, F 2
091605 Bedeutungstheorien II – Theories of Meaning II (VL) Eckard Rolf Do, 18:00-20:00, R 118, Vom-Stein-Haus
Referate und Seminararbeiten
Weder noch
Wintersemester 2009/2010: Promotionsaufbaustudium
Hörsaal im Münsteraner Schloß (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2010)
092131 Doktorandenkolloquium (Ko) Eckard Rolf Do, 18:00-20:00, R 010, Vom-Stein-Haus
Vortrag Language and Social Ontology John R. Searle Di, 08.12.09, 20:00-22:00, Audimax
Sommersemester 2010: Promotionsaufbaustudium
Keine belegten Veranstaltungen
Wintersemester 2010/2011: Promotionsaufbaustudium
Im Büro Eckard Rolfs im Vom-Stein-Haus fand der Lektürekurs zu Hans Blumenbergs »Arbeit am Mythos« statt (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2011)
090025 Einführung in die germanistische Literaturwissenschaft (VL) Eric Achermann Mo, 16:00-18:00, Fürstenberghaus
09???? (semi-offiziell, im kleinen Kreis) Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos (LK) Eckard Rolf Do, R 010, Vom-Stein-Haus
Zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 2000 sprach Bernd H. Stappert mit dem Philosophen und Jubilar Hans-Georg Gadamer. Auf die Frage: »Hat Ihr Vater denn noch miterlebt, wie Sie, an sich doch sehr früh, als Zweiundzwanzigjähriger, schon promovierten?«, antwortete Gadamer:
»Ja, natürlich, er ist mit, kurz vor meiner Habilitation ist er gestorben. Aber wissen Sie, eine solche Habilitation [Promotion, NSE] mit zweiundzwanzig Jahren ist eine Kinderei, eigentlich doch die Schuld der Lehrer, denn daß das nichts taugt, ist doch klar, was man da macht und was man da kann.«
Diese lapidare Äußerung, dieses kritische Urteil Paul Natorps und Nicolai Hartmanns gegenüber, bei denen Gadamer mit der 127 Blatt umfassenden Arbeit Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen promoviert worden war, erinnerte mich an eine Äußerung des damaligen Direktors des Instituts für Allgemeine Sprachwissenschaft der WWU Münster, Clemens-Peter Herbermann (1941-2011). In seiner Vorlesung »Allgemeine Zeichentheorie und Sprachzeichentheorie und ihre historischen Grundlagen« im Wintersemester 2004/2005 urteilte Herbermann über die Dissertationsschrift des Philosophen Johann Christoph Hoffbauer (1766-1827), mit der er sich zugleich habilitierte, Tentamina semiologica, si ve quaedam generalem theoriam signorum spectantia, daß diese »nicht sonderlich bedeutsam« sei und daß sie »das Niveau einer lateinisch verfaßten Seminararbeit« aufweise. (Mitschrift NSE, 28. Oktober 2004)
Hoffbauer ist zum Zeitpunkt seiner Promotion/Habilitation dreiundzwanzig Jahre alt gewesen.
Als der dreizehnjährige Hans Blumenberg, Schüler des Lübecker Elite-Gymnasiums Katharineum, am 28. Oktober 1933 in Begleitung seines Vaters erstmals Münster besuchte, und zwar anläßlich der Bischofsweihe Clemens August Graf von Galens, konnte er nicht wissen, daß auch er einst in der Stadt des Westfälischen Friedens eine löwenhafte Existenz führen würde. Während von Galen den Beinamen »Löwe von Münster« insbesondere aufgrund dreier Predigten erhielt, in denen er vehement und mutig Kritik an der menschenverachtenden Nazi-Ideologie, der Rassenlehre und Euthanasie, übte, lag das Großkatzenartige Blumenbergs weniger in der Wildheit oder Gefährlichkeit, die den König der Tiere auszeichnet, als vielmehr in der souveränen Ruhe, mit der der in seine Höhle zurückgezogene Denkarbeiter nachts auf Geistesbeutezug ging: »Wer besser denkt«, so Blumenberg in einer Vignette über Löwen, »fängt mehr.« [Weiterlesen auf der Freitag]
Zum 100. Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg legt Uwe Wolff eine ganz persönliche Hommage an seinen Lehrer vor
Schließlich geht nicht alles, was einer vom anderen weiß, in die diesem zukommenden Äußerungen ein; vielleicht nur ein geringer Bruchteil. — Hans Blumenberg
Wir halten es nur aus, Geschichte zu haben und auf ihr zu insistieren, weil wir sie nicht verstehen. Mißverständnis – auch das ›fruchtbare‹ trostvoll genannt – ist der Modus, in dem wir mit irgend etwas sind, was wir nicht selbst sein können. — Hans Blumenberg
(haha!) — Hans Blumenberg
Erinnern kann man sich nur an etwas, das einem widerfahren, oder an jemanden, der einem begegnet ist. Es gibt kein Erinnern an nie Erlebtes oder längst Vergangenes. Erinnern verlangt Kontakt, Existenz, Interaktion. Nur der Zeitgenosse kann sich des Zeitgenossen, des Zeitgenössischen erinnern. Diese Feststellungen sind trivial. Dennoch möchte man gerade in Gedenkjahren an etwas oder jemanden erinnern, das oder der einem völlig fremd ist. So warf das Jahr 2020 bereits im Herbst 2019 seine langen Schatten voraus: Rüdiger Safranski, Klaus Vieweg und Igor Levit feierten Hölderlin, Hegel und Beethoven, deren zweihundertfünfzigste Geburtstage bevorstehen sollten. Nach einem Vierteljahrtausend gibt es niemanden mehr, der sich an diese bedeutsamen Persönlichkeiten erinnern könnte. Das Erinnern muß folglich als abstraktes, indirektes aus Quellen gehoben werden; es ist ein ›verinnerlichendes‹ Erinnern. Daß allerdings Klassiker kein spezielles Gedenkjahr benötigen, brachte jüngst der Musikwissenschaftler Christian Wildhagen in der NZZ auf den einfachen Punkt: »Ludwig van Beethoven braucht kein Gedenkjahr. Er braucht nicht einmal ein öffentliches Denkmal. Denn Beethoven-Jubeljahr ist immer, jederzeit und allerorten.« In seinem Buch Das kollektive Gedächtnis, das erst fünf Jahre nach seiner Ermordung im KZ Buchenwald erschienen ist, gibt der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs (1877-1945) ein plastisches Beispiel der historischen Dimension des Erinnerns: »Ich erinnere mich an Reims, weil ich ein ganzes Jahr lang dort gelebt habe. Ebenso erinnere ich mich, daß Jeanne d’Arc in Reims gewesen ist und daß man dort Karl VII. gesalbt hat, weil ich es erzählen hörte oder weil ich es gelesen habe. Jeanne d’Arc ist so oft im Theater, im Film usw. dargestellt worden, daß es mir wirklich keinerlei Mühe bereitet, mir Jeanne d’Arc in Reims vorzustellen. Gleichzeitig weiß ich wohl, daß ich nicht Zeuge des Ereignisses selbst habe sein können; ich mache hier bei den Worten halt, die ich gelesen oder gehört habe – bei quer durch die Zeit reproduzierten Zeichen, die alles sind, was aus der Vergangenheit zu mir gelangt.« Im Falle der Centennium-Jubilare des Jahres 2020, darunter etwa Ravi Shankar, Ray Bradbury oder Paul Celan, überwiegt das individuelle, autobiographische Gedächtnis, das laut Halbwachs »nicht vollkommen isoliert und in sich abgeschlossen« ist. Hier besteht durchaus Zeitgenossenschaft, sprich die Möglichkeit auf konkretes, direktes, ›veräußerlichendes‹ Erinnern an einen Ort, eine Situation, eine Person.
Bei Suhrkamp sollen in diesem Sommer pünktlich zum einhundertsten Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) zwei neue Werke erscheinen, und zwar eine Nachlaß-Textsammlung aus den siebziger Jahren mit dem Titel Realität und Realismus sowie seine bislang unveröffentlichte, 1947 an der Universität Kiel eingereichte und mit »ausgezeichnet« bewertete Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. (Die 232 maschinenschriftliche Seiten umfassende, 1950 vorgelegte Habilitationsschrift Blumenbergs Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, die in Fachkreisen ebenso bekannt ist wie die Dissertation und die – nach Ausscheiden aus der Universitätsbibliothek Kiel am 30. April 2004 – als PDF mit dem Vermerk des Center for Research Libraries »This dissertation may not be copied« digital kursiert, steht indes noch nicht auf der offiziellen Publikationsliste.) Eine Recherche, die Birgit Recki unter Mitarbeit von Mina Wagener und Singa Behrens durchgeführt hat, »weist für die 21 Jahre zwischen 1996 und August 2017 ohne Berücksichtigung von Rezensionen 498 neue Titel über Hans Blumenberg aus. Das sind 24 im Jahresdurchschnitt, und zwei pro Monat.« So besitzt die Diagnose, mit der Franz Josef Wetz bereits 2011 die dritte Auflage seiner Blumenberg-Einführung eingeleitet hat, auch beinahe ein Jahrzehnt später noch Gültigkeit: »Als Blumenberg noch lebte, hätte man leicht annehmen können, er sei bereits tot; nachdem er tot ist, könnte man vermuten, er lebe noch. Woran liegt das? Die Antwort ist einfach: Ersteres an seinem freiwilligen Rückzug aus der Öffentlichkeit, Letzteres an den zahlreichen Neuerscheinungen aus dem Nachlass seit seinem Tod.«
Diese immer noch sprudelnden Primärtexte aus dem Nachlaß werden im Jubiläumsjahr 2020 durch eine etwa fünfhundert Seiten starke, im Sommer erscheinende Biographie des Philosophen ergänzt, die Rüdiger Zill, Wissenschaftlicher Referent am Potsdamer Einstein Forum, unter dem Titel Der absolute Leser vorzulegen beabsichtigt, die im Untertitel als eine intellektuelle Biographie ausgewiesen ist. Mit diesem pompösen Etikett gesellt sie sich einerseits in eine illustre Reihe, in der aktuell Peter Szondi, mustergültig Hugo Ball oder facettenreich Roland Barthes – um nur drei Beispiele zu nennen – stehen; andererseits scheint der Schwerpunkt auf Blumenbergs Werk, seiner geistigen Entwicklung, und weniger seinem (privaten) Leben zu liegen, was an Kurt Flaschs wuchtige Darstellung und Analyse des Blumenbergschen Wirkens zwischen 1945 und 1966 denken läßt. In eine ähnliche Richtung scheint das im Verlag Matthes & Seitz erscheinende Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait des an der Universität Koblenz-Landau lehrenden und 1996 mit einer blumenbergkritischen Arbeit über Nominalismus und Moderne promovierten Jürgen Goldstein zu gehen, welches laut Verfasser im Herbst in den Handel kommen soll. Ebenfalls für Herbst 2020 geplant ist das von Oliver Müller und Rüdiger Zill herausgegebene Blumenberg-Handbuch, in dem ausgewiesene Blumenberg-Experten Leben, Werk und Wirkung – so der klassische Untertitel der Metzler-Reihe – des Philosophen zu beleuchten und dadurch verschiedenartige, transdisziplinäre Zugänge zu Blumenbergs Denken zu schaffen beabsichtigen. Doch all diese Typisierungen sind reine Vermutungen, und man soll ja bekanntlich ein Buch nicht nach seinem Umschlag, geschweige denn vor seiner Publikation be- oder gar verurteilen.
Was hätte Blumenberg wohl zu einer solch potenten, postumen Publikationspalette gesagt? Und wie hätte er auf Biographien reagiert, deren Absicht es ist, sein Werk, aber auch und gerade ihn selbst sichtbar zu machen? Vielleicht hätte ihn die Gewißheit beruhigt, daß derartige Lebensbeschreibungen nur für ein spezielles Publikum verfaßt sind, insofern also lediglich »eine ›kleine Gemeinde‹ des Autors« erreichen dürften, wie es im Nachlaß-Text »Mihi ipsi scripsi« selbstironisch thematisiert wird. Vielleicht hätte sich Blumenberg auch, wie 1965 in seiner Einleitung zu Galileo Galileis Sidereus Nuncius formuliert, damit getröstet, daß es »[p]ure Sichtbarkeit als eine jedermann zugängliche Qualität« nicht gebe; »im Gegenteil, der Mensch entlastet sich ständig von der Überflutung mit dem, was optisch möglich wäre, er richtet seinen Blick immer erst auf das mit anderen als optischen Qualitäten besetzte und ihn in Anspruch nehmende Gegenständliche.« Eine dritte mögliche Reaktion zeigt Dorit Krusche in einem Artikel auf, der einen Tag nach Hans Blumenbergs neunzigstem Geburtstag in der FAZ erschienen ist: er hätte sich durch Humor entzogen. »Am 13. Juli«, heißt es dort, »wäre Hans Blumenberg, der Philosoph der Distanz und der Nachdenklichkeit, neunzig Jahre alt geworden. Zu Lebzeiten quittierte er Glückwünsche von ›Liebhabern der durch nichts als Nullen ausgezeichneten Lebensdaten‹ seriell mit sarkastischen Worten: ››Ich feiere nicht und ich lasse mich nicht feiern‹, sagte Gottfried Benn. Und ihm glaubte man es. Für den Fall, dass man es mir nicht glauben sollte, ziehe ich mich für ein paar Tage ins Sauerland zurück, dorthin, wo es am säuerlichsten ist.‹«
Gänzlich unsäuerlich und wohltuend, weil persönlich motiviert und nicht auf die – um ein bekanntes Wort Odo Marquards zu benutzen – »als gelehrte Wälzer getarnten Problemkrimis« Blumenbergs fokussiert, die dem Leser ohnehin einiges, oftmals vieles, manchmal sogar alles abverlangen, kommt eine dritte biographische Publikation daher, die Anfang März 2020 im protestantisch geprägten, 1954 gegründeten Claudius-Verlag erscheinen wird. Verfaßt hat sie Uwe Wolff, seines Zeichens Kulturwissenschaftler und Angelologe, der zudem über fünfundzwanzig Jahre lang Lehrer am Gymnasium Andreanum in Hildesheim und Fachleiter für Evangelische Religionslehre am dortigen Studienseminar war sowie – nicht unwichtig – Schüler Blumenbergs Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gewesen ist. Bereits der Titel seines schmalen Buches signalisiert, daß es sich weder um eine intellektuelle Biographie noch um ein philosophisches Portrait handelt, weswegen es einem großen, zumindest einem größeren Publikum nicht verschlossen bleiben dürfte: Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg. – Es steckt wahrlich viel Schreibtisch- und Erinnerungsarbeit in Jubiläumsjahren!
In Theodor W. Adornos Minima Moralia gibt es einen Abschnitt, in dem der amerikanische Exilant aus Frankfurt 1946/47 über die Erinnerung nachdenkt als ein Konzept, das Vergangenheit und Gegenwart im Innern, im Privaten, im Subjektiven zusammenbringt. Interessanterweise gestaltet Adorno hierbei einen Metaphernbereich aus, den man als ›supellektisch‹ bezeichnen könnte: »Das vergangene Innenleben wird zum Mobiliar, wie umgekehrt jedes Biedermeierstück geschaffen ward als holzgewordene Erinnerung. Das Intérieur, in dem die Seele die Sammlung ihrer Denkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt, ist hinfällig. Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unauflöslich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen.«
Zur selben Zeit etwa als Adorno diese Zeilen im ›kalifornischen Weimar‹ am Pazifik niederschrieb, erhielt ein junger Mann aus Lübeck namens Hans Blumenberg, der Jahrzehnte später als »der ›Adorno‹ Münsters« bezeichnet werden sollte, und der gerade erst das Studium in Hamburg zum Wintersemester 1945/46 wiederaufgenommen hatte, und zwar in den Fächern Philosophie, Germanistik sowie Altphilologie, ein Möbelstück, das Ausgangspunkt der Wolffschen Erinnerungen sein würde. Bei diesem Möbelstück handelte es sich um einen eichenen Schreibtisch aus einer »Bargteheider Tischlerei«, der »im letzten Kriegsjahr hergestellt worden war« (p. 11) und der nun, 2016, vom oberschwäbischen Ravensburg kommend eine neue Heimat in Uwe Wolffs Arbeitszimmer im gut sechshundert Kilometer entfernten niedersächsischen Bad Salzdetfurth finden sollte. Dieser Schreibtisch war Teil der gut zwanzig Tonnen schweren Erbmasse, bestehend aus Manuskripten und Teilen der Privatbibliothek, die Hans Blumenberg seiner Familie hinterlassen hatte. Tobias, das 1959 geborene jüngste Kind Blumenbergs nach Markus (1946-2013), Bettina (geb. 1947) und Caspar Balthasar (geb. 1953), der sich als erster um den Nachlaß seines Vaters gekümmert und das Hans-Blumenberg-Archiv in Ravensburg gegründet hat, fragte Uwe Wolff, ob er Interesse an diesem Möbel hätte, und so begann das, was die beiden Freunde humor- und zugleich respektvoll »Aktion Heiliges Holz« oder »Beiladung Heiliges Holz des Heiligen Hans« nennen sollten.
Blumenbergs ehemaligem Assistenten Heinrich Niehues-Pröbsting zufolge, war der distanzierte Nachtarbeiter, »um sich seinem Werk widmen zu können, auf die stabilitas loci angewiesen.« Niehues-Pröbsting verweist mit dieser örtlichen Seßhaftigkeit auf Blumenbergs zunehmende Reiseaversion bei abnehmender Lebenszeit; Wolff bedient sich dieses monastisch-benediktinischen Terminus ebenfalls und wendet ihn auf Blumenbergs »Dienst am Schreibtisch« (pp. 9, 37) an. Der Schreibtisch aus wuchtiger, standhafter, geradezu altersresistenter Eiche ist das Symbol par excellence dieser Ruhe und Sicherheit gebenden Stabilität, ein Fels in der Bücherbrandung und ein Heimathafen, von dem aus der Altenberger Gedankenexpeditionen und Textweltreisen unternehmen konnte.
Höhleneingänge: Blumenbergs ehemaliges Refugium in Altenberge, Grüner Weg 30 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
Doch der Engelforscher Uwe Wolff betreibt keine Schreibtischforschung, wie es etwa Inge Jens getan hat, als sie in ihrer 2013 erschienenen biographischen Studie den Mahagoni-Schreibtisch Thomas Manns »von München nach Zürich, über den Atlantik nach Princeton und weiter, quer durch den amerikanischen Kontinent, nach Kalifornien, schließlich von Pacific Palisades zurück an den Zürichsee, zuerst nach Erlenbach und dann nach Kilchberg« verfolgte und ihn mit Begriffen wie »Freiraum«, »Aufbewahrungsort«, »Kraftzentrum«, »Kampfplatz«, »Ort der literarischen Produktion«, »Lebenszentrum des Zauberers«, »eine Kanzel oder ein Katheder«, »Schatzkammer und Tresor« oder »Symbol für Heimat, Angekommensein und Arbeitssicherheit« belegte. Für Wolff ist der Schreibtisch seines Lehrers vielmehr ein mnemotechnisches Vehikel, das ihm bei seiner doppelbiographischen Vergangenheitssuche behilflich ist, auf der er sich – um mit dem Liebenden Roland Barthes (1915-1980) zu sprechen – »pathetisch, punktuell und nicht philosophisch, diskursiv« erinnert; er erinnert sich, »um glücklich/unglücklich zu sein – nicht um zu begreifen.«
Uwe Wolff ist im Genre der Biographie keineswegs unbewandert. So rekonstruierte er bereits 1999 mit Das bricht dem Bischof das Kreuz die Leidensgeschichte der dreiundzwanzigjährigen Würzburger Studentin Anneliese Michel, die 1976 im unterfränkischen Klingenberg an den Folgen des letzten Exorzismus in Deutschland gestorben war. 2009 erschien Wolffs Dissertation »Das Geheimnis ist mein« über den Schweizer reformierten Theologen und Kirchenhistoriker Walter Nigg (1903-1988), der 2017 eine komprimiertere Fassung unter dem Titel Walter Nigg. Das Jahrhundert der Heiligen folgte. 2012 habilitierte sich Wolff bei Hanns-Josef Ortheil mit Der vierte König lebt!, einer Biographie über den heute fast vergessenen Schriftsteller Edzard Schaper (1908-1984). Ein Jahr später verfaßte er für den Band Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt eine etwa 120 Seiten umfassende biographische Studie des römisch-katholischen Kirchenhistorikers Erwin Iserloh (1915-1996). Im selben Jahr, 2013, erschien Wolffs Neuerzählung des Leben Jesu, bevor er sich 2017 mit Als ich ein Junge war seinem eigenen Leben widmete und den Leser einlud auf eine unterhaltsam-nostalgische Reise in seine Kindheit und Jugend in Münster von seiner Geburt 1955 bis zum Abitur 1975. A splendid time is guaranteed for all. – Und nun also: Hans Blumenberg.
In einem Gespräch mit Heimo Schwilk und Rüdiger Safranski verriet Uwe Wolff im Frühjahr 2011: »Was ich schreibe, kann ich nur in dem Bewusstsein veröffentlichen, dass es letztlich auch der Familie dient. Ich muss also ein grundsätzlich positives Verhältnis zu dem Porträtierten haben. Das Berührende meiner Arbeit ist, dass ich mich in allen drei Fällen [Anneliese Michel, Walter Nigg und Edzard Schaper] in die Biografie mit hineingeschrieben habe.« Und genau dieses Mit-Hineinschreiben wird gleich im ersten Kapitel der Wolffschen Erinnerungen an Hans Blumenberg deutlich: Der Autor tritt sowohl in einen Dialog mit seinem Lehrer als auch mit Vergangenheiten ein. Der Inhalt der Schreibtischschubladen aktiviert die mémoire voluntaire: Auf engstem Raum erschafft Wolff temporale Konvergenzen, wenn er etwa kurze Ausflüge in die Herkunftsgeschichte der Blumenbergs im Hildesheimer Land bis ins späte 18. Jahrhundert unternimmt oder die Anfangszeit des Kunstverlages J. C. Blumenberg in Lübeck nach dem Ersten Weltkrieg mit Blick auf die konfessionelle Topographie skizziert. Im weiteren Verlauf seiner Erinnerungsarbeit flechtet er die eigene Lebensgeschichte in diejenige Blumenbergs ein, läßt dadurch subtil unterschiedliche Zeiten und Lebenswege ineinanderfließen, was an das Schreiben W. G. Sebalds erinnert. Wolffs Methode könnte anhand des in der Kunstgeschichte intensiv diskutierten, 1656 entstandenen Gemäldes »Las Meninas« des spanischen Barockmalers Diego Velázquez (1599-1660) veranschaulicht werden: Der dort dargestellte Maler ist Uwe Wolff, das Gemälde, das nur von hinten zu sehen ist, ist der Schreibtisch des Philosophen, an dem Wolff seine Erinnerungen niederschreibt. Die Figurengruppe rechts neben dem Maler könnte als Personifikation der Blumenbergschen Themen und Bücher aufgefaßt werden, während Blumenberg selbst, sprich das Modell, indes nur indirekt erscheint, und zwar in einem hinter dem Maler an der Wand hängenden Spiegel. Der zweite Beobachter, der erhöht auf einer Treppe in einem Türrahmen steht und als einziger die Szenerie voyeurhaft überblickt, das sind wir, das ist der Leser. Michel Foucault (1926-1984), der sich im ersten Kapitel von Die Ordnung der Dinge dem Raum und den Blickrichtungen der Velázquezschen »Hoffräulein« widmet, verweist auf die Differenz von Bild und Text, was auch auf das Verhältnis von Leben und Biographie Anwendung finden kann: »Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist.«
Gemäldeeingänge: Las Meninas o La familia de Felipe IV, pintura de Diego Velázquez (1656) (Public domain)
Man kann Der Schreibtisch des Philosophen einerseits als Fortführung der Wolffschen Autobiographie lesen; andererseits erscheint das Erinnerungsbuch an den Hochschullehrer wie eine alternative Fassung der 2018 in die Kinos gekommenen Roadmovie-Dokumentation Hans Blumenberg. Der unsichtbare Philosoph. Die Nichttreffen und Verfehlungen, von denen etwa Henning Ritter, Martin Mayer oder Michael Krüger berichten, sind essentieller und faszinierender Teil des Blumenberg-Mythos: Hans Blumenberg als Meister des Sich-Entziehens und Sich-Distanzierens, als philosophischer Doppelgänger Thomas Pynchons, ja fast könnte man den Eindruck gewinnen, er sei eine literarische Figur, die sich Sibylle Lewitscharoff ausgedacht habe! Wer am 28. September 2011 in der Stadtbücherei Münster zugegen war, der wurde nicht nur Zeuge einer eindringlichen Lesung Lewitscharoffs aus ihrem Roman Blumenberg, sondern auch Beobachter einer lebhaften Debatte, in der sich ehemalige Blumenberg-Schüler sowohl anerkennend als auch kritisch zu Wort meldeten. Während sich die Kritik hauptsächlich auf die überzeichnete, fiktive Darstellung des Philosophen bezog (das Schlagwort »Bilderverbot« durchzog das Auditorium), zollte man Lewitscharoff Anerkennung für die realistische Beschreibung der Vorlesungsatmosphäre, wie sie im »Coca-Cola«-Kapitel nachzulesen ist.
Diese Realitätsnähe ist Uwe Wolffs ›Beraterfunktion‹ geschuldet: Wolff erzählte Lewitscharoff nicht nur von Blumenberg, er gewährte ihr auch Einsicht in den Briefwechsel mit seinem Lehrer. Und nun zeichnet Wolff selbst ein ganz persönliches Bild mit seinem Erinnerungsbuch. Gerade die Kapitel über Blumenbergs Vorlesungen (pp. 16-40) und seine Sprechstunden (pp. 41-57), in denen es zunächst zum distanzierten, dann zum direkten Kontakt kommt, tragen dazu bei, den Menschen hinter dem großen und mythenumrankten Autorennamen zu zeigen und ihn nicht zuletzt durch seinen Humor nahbar und sichtbar zu machen.
Als Uwe Wolff 1977 nach einer ›Extrarunde‹ auf dem Gymnasium und dem zweijährigen Zivildienst das Studium aufnahm, hatte Hans Blumenberg nach Stationen in Hamburg (1958-1960), Gießen (1960-1965) und Bochum (1965-1970) bereits seit sieben Jahren den Lehrstuhl für praktische Philosophie in Münster als Nachfolger Joachim Ritters (1903-1974) inne, zu dem er »seit den sechziger Jahren [ein] sachlich und wissenschaftsorganisatorisch […] stark rivalisierendes Verhältnis« entwickelte. Wolff hatte während seiner Gymnasialzeit schon einige Pädagogen erlebt, die ihn beeindruckten, etwa den Erdkundelehrer Flözotto (»Das war authentischer Unterricht«), den Kunstlehrer Bernd Beckebanze (ein »humorvoller Erzieher. Wir liebten seinen Unterricht«) oder Nikolaus Frings, Deutschlehrer »mit geistiger Autorität«.
Barockeingänge: Das zwischen 1767 und 1787 erbaute Fürstbischöfliche Schloß in Münster, in dessen Nordflügel (rechts) Blumenbergs berühmte Vorlesungen stattfanden (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
Hans Blumenberg begann im Sommersemester 1970 am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das zu dem Zeitpunkt noch in der Johannisstraße 12-20 untergebracht war. Birgit Recki vermutet – »da mehr Lehrveranstaltungen mit ›N. N.‹ gekennzeichnet sind, als Blumenbergs Deputat umfasste« –, der aus Bochum Kommende könnte die folgenden drei Veranstaltungen während seines ersten Semesters in Münster angeboten haben: die Vorlesung »Einführung in die Phänomenologie«, donnerstags von 15 bis 17 Uhr; das Seminar »Was bleibt von der Geschichtsphilosophie«, donnerstags von 18 bis 20 Uhr sowie das Seminar »Thomas Hobbes, Vom Menschen – Vom Bürger«, freitags von 11 bis 13 Uhr. Ab dem Sommersemester 1978 – nach einem Forschungsfreisemester im Winter 1977/78 und kurz nachdem Wolff ins Studentenleben eingestiegen war – hielt Blumenberg nur noch Vorlesungen. Der 1951 geborene Münsteraner Sprachwissenschaftler und Blumenberg-Schüler Eckard Rolf hat diese Entwicklung 2009 in einem aufschlußreichen ›Insider-Bericht‹ für die FAZ erklärt: »Dass die Universität mit der von ihr gewährten Möglichkeit, Vorlesungen zu halten, für die Entfaltung des Blumenbergschen Œuvres eine konstitutive Rolle gespielt hat, steht außer Frage: Einer fortgeschrittenen, lernbegierigen Zuhörerschaft anhand von Stichworten und Zitaten auf Karteikarten druckreife Überlegungen höchster Originalität vortragen und so noch einmal erproben zu können war ein nicht zu unterschätzender Schritt auf dem Wege zur Veröffentlichung. Seminare, Kolloquien oder Oberseminare hingegen, in denen wirkliche Gesprächspartner Mangelware waren und Assistenten versuchten, Diskussionen vom Zaun zu brechen oder die Rolle des Advocatus Diaboli zu übernehmen, waren eher lästig, vergleichsweise unfruchtbar und mit Verlusten an Lebens-, und dies hieß vor allem: Schaffenszeit verbunden.«
Studieneingänge: Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis des Philosophischen Seminars der WWU Münster, Sommersemester 1985. Blumenbergs letzte Veranstaltungen, ohne Kommentar (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2020)
Der Theologie-, Germanistik-, Pädagogik- und Philosophie-Student Wolff erkannte in Blumenberg »sofort den Theologen und einen Obersten der Schule« (p. 19), der zwar seinen katholischen »Glauben verloren« hatte, jedoch »nicht die Liebe zur Kirche […], obwohl sie«, wie es Blumenberg selbst in seinem letzten Brief ausdrückte, »mich nicht einmal beerdigen darf (ich zahle die Steuer, die mir einen eigenen Exorzisten ermöglichen würde).« Im Gegensatz zu einem anderen, einhundertfünfzig Jahre älteren Jubilar des Jahres 2020, Friedrich Hölderlin, hat Blumenberg also die »Galeere der Theologie« nie ganz verlassen. Wolff schreibt mit Emphase über seine Faszination der Blumenbergschen Andersartigkeit und vom Erzähltalent des Professors: »Er schöpfte aus dem Vollen.« (p. 21) Dann beschreibt er den Vorlesungsbeginn: »Der Lehrer legte sein Typoskript auf das Pult und wartete, bis absolute Stille eingetreten war. So wurde das Klicken der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders von Thomas Sternberg [der seit 2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ist] hörbar. Blumenberg mochte Aufnahmegeräte und duldete auch Mikrophone vor seinem Pult, gaben sie doch seinen Vorlesungen jene Aura aus Messe und Happening, in der sich Weihe und Witz zu höherer Heiterkeit verbanden.« (pp. 22-3) Das Setting ähnelt sehr demjenigen der Vorlesungen, die Michel Foucault zur selben Zeit, von 1971 bis zu seinem Tod 1984, am Collège de France hielt. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Professoren: Während Blumenberg nicht den Wunsch hegte, das Vorgestellte mit dem Plenum zu diskutieren und bereits um »15.43 Uhr, noch inmitten der Entwicklung der Pointe, […] den letzten Satz formulierend, durch die Seitentür« (p. 40) entschwand, bedauerte es Foucault sehr, daß bei Vorlesungsende keinerlei Feedback entstand: »Die Studenten stürzen zu seinem Pult. Nicht um mit ihm zu sprechen, sondern um die Kassettenrekorder abzuschalten. Niemand fragt etwas. In dem Tohuwabohu ist Foucault allein.« In welchem Hörsaal herrscht heute noch eine solche Atmosphäre!
In Anspielung auf Dorit Krusches FAZ-Artikel über einen philosophischen Crash-Kurs im Bildungszentrum für höhere Postbeamte in Bargteheide, wo Blumenberg vor seiner akademischen Karriere am 16. und 19. Juli 1954 im Haus »Malepartus« – die Bezeichnung des Fuchsbaus in der Tierfabel – zum Thema »Richtiges Denken« sprach, bezeichnet Wolff den Münsteraner Hörsaal S 8 im Schloß ebenfalls so: »Offensichtlich brauchte Blumenberg Fluchtwege. Denn er betrat seinen Fuchsbau durch einen verborgenen Seiteneingang wie ein Schauspieler, der plötzlich auf der Bühne erscheint und den niemand kommen sah […].« (p. 34) Daß dieser Vergleich auch eine etymologische Dimension besitzt, belegt eine Fußnote in Ernst Robert Curtius’ wirkmächtiger Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter: »In Byzanz heißt philosophos der ›Gebildete‹, aber auch der Fuchs im Tierepos.« – Ein Fuchs, dieser Blumenberg, der stets ein Auge für und ein Verlangen nach Fluchtröhren besaß, die den vulpischen Hauptröhren weitsichtig und geradezu ausgefuchst beigefügt sind. (Es sei daran erinnert, daß der sechste Teil der Höhlenausgänge mit »Fuchsbauten« überschrieben ist.) Das Indirekte, nur Angedeutete, das Umwegige, das die Distanz vergrößert, aber auch die absichtlichen Leerstellen, zu denen Tobias Mayer »auch das Biographische, das Blumenberg streng vor dem Zugriff der Öffentlichkeit zu schützen pflegte« zählt, charakterisieren sowohl Werk als auch Leben des »passionierte[n] Grenzgänger[s] im Clair-obscur der Kulturwissenschaften«.
Hörsaaleingänge: Einer der beiden Zugänge zu Hörsaal H 158 (S 8) in der ersten Etage des Münsteraner Schlosses (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
»Ein echter Lehrer«, erklärt Uwe Wolff 2017 in Als ich ein Junge war, »hat einen Blick für die anvertrauten Talente. Manchmal geschieht diese Befreiung in ganz anderer Weise und mit einer anderen Richtung, als sie im Plan des Erziehers lag. Unterricht ist Begegnung. So liegt in aller Pädagogik ein unverfügbares Glück des Gelingens. Wohin es führt, weiß niemand im Voraus zu sagen. Mancher Erzieher wird niemals etwas von der Wirkung seines pädagogischen Tuns erfahren.« Wolff erlebte Blumenberg als eindrücklichen Pädagogen, der Bildung als formatio, als Menschen- und Persönlichkeitsbildung begriff, als einen Lehrer, »von dem ich nichts wollte und deshalb vieles bekam« (p. 17), als einen Philosophen, »der seine Zuhörer nicht nur belehren, sondern unterhalten wollte« (p. 35). Diesen Unterhaltungswert betont auch Birgit Recki, deren 1984 eingereichte Dissertation Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno in Blumenberg einen Zweitgutachter fand: »Nicht selten hätte man den Eindruck haben können, dass sich Blumenberg dabei [der scharfsinnigen Kritik an den vorgestellten Theorien] vor allem der von Shaftesbury empfohlenen Methode des Test of Ridicule bediente; sein Sense of Wit and Humor jedenfalls, sein ausgeprägter Sinn für die tiefere methodische Bedeutung von Scherz, Satire, Humor und Ironie darf als gelungene Verkörperung dessen gelten, was dem schottischen Aufklärer vorgeschwebt haben mag.«
Bibliothekseingänge: Neu-, An- und Umbau des Philosophikums der WWU Münster (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
Wolffs direkter Kontakt mit seinem Lehrer fand in den Freitagssprechstunden ab 17 Uhr in Blumenbergs Büro im Philosophikum am Domplatz statt, das erst kürzlich nach vierjähriger Sanierungsarbeit für 17,6 Millionen Euro zum Wintersemester 2017/18 in neuem, sandfarbenem Glanz erstrahlte, von dem sich sicherlich auch Blumenberg gerne hätte blenden lassen wollen, stand er dem Gebäude an sich oder genauer: der Lokalisierung desselben doch skeptisch gegenüber: »Niehues-Pröbsting«, so Helmut Jasny in der Münsterschen Zeitung, »erinnert sich an das Wintersemester 1980/81, als das Philosophische Seminar an den Domplatz zog. Blumenberg hatte den Ortswechsel missbilligt und mit Blick auf den Dom angemerkt: ›Wir müssen Abstand zu denen da halten.‹« Wolff beschreibt die Aussicht: »Vom Fenster des Arbeitszimmers war der gesamte Domkomplex überschaubar: zur Linken die Wohnungen der Domherren, zur Rechten das Priesterseminar Collegium Borromaeum.« (p. 50-1) Und während Blumenberg mit dem Philosophischen Seminar näher an die katholische Kirche rückte – der Dreizehnjährige war bereits am 28. Oktober 1933 mit seinem Vater erstmals in Münster gewesen, und zwar zur Bischofsweihe Clemens August Graf von Galens –, so verringerte sich auch der Abstand zu seinem Schüler Uwe Wolff, denn von der Vorlesung, in der Wolff den Lehrer aus der Distanz staunend erlebt hatte, näherte er sich schriftlich an, um Fragen zu stellen, ganz wie es Blumenberg angeordnet hatte: »Ich stellte Hans Blumenberg meine Fragen und erhielt prompt schriftliche Antworten. Zuerst in Form von Literaturhinweisen, die er auf weiße Karteikarten eigenhändig getippt hatte. Dann kamen Kopien und witzig kommentierte Zeitungsausschnitte, schließlich Kurzmitteilungen, später umfangreiche Briefe. Sie führten weiter.« (p. 42)
Haupteingänge: Das Philosophische Seminar der WWU Münster am Domplatz 23 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
Man darf nicht vergessen, daß es sich bei den Wolffschen Erinnerungen auch und zunächst um – Erinnerungen handelt, sprich um subjektive Eindrücke, die vierzig Jahre zurückliegen. So wirft der Autor in bündigen Absätzen stichpunktartig Charakteristika und Anekdotenhaftes seines Lehrers auf die Seiten – von energie- und humorvoll über up-to-date, robust, schriftstellerisch talentiert und gelassen, hin zu geheimniskrämerisch, indirekt mitteilend, provokant, lästernd etc. pp. –, was aufgrund chronologischer und thematischer Sprünge nur Freunden des Fragmentarischen oder des stream of consciousness gefallen dürfte. Hier durchmischt sich auf struktureller Ebene mehr und mehr die mémoire voluntaire mit der mémoire involuntaire, hier werden die persönlichen Erinnerungen mit historischen Sekundärquellen ergänzt, was an den Abschweifungen zu Kurt und Barbara Aland, Ferdinand Fellmann, Karl-Heinz Gerschmann, zu Blumenbergs 1955 unternommener Ägypten-Reise, Auslassungen über Zahnheilkunde oder Hans Carossas Gedichte abzulesen ist – sehr viel Input auf sehr geringem Raum! Dennoch tragen diese Gesprächs- und ›Nebenthemen‹, diese (auto-)biographischen Fitzel, auch zu einem lebendigeren Gesamtbild Hans Blumenbergs bei, der eingebettet wird in ein Figurenkabinett aus Assistenten, Freunden, Lehrern, zu denen Wolff jeweils prägnante biographische Skizzen en passant anfertigt. Sicherlich verfaßte auch Uwe Wolff seine Blumenberg-Hommage mit einer ähnlichen Intention, wie sie der Journalist Hans von Hülsen (1890-1968) in der Vorrede seiner 1947 publizierten Erinnerungen an Gerhart Hauptmann formuliert hat: »Ich habe es [Hauptmanns Leben] ganz schlicht erzählt, genau so, wie es mir an schönen und auch an stürmischen Tagen einst geschenkt wurde, ohne das geringste Streben, den, von dem dieses Büchlein handelt, zu stilisieren, zu idealisieren oder schöner zu machen als er war. […] Er [Hauptmann] war eines der größten Erlebnisse meines Lebens. Jeder Gedanke an ihn ist Dank gegen ihn.«
Zu den besonderen Gedanken an seinen Lehrer zählt Wolffs Schilderung der Sprechstunde: »In diesen späten Freitagnachmittagen war Blumenberg ein unkomplizierter Plauderer, der die Zeit und den armen Tobias vor der Tür vergaß. Wenn ich in den Wintermonaten das Zimmer betrat, war die Dämmerung auf dem Domplatz bereits eingebrochen. Dennoch schaltete Blumenberg das Licht der Stehlampe nicht an. So sprachen wir in die zunehmende Dunkelheit hinein. Bald erklang von den Glocken des Domes das Angelusläuten und begleitete das Gespräch. Je dunkler es wurde, desto lebendiger erzählte er oder ließ sich erzählen.« (p. 51) Im Plauderton verließ man gemeinsam nach und nach das wahrheitsversprechende Licht und tauchte ab in die Finsternis, in der Platz war für freies, ungezwungenes Gerede, frei von Studieninhalten und Prüfungsfragen. Während einer dieser Sprechstunden schenkte Blumenberg seinem Schüler kurz vor Weihnachten die dreibändige Taschenbuchausgabe seiner Genesis der kopernikanischen Welt sowie einen Hermann-Hesse-Bildband, den Wolff am folgenden Tag in der Münsteraner Buchhandlung Poertgen-Herder gegen eine Freud-Bildbiographie eintauschte. »Der Lehrer lachte herzlich, als er später von dem Wechsel erfuhr.« (p. 57)
Literatureingänge: Die am 1. Januar 1892 gegründete Buchhandlung Poertgen-Herder in der Salzstraße 56 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
Uwe Wolffs persönliche Erinnerungen an den Philosophen, die weniger vom Duktus des 1967 geborenen Autors Andreas Maier und dessen auf elf Bände konzipierte autobiographische Romanserie haben als es noch Wolffs Rückblick auf seine eigene Kindheit und Jugend in Münster hatte, sind in nostalgischem, ruhigem, geradezu religiös prononciertem Ton gehalten. Bei aller Bewunderung und Faszination, die er Blumenberg gegenüber ausdrückt, bleibt er diskret und auf den Geistesmenschen fokussiert, auch wenn Wolff, der, laut Ulrike Posches Beschreibung in der Weihnachtsausgabe 2019 des Magazins Stern, zu einem Pullover »die langen grauen Haare im Nacken gebunden« trägt, an einer Stelle über Blumenbergs »grauen, leicht gewellten Haarkranz« und die »zu jeder Jahreszeit getragenen Polo-Shirts mit den weiten Kragen«, aus denen »das buschige graue Brusthaar« hervorquoll (p. 34), schreibt.
In den diesen persönlichen Erinnerungen folgenden Kapiteln 4 und 5, die sich Blumenbergs Jugend und der Kriegszeit widmen, beginnt Wolff – da hier sein Erinnern nicht greifen kann – aus Quellen zu erzählen, wie er es schon vor gut sechs Jahren in seinem lesenswerten und informativen sechzehnseitigen Aufsatz in der IKaZ mit Fokus auf »Blumenbergs katholische Wurzeln« geleistet hat, einer – in den Worten Jürgen Kaubes – »fabelhaften biographischen Skizze zu den frühen Jahren Blumenbergs«. Der siebenundzwanzigjährige Hans Blumenberg selbst hat seiner Dissertation einen kurzen Lebenslauf beigefügt, der die wesentlichen Stationen aufführt: »Geboren am 13. Juli 1920 zu Lübeck als Sohn des Kaufmanns J. C. Blumenberg, deutscher Staatsangehörigkeit, habe ich nach der Grundschule das Gymnasium des Lübecker Katharineums besucht und dort 1939 das Reifezeugnis erhalten. Sodann studierte ich scholastische und neuthomistische Philosophie, und zwar 1 Semester an der Philosophisch-theologischen Akademie in Paderborn und 2 Semester an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen bei Frankfurt am Main, hier vor allem bei Caspar Nink. Nachdem ich 1941 mein Studium abbrechen musste, setzte ich meine Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philosophie, bis 1943 privat fort. Dann nahm ich eine Tätigkeit in der Industrie auf. Nach Kriegsende brachte ich mein philosophisches Studium an der Universität Hamburg, vor allem bei Ludwig Landgrebe, zum Abschluss. Als Nebenfächer wählte ich Griechisch und Deutsche Literatur.«
Uwe Wolff hat nach eigenen Angaben den gesamten Nachlaß Hans Blumenbergs in Marbach gelesen, soweit dieser Biographisches betreffe. Darunter findet sich, wie Julia Amslinger bemerkt, »kein geheimes Diarium«, das deutlicher oder tiefer in Leben, Gedanken oder Gefühle Blumenbergs blicken lassen könnte. Dennoch kann Wolff nun seinerseits aus dem Vollen schöpfen, und er ergänzt die Archivalien durch persönliche Kontakte, etwa zum Lübecker Arzt Ulrich Thoemmes, einem alten Schulfreund Blumenbergs, den Uwe Wolff bereits 1982 in dessen Funktion als Vorsitzender der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft kennengelernt hat, als dem damals sechsundzwanzigjährigen Autor der Thomas-Mann-Förderpreis verliehen wurde. Thoemmes konnte wertvolle Einblicke in die gemeinsame Schulzeit mit Blumenberg liefern. Wolff zeichnet das Bild einer schulischen Erziehung im Zeichen des Glaubens, in der Gebete und Gedichte eine wichtige Stellung einnahmen: die stillen Messen vor Unterrichtsbeginn, die strengen Ordensschwestern der Ursulinen als Lehrerinnen, der Dienst als Meßdiener, die Firmung, schließlich der Wunsch, Katholische Theologie zu studieren, wie viele seiner Vorfahren – dies waren die ersten prägenden Etappen des als »Hans Joseph Konrad Blumenberg um 12.10 Uhr« (p. 59) am 13. Juli 1920 Geborenen.
Doch zunächst wartete die Schulzeit im 1531 gegründeten Lübecker Gymnasium Katharineum auf Hans Blumenberg, eine Bildungseinrichtung, die »schon Thomas Mann die Ehre vorenthalten hat, sie bis zum Abschluß zu besuchen«, wie es in Blumenbergs 1988 publizierter Matthäuspassion heißt. Mann »war, nachdem er insgesamt dreimal sitzengeblieben war, als Untersekundaner von der Schule abgegangen.« Gänzlich konträr zum prominenten ehemaligen Schüler verließ Blumenberg das Katharineum 1939 nicht nur als Klassenprimus, sondern auch als bester Abiturient ganz Schleswig-Holsteins. Durch die Entlassung Georg Rosenthals (1874-1934) am 1. Juli 1933 als Direktor und dessen Suizid acht Monate später »erkannte Hans Blumenberg im Spiegel von Rosenthals Schicksal die eigene Bedrohung« (p. 65), galt er doch im Weltbild der Nationalsozialisten »ab 1935 als ›Mischling ersten Grades‹ bzw. ›Halbjude‹.« In seiner Rezension von Jörg Fligges umfangreicher Studie Lübecker Schulen im »Dritten Reich« findet sich eine prägnante Summa Martin Thoemmes’, des Sohnes von Blumenbergs Schulfreund Ulrich: »Blumenberg fühlte sich von einem Teil seiner Mitschüler noch bis zum goldenen Abitursjubiläum gemobbt, durfte als bester Schüler zwar die Abiturientenrede schreiben, aber nicht vortragen, und wusste nach eigenen Angaben bis zum Schluss nicht, ob der Nazi-Direktor Robert Wolfanger ihm überhaupt das Reifezeugnis überreichen würde.«
Wolff beschreibt mit kühler, klarer Sprache und in prägnanten Sätzen die Veränderungen, die am renommierten Lübecker Gymnasium nach 1933 durchgeführt wurden: »Am Katharineum wehte nun die Fahne der Hitlerjugend.« (p. 66) Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hat in seiner Erzählung Die Ursache, dem 1975 erschienenen ersten Teil seiner fünfbändigen Autobiographie, die Substitution repressiver Requisiten wie folgt beschrieben: »Im Innern des Internats hatte ich keine auffallenden Veränderungen feststellen können [nach Kriegsende], aber aus dem sogenannten Tagraum, in welchem wir in Nationalsozialismus erzogen worden waren, war jetzt die Kapelle geworden, anstelle des Vortragspultes […] war jetzt der Altar, und wo das Hitlerbild an der Wand war, hing jetzt ein großes Kreuz […].« Man muß diese Passage wohl rückwärts lesen, um ein Gefühl für Blumenbergs Schulzeit während der NS-Diktatur zu bekommen. Doch bleibt jedes Hineinfühlen in die Situation, jeder Versuch der Vorstellung der damals herrschenden Atmosphäre letztlich abstrakt und ungenügend. »Würde einer seinen Tod zu Protokoll geben«, heißt es unter der Überschrift »Das unerlebbare Letzte« in Blumenbergs Nachlaß-Textsammlung Goethe zum Beispiel, »würden wir es nicht verstehen. Noch weniger, als wir verstehen, wenn einer seinen Schmerz begreiflich machen will. Obwohl wir alle Schmerzen gehabt haben, so doch nicht diesen.« Ulrich Thoemmes’ eindringliche, 1984 veröffentlichte »Kindheitserinnerungen eines Lübecker Arztes« kommentierte Blumenberg einige Jahre später mit den Worten: »Der Erinnerungsraum des Arztes samt Inventar war auch der meinige, das Personal auch das meines Rückblicks, die Daten auch die meiner Schulgeschichte, deren Düsternis die des Freundes noch um einiges übertroffen haben mochte.«
Licht in diese Düsternis brachten Pädagogen von Format und Wirkung. Wolff nennt Hans Peters, einen »Kunsterzieher, bei dem sich Hans Blumenberg wohl fühlte.« (p. 68) Doch vor allen rangierte der Klassenlehrer Wilhelm Krüger, eine Art ›Proto-Blumenberg‹, in dem Uwe Wolff das Vorbildliche eines Pädagogen manifestiert sieht: »Das Beispiel dieses Lehrers zeigt die herausragende Bedeutung, die ein Schulmeister für das geistige Werden eines ihm anvertrauten Menschen haben kann. Es reicht zuweilen tiefer hinab, als alle spätere universitäre Bildung. Wilhelm Krüger hat Blumenberg entscheidend geprägt und den Lehrer in ihm erweckt. Krüger ließ seine Deutschstunden reihum von den Schülern protokollieren. Er forderte Achtsamkeit, Genauigkeit und Formbewusstsein. Krüger verkörperte für Blumenberg das Ideal des ritterlichen Menschen. Er war ein Vorbild an Esprit, ein treuer Freund und Weggefährte. […] Noch mehr aber wurde sein Deutschlehrer prägend für Hans Blumenbergs Stil der indirekten Mitteilung und der Verhüllung. Die Umschreibung, das zart Angedeutete, das Kryptische und Änigmatische waren früh eingeübte Stilformen, derer sich auch Wilhelm Krüger selbst in seinen Briefen von der Front bedienen sollte. Wer zu lesen verstand, dem teilte er die nackte Wahrheit in der Verhüllung mit. So wurde diese Schulzeit mit all ihren Facetten zu einem lebensweltlichen Hintergrund von Blumenbergs Philosophie.« (pp. 72-3)
Wolff präsentiert das Krisen- und Schicksalhafte in Blumenbergs Leben; er veranschaulicht »die zahllosen Bedrängnisse, Demütigungen und Verfolgungen einer Jugend im Nationalsozialismus« subtil, doch kraftvoll, mit schnörkelloser Attitüde. Mit der Schulzeit sollte die Düsternis jedoch längst nicht enden. »Wie sollte einer«, fragt Hans Blumenberg in Die Sorge geht über den Fluß, »vom Letzten und Vorletzten lehren können, wenn er ihm nicht ausgesetzt gewesen war?« Doch dieses Letzte und Vorletzte, dem Blumenberg im Katharineum erstmals begegnet war, sollte sich ihm noch nicht gänzlich in den Weg stellen, denn zunächst ging es recht vielversprechend für den Hochbegabten weiter: »Als einziger Priesteramtskandidat der Diözese Osnabrück immatrikuliert er sich an der Erzbischöflichen Philosophisch-Theologischen Akademie in Paderborn und wechselte anschließend auf die Jesuitenschule St. Georgen.« (pp. 77-8) Wolff bleibt bei seiner Schilderung dieser frühen Studienjahre auffallend still, gerade in Bezug auf Blumenbergs Lehrer in Paderborn und Frankfurt am Main (der Name Caspar Ninks etwa fällt kein einziges Mal); über diese erfährt man mehr in Benjamin Dahlkes und Matthias Laarmanns 2017 in ThGl veröffentlichtem Artikel über den jungen Priesteramtskandidaten aus Lübeck. Stattdessen rückt Wolff Walter Kropp in den Fokus, mit dem sich Blumenberg bei den Jesuiten in Sankt Georgen ein Zimmer teilte, und der erst am 27. November 2019 im Alter von einhundert Jahren in Herne sterben sollte. Beide verband eine lebenslange Freundschaft. Wolff zitiert ausführlich aus Kropps Nachruf auf dessen Freund Hans in der Studentenzeitung St. Georgen: »Der Viel-Wissende, Durchblickende und Weiter-Denkende beeindruckte mich tief« (p. 79), so Kropp dort.
Doch die verschärfte NS-Rassenpolitik sollte Blumenberg schon bald zum Abbruch seines Studiums zwingen, so daß er 1942 nach Lübeck zurückkehrte. Hier wird er nicht nur eine Leseliste, sondern auch seinen ersten Zettelkasten anlegen, zwei Projekte, die er jahrzehntelang mit Akribie fortführen wird. »Blumenbergs theologische Interessen«, erklärt Uwe Wolff, »sind dokumentiert durch ein von ihm angefertigtes Verzeichnis seiner Bibliothek, die im Feuer der Bombardierung Lübecks am 28. März 1942 [dem Todestag Blumenbergs vierundfünfzig Jahre später!] ein Opfer der Flammen wurde. Der Priesteramtskandidat hatte hier über 1500 theologische Titel gesammelt und teilweise von dem Lübecker Buchbinder Paul Vogel aufwändig binden lassen. Das Bibliotheksverzeichnis zeigt das theologische Profil eines jungen Mannes, der sich durch die Großzügigkeit seines Vaters sämtliche Bücherwünsche erfüllen kann. Nach seiner Entlassung aus dem Studium der Theologie findet Blumenberg Schutz durch Heinrich Dräger.« (p. 82) Dieser Otto Heinrich Dräger (1898-1986), Enkel des Drägerwerk-Gründers Johann Heinrich, stellte Hans Blumenberg als Einkäufer ein und rettete ihm so das Leben. Im Marbacher Nachlaß Blumenbergs findet sich ein Arbeitszeugnis, das Dräger Blumenberg im Sommer 1946 ausgestellt hat: »Herr Hans Blumenberg, geb. am 13.7.1920 in Lübeck, trat am 1.5.1943 als Angestellter bei uns ein und wurde auf kaufmännischem Arbeitsgebiet und im technischen Materialeinkauf eingesetzt. Obwohl ihm dieses Gebiet seinem bisherigen Werdegang nach ganz fremd war, arbeitete sich Herr Blumenberg überraschend schnell ein und konnte sehr bald mit wichtigen Arbeiten betraut werden und die Stellung des Leiters einer gesonderten Abteilung bekleiden. Die Geschäfte dieser Abteilung führte Herr Blumenberg unter den schwierigsten Verhältnissen mit großer Sicherheit und Umsicht.«
Wolff bleibt ob dieser dramatischen, lebensbedrohlichen Situation in seinem Erinnerungsbericht merkwürdig distanziert; statt biographischen Hintergrund zu liefern, wie er es 2014 in »›Den Mann, den alle schlagen, diesen schlägst du nicht.‹ Hans Blumenbergs katholische Wurzeln« detailliert und mustergültig getan hat, zeigt er jetzt, wie Blumenberg durch Lyrik die befürchtete Lagerhaft zu überstehen hoffte und schlägt vom Kriegsende aus die Brücke zur Vorlesung über »Lebenszeit und Weltzeit« des späteren Münsteraner Professors im Sommersemester 1982: »Die Enge der Zeit ist nicht nur Wurzel allen Bösen, sondern beschreibt das Selbstverständnis des ›Führers‹, der seine Lebenszeit und die Weltzeit wahnhaft zu synchronisieren versucht und schließlich mit dem eigenen Untergang die Welt in den Abgrund reißen will.« (pp. 85-6) Die Folgen des Kriegstraumas spürte vor allem Blumenbergs eigene Familie. Der Schwäbischen Zeitung verriet Tobias Blumenberg Ende 2019: »›Er [sein Vater] war nach seinen [sic!] Aufenthalt in einem Konzentrationslager für den Rest seines Lebens schlaflos – insgesamt 50 Jahre‹, sagt Blumenberg. 50 Jahre lang habe Hans Blumenberg Tabletten genommen und musste ständig die Dosis steigern. Diese Erfahrung und die Tablettensucht hätten ihn so geprägt, dass es [sic!] sich gegenüber uns Kindern sehr hart verhalten habe. ›Er hat mich geprügelt, gequält und hat keinen Sinn für meine Kindlichkeit aufgebracht‹, sagt er. ›Das hat dazu geführt, dass ich sehr gerne das Elternhaus verlassen habe.‹«
Im vorletzten Kapitel von Der Schreibtisch des Philosophen kehrt Uwe Wolff zur Schreibtischarbeit zurück und verbindet die eigene Angelologie mit derjenigen Blumenbergs: Inwieweit hat sich Blumenberg mit Engeln befaßt? Wie und wo sind ihm Engel begegnet? Hier treffen sich die Forschungsinteressen von Lehrer und Schüler. Im Jahre 2013 wurde Uwe Wolff das Udo-Keller-Stipendium für Gegenwartsforschung: Religion und Moderne zugesprochen, damit er über Vorarbeiten zu Hans Blumenbergs Angelologie und Dämonologie forschen konnte. Wolff schreibt: »Was mich an den Engeln faszinierte, war die Vielfalt der kulturgeschichtlichen Zeugnisse, ihre Allgegenwart in den Religionen, ihre Vernetzung mit biografischen Schlüsselerlebnissen, ihre Bedeutung für die Liturgie, das persönliche Weggeleit und ihr Mittlertum als Zugang zur Gottesfrage. Der Lehrer nahm Anteil an meinem Werden als Lehrer, mahnte aber zur ›Vorsicht im Umgang mit Engeln‹.« (p. 95) Mit diesem recht speziellen Kapitel beabsichtigt Wolff, den Dämonologen und Bibelleser Hans Blumenberg sichtbar zu machen, einerseits durch lange Zitate aus Blumenbergs Ende Dezember 1989 in der FAZ veröffentlichtem Artikel »Sollte der Teufel erlöst werden?«, andererseits durch Blumenbergs Haltung gegenüber der Überarbeitung der Zürcher Bibel: der Emeritus sah »im Dunkel der Überlieferung den Grund für eine Vielfalt von Bedeutsamkeit.« (p. 100)
»Eine Lebensbeschreibung«, läßt James Boswell seinen Dr. Johnson 1772 urteilen, »könne nur geben, wer mit dem Betreffenden gegessen und getrunken und gesellig verkehrt habe.« Wolff ist weder Boswell noch Eckermann; er ist Pädagoge, der den Stellenwert eines guten, prägenden, bildenden Lehrers deutlich machen will. Er schwelgt nicht in Erinnerungen an Hans Blumenberg. Vielmehr weckt er mit seinem bündigen und kundigen Rapport über einen Zeitgenossen, der vor Jahrhunderten gelebt zu haben scheint, Neugier und Interesse nicht nur an der Person und am Leben seines Lehrers, sondern gerade auch an dessen Werk. So ist dieser Erinnerungsbericht auch ein Reisebericht durch Zeiten und Orte, durch Biographien und Bildungsthemen, auf deren Kreuzungen sich Wolff selbst findet, indem er Blumenberg und dessen Umwegen nachspürt. Ganz deutlich wird dieses Gehen in den Schuhen des Lehrers im abschließenden Kapitel, das den apokalyptisch angehauchten Titel »In Nacht und Eis: Leben mit dem Weltuntergang« (p. 108) trägt. Hier kehrt Wolff in die frühe Kindheit Blumenbergs zurück und berichtet über die prägende Lektüre der Fram-Expedition des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen (1861-1930) des Neunjährigen im Herrenzimmer seiner Tante Marie: »Was der Knabe fröstelnd las, wurde zu einem Lebensthema.« (p. 109) Schon die ersten Sätze mußten den jungen Blumenberg gefesselt und seine Vorstellungskraft stimuliert haben: »Ungesehen und unbetreten, in mächtiger Todesruhe schlummerten die erstarrten Polargegenden unter ihrem unbefleckten Eismantel vom Anbeginn der Zeiten. In sein weißes Gewand gehüllt, streckte der gewaltige Riese seine feuchtkalten Eisglieder aus und brütete über Träumen von Jahrtausenden.« Die Forschungsreise in die Arktis, die Nansen zwischen 1893 und 1896 unternommen hat, faßt Uwe Wolff wie folgt zusammen: »›In Nacht und Eis‹ berichtet von dem unglaublichen Mut und der unbeugsamen Willenskraft eines Forschers, der mit seinem Fleiß widrigsten Lebensumständen trotzte und am Ende dennoch von den dunklen Schatten der Melancholie eingeholt wird. Das hohe Maß an Produktivität war die Kehrseite seiner Traurigkeit.« (p. 111) Wer würde bei dieser Passage nicht auch an das Leben und das Schicksal Hans Blumenbergs denken?
Das abschließende Kapitel der Wolffschen Memoiren ist das Kapitel der abschließenden Reisen, Reisen in die Arktis mit Fridtjof Nansen Ende des 19. Jahrhunderts und Uwe Wolff im Jahre 1995, auf der er auf eine Bibliothek im ewigen Eis der Rudolf-Insel auf Franz-Josef-Land stieß, »leinen- und ledergebundene Bücher, Regale vom Boden bis zur Decke gefüllt. Es mögen zehntausend Bände sein.« Blumenbergs einzige große Reise nach Ägypten 1955 findet eine ebenso kurze Erwähnung wie die Italienreise mit seinem Vater 1930. Es ist aber auch das Kapitel der metaphysischen Reisen, Reisen der Sinnsuche, allen voran Blumenbergs gewaltigste Lebensreise, die Matthäuspassion, »das Logbuch einer Fahrt in die Gottesfinsternis« (p. 118).
Wolffs Blumenberg-Brevier endet mit Erinnerungen an zwei seiner Münsteraner Lehrer: einerseits an »den Philosophen vom Blumengebirge« (p. 125), wie sich Blumenberg selbst gegenüber Wolff einmal humorvoll bezeichnete, und an den nur gut eine Woche nach dem Philosophen verstorbenen Mediävisten Friedrich Ohly (1914-1996) andererseits. An Ohly fand sich in Blumenbergs Schreibtisch noch ein adressierter, leerer Briefumschlag, wie Wolff im Typoskript erwähnt, ein Briefumschlag für einen Brief, den Blumenberg nie geschrieben hat oder nicht mehr schreiben konnte. »Auch dieser Schreiber leidet«, heißt es in Die Verführbarkeit des Philosophen, »wie es sich gehört. Er ist nur noch unentschlossen, woran und worunter. […] Die zähe Arbeit an der Selbststilisierung ist unvollendet und die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß er als ein Wallenstein des gedruckten Papiers in die Geschichte der akademischen Provinz eingehen wird. Es wird Zeit, der Sache ihre endgültige Färbung zu geben. Den Statistiken der Lebenserwartung nach ist der Punkt nicht fern, wo ihm die Feder mehr oder weniger sanft aus der Hand genommen wird.«
Apropos Schreibtisch! Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Uwe Wolff benutzte das titelgebende Möbelstück des »gelehrten Titan von Altenberge bei Münster« als ›MacGuffin‹, ein Objekt oder Ereignis, das der einflußreiche Filmregisseur Alfred Hitchcock (1899-1980) um 1939 populär gemacht hat und über das Blumenberg schrieb: »In dem nur durch seine Identität ausgezeichneten MacGuffin kondensiert sich ein Geheimnis, das für die Spanne der Handlung jeden Aufwand, jede Betriebsamkeit, jede Menge Leben rechtfertigt.« Der Schreibtisch ist das Holz des Anstoßes der Wolffschen Reflexionen, der Motor seiner Zeitreise in die eigene und die Blumenbergsche Vergangenheit, ein bedeutungsloses, mysteriöses Requisit, das der Leserschaft »jede Menge Leben« verspricht. Dieser gekonnte und subtile mobiliare Einsatz geht einher mit der glücklichen Tatsache, daß der Angelologe Wolff den Schreibtisch weniger als Sanctuarium betrachtet – auch wenn die Szenerie mit Bücherwand, Schreibtisch, MacBook, Ikone und Leonard-Cohen-LP, die die Ende August 2019 entstandene Photographie auf Seite 8 wiedergibt, etwas Reliquienhaftes ausstrahlt –, sondern vielmehr als Gebrauchsgegenstand mit spezieller Vorgeschichte und »zahlreiche[n] Ringe[n] von Tee- oder Kaffeepötten«.
Ortseingänge: Altenberge-Süd, Münsterstraße. Von hier aus sind es noch etwa zwei Kilometer bis zu Blumenbergs ehemaliger Adresse, Grüner Weg 30 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Februar 2020)
»Ihre Abwehr«, schreibt der Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) im Sommer 1973 an Blumenberg, »jeder weiterer kolloquialer Tätigkeit in Massenforen hat mich nachdenklich gestimmt. In der Tat springt weniger heraus, als wenn man intensiv am Schreibtisch arbeitet.« Wolffs Schreibtischarbeit an Blumenbergs Schreibtisch ist Erinnerungsarbeit an Blumenbergs Mythos. Sie läßt den ›unsichtbaren Philosophen‹ in der Weise sichtbar werden, in der er Uwe Wolff als Lehrer und Freund begegnet ist. Als Dirigent eines Erinnerungskonzertes und durch teilnehmende Beobachtung veranschaulicht Wolff, daß kein Leben singulär ist, daß es immer und überall Zusammenhänge, Beeinflussungen und Interaktionen gibt. And a rock feels no pain / And an island never cries – niemand ist ein Fels, niemand ist eine Insel.
Im FAZ-Fragebogen beantwortete Hans Blumenberg 1982 die Frage nach seiner »Lieblingsgestalt in der Geschichte« mit: »Sokrates, weil man von ihm wenig genug weiß, um sich alles denken zu können«. Blumenberg, der als Lübecker geboren wurde, dachte, schrieb und als Altenberger starb, gab bekanntlich wenig preis, vielleicht damit man sich alles, zumindest einiges denken konnte. Wolff hat mit seinem lesenswerten und nachdenklich stimmenden Erinnerungsbuch dieses Denkenkönnen reduziert; an der Sokrateshaftigkeit eines der produktivsten Gelehrten des 20. Jahrhunderts ändert dies glücklicherweise nur wenig.
Uwe Wolff Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg Claudius Verlag, München, 2020 ISBN 978-3-532-62850-8 € 16,00
Die PDF-Version dieses Textes, die mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen ist, kann hier heruntergeladen werden:
Nachdem wir in den vergangenen zwölf Monaten das 50. Jubiläum der Johnsonschen Jahrestage feiern konnten – die vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 notierten 366 Einträge füllen 1891 Romanseiten –, stieß ich auf ein weiteres, 20 Jahre älteres, literarisches Jubiläum: Die erste ›Reise‹ (man sollte vielleicht besser von verzweifelter Flucht sprechen, oder mit den Worten des Erzählers von »ständige[n] schuldbewußte[n] Ortswechsel[n]«), die Humbert Humbert mit seinem geliebten zwölfjährigen Nymphchen Dolores Haze in Vladimir Nabokovs skandalbehaftetem Roman Lolita (EA Olympia Press, Paris, 1955) unternimmt, fand zwischen August 1947 und August 1948 statt. Der obsessive Humbert berichtet von der amerikanischen Odyssee das Folgende: »Unsere Route in jenem verrückten Jahr [...] begann mit einer Reihe von Schleifen und Schnörkeln in Neuengland, schlängelte sich dann nach Süden, hinunter und wieder herauf, zum Atlantik hin und wieder vom Atlantik weg; tauchte tief in ce qu'on appelle Dixieland hinein, vermied Florida, weil dort die Farlows waren, schwenkte nach Westen, zickzackte durch Mais- und Baumwollzonen [...]; überquerte auf zwei verschiedenen Pässen die Rockies, streifte durch südliche Wüsten, wo wir überwinterten; erreichte den Stillen Ozean, wandte sich durch den lilafarbenen Flaum blühender Büsche am Rande von Waldstraßen nach Norden; erreichte fast die kanadische Grenze; verlief dann wieder nach Osten, durch Badlands wie durch gute Lande, zurück zur Landwirtschaft großen Stils, vermied trotz Klein-Los gellendem Protest Klein-Los Geburtsort in einer Gegend, die Mais, Kohle und Schweine produzierte, und kehrte schließlich in den Schoß des Ostens zurück, wo sie dann in der College-Stadt Beardsley zu Ende kam.« HAPPY 70TH ANNIVERSARY!
Vladimir Nabokov. Lolita. Deutsch von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, H. M. Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. 5. Aufl., Rowohlt, 2005, pp. 247-8, 282, 284. Gesammelte Werke, herausgegeben von Dieter E. Zimmer, Bd. VIII.
In der F.A.S. stoße ich auf ein literarisches Jubiläum bloomsdayesker Couleur: Der Romanbeginn von Uwe Johnsons zwischen 1970 – bereits im Juli erwähnte Siegfried Unseld das »Echo«, das den ersten Band zu einem Publikumserfolg machen würde – und 1983 erschienenen, fast 2000 Seiten umfassenden Jahrestagen jährt sich am heutigen Montag zum fünfzigsten Male. »Das Buch«, so die F.A.S., »hat 366 Tageseinträge – 1968 war ein Schaltjahr – und kann ein Jahr lang zum täglichen Lesebegleiter werden. Im Jubiläumsjahr würde diese Lektüreweise sogar mit einer besonderen Kongruenz belohnt werden. Denn auch der 21. August 2017 ist ein Montag.« Ich nehme diesen Hinweis sowie die damit verbundene Tageskongruenz als auch das 50. Jubiläum des Johnsonschen Jahrestage-Beginns zum Anlaß, mich endlich an dieses Mammutwerk heranzuwagen, und zwar Tag für Tag für Tag für Tag für…: »Aufklarendes Wetter in Nord-Viet Nam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi.«
Siegfried Unseld. Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Herausgegeben von Ulrike Anders, Raimund Fellinger, Katharina Karduck, Claus Kröger, Henning Marmulla und Wolfgang Schopf, Suhrkamp, 2010, p. 248. Siegfried Unseld Chronik, herausgegeben von Raimund Fellinger, Bd. 1.
Andreas Bernard. »Zurück zum Riverside Drive.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Aug. 2017, p. 41.
Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, p. 10.
Daß der am gestrigen 16. Juni von Aficionados moderner Literatur weltweit gefeierte 113. Bloomsday beinahe zwei Tage früher stattgefunden hätte, wissen viele Ulysses-Jünger nicht. Im ersten Brief des 22jährigen James Joyce an Nora Barnacle, datiert auf den 15. Juni 1904, heißt es: »I may be blind. I looked for a long time at a head of reddish-brown hair and decided it was not yours. I went home quite dejected. I would like to make an appointment but it might not suit you. I hope you will be kind enough to make one with me – if you have not forgotten me!« Den Hintergrund liefert der Kommentar zum Brief: »Sie [Nora] kam nicht zur vereinbarten Zeit [ebenjenem 14. Juni] und ihr [Noras und James’] erster gemeinsamer Spaziergang fand am folgenden Abend statt, dem 16. Juni.« Richard Ellmann erklärt: »An diesem 16. Juni trat er [Joyce] mit seiner Umwelt in Beziehung und ließ die Einsamkeit, die er seit dem Tod seiner Mutter verspürt hatte, hinter sich zurück. Später sagte er ihr [Nora] dann: ›Du hast mich zum Mann gemacht.‹ Der 16. Juni war der geheiligte Tag, der Stephen Dedalus, den rebellischen Jüngling, von Leopold Bloom, dem nachgiebigen Gatten, trennte.« So liegt den Feierlichkeiten zum Bloomsday – der wohl erste fand am 16. Juni 1929 unter dem Namen Déjeuner Ulysse im Hôtel Léopold in Les Vaux-de-Cernay, einem kleinen Dorf hinter Versailles, statt – eine Initiation zugrunde, die jedoch vom strahlenden, mehrdeutigen, detailreichen Plot des Ulysses gänzlich in den Schatten gestellt wird. Allerdings muß man weder um die biographischen Hintergründe dieses Datums wissen, noch ist die Lektüre des Romans eine Notwendigkeit, denn: »Yes, many people read Ulysses (as Monroe apparently did), but, as our Bloomsday celebrations show, one need not penetrate the mystery in order to recognize, and partake of, its prestige«, so Jonathan Goldman. Es bleibt dennoch zu hoffen, daß der Bloomsday viele Teilnehmer zum Lesen dieses ungeheuren Liebesbeweises motivieren wird.
Richard Ellmann. James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe, Suhrkamp, 1996, p. 248; p. XII. [Faksimile des Briefes]; p. 906.
James Joyce. Briefe an Nora. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Fritz Senn. 3. Aufl., Suhrkamp, 1996, p. 135.
»Ich muß sagen«, so Glenn Gould im zweiten Telefongespräch, das er 1974 mit dem amerikanischen Musikpublizisten Jonathan Cott für den Rolling Stone geführt hat, »daß ich damals wie heute darüber entsetzt war, was die Beatles der Popmusik angetan haben.« – Heute vor 50 Jahren, am 26. Mai 1967, erschien im Vereinigten Königreich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und aus Anlaß dieses runden Geburtstages wird – wie sollte es anders sein? – eine ›Deluxe Edition‹ dieses bahnbrechenden Albums veröffentlicht. Doch warum nur braucht die Welt einen Sgt.-Pepper-Stereo-Remix? Der für dieses Projekt verantwortlich zeichnende 47jährige Giles Martin, George Martins Sohn (der sich übrigens mit John Lennon den 9. Oktober als Geburtstag teilt), erklärt in einem hörenswerten Interview mit NPR: »What we do is we go back to the previous generation [the original tapes], so we’re mixing off generations of tape that they never mixed off. […] So it’s almost like a car that comes straight out of a paint shop. The tapes are glistening. What was recorded in ’67 sounds pure and crystal clear — there’s not any hiss or anything. And with this version of Sgt. Pepper that’s what we try to do — we’re trying to get you closer to the music.« Daß die ›Lackierung‹ durchaus hörbar ist, kann ich nur bestätigen; Songs wie »Lucy In The Sky With Diamonds« oder »She’s Leaving Home« heben sich deutlich von ihren bekannten Versionen ab, sie klingen frischer, prononcierter, ja geradezu erschütternd perfekt. Ob Glenn Gould, der von den Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zeit seines Lebens fasziniert war, seine Kritik zumindest abschwächen würde, könnte er diese neue Nähe zur Musik erleben, wie sie nun im 50 Jahre jungen Sgt. Pepper zum Ausdruck kommt?
»Lyrisch sein«, so schreibt der junge E. M. Cioran in seinem 1934 erschienenen Buch Auf den Gipfeln der Verzweiflung [Pe culmile disperării], »bedeutet, nicht in sich selbst verschlossen bleiben können.« Denke ich an Nick Drake, an sein viel zu kurzes Leben, aber vor allem an die Lyrizität seiner wie auf Wolken dahingleitenden Songs, bin ich froh, daß er sich der Welt nicht verschließen konnte. Höre ich seine hypnotisierende Musik, fällt mir sofort die Filigranität im Ausdruck auf, eine bambushafte Filigranität, mit der Drakes glasklare Sprache in lupenreinen Melodien hin- und herschwankt.
Nur drei Alben konnte der am 19. Juni 1948 im birmanischen Rangun geborene Nick Drake veröffentlichen, bevor er 1974 im Alter von nur 26 Jahren starb; er hatte zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 20.000 Alben verkauft. »He’s frozen forever in youth«, schreibt Peter Hogan in seinem 2009 erschienenen Nick Drake. The Complete guide to his music treffend. Und doch klingt die Musik, die dieser talentierte junge Mann in kürzester Zeit geschrieben, gespielt, gelebt hat, wie ein uralter Mythos, der von Fremdheit und Isolation, Natur und Großstadtleben erzählt.
Five Leaves Left, Nick Drakes Debüt-Album, wurde im September 1969 veröffentlicht. Es zeigt eindrücklich, wie sich eine neue, weise, traurige Stimme auf den hypertrophen Musikmarkt wagt und diesem mit größerer Sanftheit als Donovan und schärferer Verwegenheit als Dylan ihre ganz eigene Signatur aufprägt. Von Euphorie auf Kritikerseite ist allerdings kaum etwas zu finden. So fällt eine anonyme Besprechung des Albums im Melody Maker vom 26. Juli 1969 nicht nur auffallend zurückhaltend, ja kalt aus; sie ist in ihrer Kürze regelrecht erschreckend. Ich zitiere in toto aus Nick Drake. The Pink Moon Files (2011):
»NICK DRAKE: Five Leaves Left (Island) All smokers will recognise the meaning of the title – it refers to the five leaves left near the end of a packet of cigarette papers. It sounds poetic and so does composer, singer and guitarist Nick Drake. His debut album for Island is interesting.«
In gewisser Weise gleicht Drakes Dasein als unbekannter und unterschätzter, zurückhaltender, enigmatischer Künstler, der von geradezu buddhistischer Demut, Weisheit und Feinfühligkeit erfüllt zu sein schien, dem Schicksal Sixto Rodriguez’, auch wenn letzterem ein spätes Happy End beschieden war. Doch eines unterscheidet die beiden gravierend: Während Rodriguez seine vermeintliche Erfolglosigkeit akzeptiert hat und ein Leben fernab des Musikgeschäfts annahm, wurde Drake von Depressionen gelähmt, die durch seine scheue Natur und Introvertiertheit nur noch verstärkt wurden.
Nick Drake, der besser musikalisch als verbal kommunizieren konnte, führte in den fünf Jahren, die zwischen seinem ersten Album und seinem tragischen Tod liegen, ein nomadisches Leben, pendelnd zwischen Cambridge, wo er studierte, London, wo er bei Freunden wohnte und Musik machte, und Tanworth-in-Arden, wo seine Wurzeln lagen – ohne Geld, ohne Erfolg, ohne Ziel. Sein zweites Album, an dem Drake gut neun Monate arbeitete, erschien im November 1970 und trug einen seltsamen Titel: Bryter Layter. In Trevor Danns substantieller Biographie Darker Than the Deepest Sea. The Search for Nick Drake (2006) erfährt man:
»Echoing a familiar phrase from TV and radio weather forecasts, he [Drake] gave it [the album] an olde worlde spelling, according to Robert Kirby, ›as a bit of a joke‹, perhaps remembering the membership card of the Cambridge Loungers. But it was also an ironic title. The lyrics should have left no one in any doubt that their author was going downhill fast.«
In der Tat verschlechterte sich Drakes Zustand merklich; Erfolglosigkeit, Selbstzweifel und Depressionen trieben ihn immer tiefer in einen Teufelskreis hinein. Er zeigte schon autistische Züge. Um 1971/72 suchte der großgewachsene, schlanke Musiker einen Psychiater im St Thomas’s Hospital in London auf. Peter Hogan zeichnet das Bild eines apathischen Mannes: »In Nick’s later years, there are countless stories of him sitting in total silence, staring into nothingness.«
Doch Kraft und Konzentration sollten für ein letztes Album reichen: Pink Moon, das im Februar 1972 erschien und in nur zwei Nächten aufgenommen wurde. Nick Drake befand sich in einer äußerst depressiven Phase, als er die Songs schrieb, doch dieses melancholische Album sollte sich am besten verkaufen. Einige Monate nach Pink Moon hatte Drake einen Nervenzusammenbruch. Er kam für fünf Wochen ins Barnsley Hall Psychiatric Hospital nach Bromsgrove, wo er einen Antidepressiva-Cocktail erhielt. Danach ging es auch körperlich mit ihm bergab. Er zog zurück zu seinen Eltern und verließ das Haus nur noch für kurze Spaziergänge.
In der Nacht des 24. November 1974 hörte Nick Drake Bachs Brandenburgische Konzerte und ging früh schlafen. Er stand mitten in der Nacht noch einmal auf, um in der Küche Cornflakes zu essen, was bei seiner Schlaflosigkeit nicht unüblich war. Ob es sich nun um Suizid oder um eine unbeabsichtigte Überdosis Tryptizol gehandelt hat, wird wohl nie mit letzter Gewißheit beantwortet werden können. Fest steht, daß Drake wohl etwa 30 Tabletten genommen hatte – das Doppelte bis Dreifache der Tagesdosis!
Seine Mutter fand ihn gegen Mittag leblos in seinem Bett. Auf dem Nachttisch lag das letzte Buch, das er gelesen hatte: Albert Camus’ Mythos des Sisyphos. Nick Drakes Asche wurde am 2. Dezember auf dem Friedhof der St Mary Magdalene Church in Tanworth-in-Arden bestattet. Etwa 50 Freunde und Weggefährten nahmen an der Zeremonie teil. Auf seinem Grabstein finden sich die Worte: »Nick Drake, 1948-1974. Remembered with love.« Die Rückseite ziert ein Vers aus Nicks Song »From the Morning«: »Now we rise, and we are everywhere.«
»Pink Floyd’s success is difficult to analyse or explain.« Joe Boyd. White Bicycles. Making Music in the 1960s.
»WHERE ALL ROADS LEAD TO ROME«. So heißt es im Trailer des 1968 in die Kinos gekommenen Kriegsfilms Lo sbarco di Anzio mit Robert Mitchum als zynischem Kriegsreporter Dick Ennis in der Hauptrolle. Der Film basiert auf den 1961 erschienenen Erinnerungen Anzio des walisischen Reporters Wynford Vaughan-Thomas, der für die BBC von Kriegsschauplätzen in ganz Europa berichtete. Anzio thematisiert eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, die sogenannte »Operation Shingle«, beginnend am 22. Januar 1944 mit der Landung alliierter Truppen in der mittelitalienischen Region um Anzio und Nettuno, am Tyrrhenischen Meer gelegen. Ausgegebenes Ziel der Aktion: die ›Befreiung‹ Roms.
And the Anzio bridgehead Was held for the price Of a few hundred ordinary lives…
In einer amerikanischen Original-Dokumentation wird einer der alliierten Offiziere mit den Worten zitiert: »What you need to fight a war over this ground is an army of bulletproof kangaroos.« Der Sprecher fügt hinzu: »The kangaroos―to be effective—would have had to be amphibious as well as bulletproof.« Die topographischen Gegebenheiten standen den Alliierten als dritter Gegner neben deutschen und italienischen Soldaten gegenüber. »Operation Shingle« dauerte gut viereinhalb Monate und kostete etwa 12.000 Menschen das Leben; die Zahl der Verwundeten und Vermißten beträgt fast 67.000. Einer der Gefallenen war Second Lieutenant Eric Fletcher Waters, Dienstnummer 292975, 8th Bn., Royal Fusiliers (City of London Regiment).
It was just before dawn One miserable morning in black ’44…
Heute vor 30 Jahren, am 21. März 1983, erschien im Vereinigten Königreich das Konzept-Album The Final Cut, das einige Kritiker als das letzte Pink Floyd-, andere als Roger Waters’ erstes Solo-Album ansehen. (Kurt Loder sieht in seiner Rezension vom 14. April 1983 für das Rolling Stone Magazinegar in Pink Floyd nur noch ein Waterssches Pseudonym.) Für beide Sichtweisen lassen sich überzeugende Argumente finden. Daß Pink Floyd während oder spätestens nach dem 1979 veröffentlichten The Wall, dem meistverkauften Doppel-Album der Musikgeschichte, zerbrach, zeigt sich an dessen Nachfolger The Final Cut: Keyboarder Richard Wright war nicht mehr Mitglied der Band; Roger Waters schrieb die Musik, die mit der von Hugo Zuccarelli entwickelten ›holophonischen‹ Technik in nicht weniger als acht Studios aufgenommen wurde, und die kriegskritischen Texte des neuen Albums alleine; David Gilmour und Nick Mason fungierten lediglich als Gastmusiker mit äußerst sporadischem Einsatz. (Mason wurde gar als Handlanger zu Tonaufnahmen von Kriegsflugzeugen und quietschenden Autoreifen nach Warwickshire entsandt.) Vor diesem Hintergrund spiegelt sich die Kriegsthematik des Albums im Bandkonflikt wider – ein weiterer Grund, sich The Final Cut, das oft im Schatten von The Dark Side Of The Moon und The Wall steht, in seinem Jubiläumsjahr wieder anzuhören. (Ja, auch das ›Über-Album‹ von der dunklen Seite des Mondes feiert in diesem Jahr – und zwar in drei Tagen, am 24. März – einen runden, einen 40. Geburtstag, doch meine ich, daß The Final Cut mehr Aufmerksamkeit gebührt, als ihm bislang zuteil geworden ist.)
Bevor die Musik ertönt, empfiehlt es sich, einen genaueren Blick auf das Äußere des Albums zu werfen. Die Plattenhülle, die verschiedene Verdienstorden aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt, wurde von Roger Waters entworfen; sein Schwager Willie Christie steuerte die Fotos bei. Titel, Untertitel und Widmung sind nicht minder wichtig für die Setzung des Konzepts: »the final cut / a requiem for the post war dream / by roger waters / performed by pink floyd«, steht da, in Schreibmaschinen-Minuskeln gesetzt. Dazu kommt, ganz weit unten, quasi im Kleingedruckten: »for eric fletcher waters 1913 – 1944«. Waters’ Vater Eric Fletcher, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, fiel während der »Operation Shingle« am 18. Februar; sein Sohn Roger war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt: »I was just a child then, now I’m only a man«.
And kind old King George Sent mother a note When he heard that father was gone…
Als ein monothematisches Requiem soll dieses Album also fungieren, eine Begräbnisfeier für gefallene Soldaten und Angehörige, eine Totenmesse für den Nachkriegstraum, der durch die britische Regierung, durch Gier und Machtstreben zerstört worden ist: »By the cold and religious we were taken in hand / Shown how to feel good and told to feel bad / Tongue tied and terrified we learned how to pray / Now our feelings run deep and cold as the clay«. Mit den Worten: »Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis« beginnt der liturgische Introitus. The Final Cut begrüßt seinen Hörer direkt und stellt ihm Fragen: »Tell me true / Tell me why / Was Jesus crucified? / Was it for this that daddy died?«. Beiden Eröffnungssequenzen ist der flehentliche Ton gemein, ein Ton, der sich über die 46 Minuten des Albums mal weinerlich, mal quälend, mal anklagend, mal sarkastisch nuanciert (was mich an James Joyce’ Ulysses erinnert, genauer: an die ersten Worte des stattlich-feisten Buck Mulligan: »Introibo ad altare Dei«, der Beginn des Stufengebets). Damit wäre die persönlich-religiös-politische Ausrichtung des Albums markiert. Folgend die Tracklist:
1. The Post War Dream 2. Your Possible Pasts 3. One Of The Few 4. When The Tigers Broke Free 5. The Hero’s Return 6. The Gunner’s Dream 7. Paranoid Eyes 8. Get Your Filthy Hands Off My Desert 9. The Fletcher Memorial Home 10. Southampton Dock 11. The Final Cut 12. Not Now John 13. Two Suns In The Sunset
»When The Tigers Broke Free« wurde erst 2004 im Zuge der von EMI remasterten CD als Track 4 eingefügt und vergrößerte somit das Album auf insgesamt 13 Titel. Der Song paßt hervorragend in das Konzept von Verlust, Krieg und Schmerz: »They were all left behind / Most of them dead / The rest of them dying / And that’s how the High Command / Took my daddy from me«. Über dem gesamten Album liegt die trügerisch-wabernde Stille eines Kriegsmorgens, an dem der Schlachtennebel in der Luft hängt. Die Abwesenheit des Vaters schwingt in jeder gequält-flehenden Silbe Roger Waters’ mit, die auch der abwesende David Gilmour mit seiner markanten, kräftigeren Stimme nicht besser hätte interpretieren können. Ohnehin sticht Waters’ sehr prononcierte, akkurate Betonung heraus, was durch die 2011 erneut remasterte Version des Albums noch deutlicher wird. Diese Klarheit hat Roger Waters Bob Dylan, dem Ewignuschler, voraus, mit dem er sich als Geschichtenerzähler auf einer Stufe wissen kann. Hier schreit ein Kind den Verlust seines Vaters auf Platte, hier packt ein fast Vierzigjähriger seine Psyche zwischen zwei Albumdeckel, hier engagiert sich ein Künstler politisch und demonstriert gegen die falsche Politik, gegen den Unsinn des Tötens, zusätzlich befeuert durch den damals aktuellen Falklandkrieg: »Should we shout / Should we scream: / ›What happened to the post-war dream?‹ / Oh Maggie, Maggie what did we do?« Es gibt kaum ein zweites Album, das ein so überzeugendes, kohärentes Statement darstellt wie The Final Cut. Roger Waters untersucht hier nicht nur »possible pasts«; er lenkt den Blick auch auf eine »possible future« und die Gegenwart, in der sich die Geschichte zu wiederholen droht:
We showed Argentina Now let’s go and show these Make us feel tough And wouldn’t Maggie be pleased?
In Mark Blakes 2008 erschienener, vorbildlicher und höchst informativer Bandgeschichte Pigs Might Fly. The Inside Story Of Pink Floyd heißt es: »For Roger Waters, a songwriter informed by the shadow of war on his own life, this latest conflict [the Falklands conflict] was yet more grist to the mill. By the time Pink Floyd began work on a follow-up album to The Wall in July 1982, the war in the South Atlantic was foremost in his mind. The futile loss of lives on both sides was one factor, but there was also the belief that the conflict was being manipulated as a potential vote-winner in a country puffed up with nationalist pride. ›I’m not a pacifist,‹ said Waters. ›I think there are wars that have to be fought, unfortunately. I just don’t happen to think that the Falklands was one of them.‹« Die Frage, die sich Roger Waters bei der Konzeption des Albums gestellt haben könnte und die an die Dialektik der Aufklärung erinnert, lautet: ›Wie kann nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs so etwas wie ein Falklandkrieg überhaupt möglich sein?‹
Die 19minütige ›Video-EP‹ The Final Cut enthält die Songs: 1. The Gunner’s Dream, 2. The Final Cut, 3. Not Now John und 4. The Fletcher Memorial Home. Neben Roger Waters, der die Songs dem fiktiven Psychiater A. Parker-Marshall vorsingt, spielt der 2005 verstorbene Schotte Alex McAvoy, der bereits den Lehrer im Film The Wall dargestellt hat, die Hauptrolle.
Rund 400 Kilometer östlich der südamerikanischen Küste liegen die Islas Malvinas, die Falklandinseln, ein abgelegener Archipel, der seit seiner Entdeckung im 17. Jahrhundert abwechselnd und teils gleichzeitig unter spanischer, französischer, argentinischer und britischer Flagge stand. Die argentinische Militärjunta entschloß sich 1981, die Inseln zurückzuerobern, um dadurch an Popularität in der Bevölkerung zu gewinnen. Am 2. April 1982 wurden die Malvinen besetzt, was nach der britischen Truppenentsendung in einen blutigen, 74 Tage dauernden Krieg eskalierte, bei dem etwa 900 Menschen ums Leben kamen. Die Niederlage Argentiniens führte zum Sturz der Miltärjunta und zur Entmachtung des Diktators Leopoldo Galtieri. In Großbritannien erreichte Margaret Thatchers Beliebtheit ihren Höhepunkt. Wenn man ganz genau hinhört, wird der Falklandkrieg gleich zu Beginn von The Final Cut, in der vorgeschalteten Radio-Sequenz des Introitus-Songs »The Post War Dream« erwähnt (im oben eingefügten Video ist es deutlicher zu hören): »It was announced today, that the replacement for the Atlantic Conveyor the container ship lost in the Falklands conflict would be built in Japan, a spokesman for…« (Erst vor wenigen Wochen wurde der latent schwelende Konflikt erneut entfacht, doch diesmal auf demokratische Art: Die 1.672 wahlberechtigten Inselbewohner stimmten am 10. und 11. März 2013 in einem Referendum über ihren politischen Status ab: Bei einer Wahlbeteiligung von gut 92 Prozent votierten 98,8 Prozent für einen Verbleib unter britischer Herrschaft. Argentinien erkannte die Abstimmung nicht an.)
Brezhnev took Afghanistan Begin took Beirut Galtieri took the Union Jack And Maggie, over lunch one day, Took a cruiser with all hands Apparently, to make him give it back…
Militärische Auseinandersetzungen in den vierziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts bilden die Eckpunkte von The Final Cut. In ihm treffen sich Sūnzǐs gut 2.500 Jahre alte Kunst des Krieges, in der der Krieg mahnend als »Weg zum Weiterbestehen oder zum Untergang« definiert wird, und George Harrisons 1970 auf seinem Dreifachalbum All Things Must Pass herausgebrachte »Kunst des Sterbens«: »There’ll come a time when all your hopes are fading / When things that seemed so very plain / Become an awful pain / Searching for the truth among the lying / And answered when you’ve learned the art of dying«. Der letzte Schnitt vereint Frieden und Krieg, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, Kunst und Politik in überraschend zarten, sehr melodisch-melancholischen Klavier-, Streicher- und Akustik-Gitarren-Passagen, die urplötzlich von Waters’ teils gellenden, teils stranguliert klingenden Schreien, Raphael Ravenscrofts aufjaulenden Saxophon-Soli oder Ray Coopers Percussion-Bombenhagel unterbrochen werden.
Von diesem Bombenhagel ist jedoch »in the space between the heavens / And the corner of some foreign field«, einem scheinbar ort- und zeitlosen Areal, in dem ein Bordschütze einem Traum erliegt, nichts zu hören. Einzig der Wind durchströmt die Einsamkeit, untermalt vom zurückhaltend-reduzierten Klaviereinsatz Michael Kamens. »The Gunner’s Dream«, der erste Höhepunkt des Albums, nimmt seinen Hörer mit in luftige Höhen: »Floating down through the clouds«. Waters’ sanfte, ja rücksichtsvoll-einfühlsame Stimme erreicht hier ebenso wie seine poetische Kraft ihren Höhepunkt: »Goodbye Max / Goodbye Ma / After the service when you’re walking slowly to the car / And the silver in her hair shines in the cold November air / You hear the tolling bell and touch the silk in your lapel / And as the teardrops rise to meet the comfort of the band« – eine lange Pause setzt ein, die nur von einer fernen Kirchenglocke durchbrochen wird – »You take her frail hand« – wieder eine Pause, doch diesmal beendet Waters’ aufschreiende Stimme nebst Schlagzeug und Saxophon die Geborgenheit der Erinnerung: »And hold on to the dream!«
Nach dem aufrüttelnden Instrumentalteil geht es sanft weiter: »A place to stay / Enough to eat / Somewhere old heroes shuffle safely down the street / Where you can speak out loud about your doubts and fears / And what’s more / No one ever disappears / You never hear their standard issue kicking in your door«. Der Traum, der Nachkriegstraum, imaginiert eine friedliche Welt ohne Kriege, ohne Hunger, ohne Zensur – und ohne Attentate: »You can relax on both sides of the tracks / And maniacs don’t blow holes in bandsmen by remote control.« Mit Verweis auf zwei Nagelbombenattentate, die die IRA am 20. Juli 1982 während britischer Militärfeierlichkeiten im Hyde Park und im Regent’s Park durchgeführt hatte, knüpft Waters neben Zweitem Weltkrieg und Falklandkrieg einen dritten Gewalt-Faden in seinen Albumteppich ein. Bei den Londoner Anschlägen verloren elf Soldaten und sieben Pferde ihr Leben; mehr als 50 Personen wurden verletzt.
And everyone has recourse to the law And no one kills the children anymore…
Trotz der aussichtslosen Lage, den Nachkriegstraum jemals verwirklichen zu können, läßt Roger Waters nicht locker. Für eine bessere Welt erbaut er das »Fletcher Memorial Home«, eine psychiatrische Anstalt, in der »incurable tyrants and kings« untergebracht werden und so der Welt nicht mehr mit ihren Kriegs- und Vernichtungsspielen schaden können. Schon nach den ersten Takten des Songs ist man gebannt von Waters’ Stimme, die – man konnte es sich nicht vorstellen – noch eindringlicher, noch flehender, noch verletzlicher, zugleich noch anklagender, noch wütender, noch sarkastischer klingen kann: »Did they expect us to treat them with any respect?«, fragt er rhetorisch. Wie aus einem Kerker emporhallend fordert diese aufrüttelnde Stimme: »Take all your overgrown infants away somewhere / And build them a home / A little place of their own«. In »The Fletcher Memorial Home«, dem zweiten Höhepunkt von The Final Cut, wird es ganz deutlich: Es geht um Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung. In dieser temporalen Überschneidung konvergieren auch Weltgeschehen und Familiengeschichte: In die nach seinem Vater Eric Fletcher benannte Einrichtung weist Roger Waters Politiker aus der ganzen Welt ein: »Reagan and Haig / Mr. Begin and friend / Mrs. Thatcher and Paisley / Mr. Brezhnev and party / The ghost of McCarthy / And the memories of Nixon / And now adding colour / A group of anonymous Latin-American meat packing glitterati« – ein personales Potpourri in einer skurrilen Szenerie, das filmisch kongenial umgesetzt (und unter anderem mit Churchill, Hitler und Napoleon erweitert) wurde. Durch ein fantastisches, an »Comfortably Numb« vom Vorgängeralbum The Wall erinnerndes Gitarren-Solo David Gilmours muß »The Fletcher Memorial Home« zu den besten Pink Floyd-Songs gezählt werden.
Is everyone in? Are you having a nice time? Now the final solution can be applied…
Die Endlösung auf Diktatoren und Schurken angewandt – ein radikaler Gedanke! Glücklicherweise trägt das Album diesen morbid-inhumanen Beigeschmack nicht weiter. Im Gegenteil: Mit dem anschließenden »Southampton Dock«, einem teils als Sprechgesang vorgetragenen Klagelied an die heimkehrenden Kriegsteilnehmer, fokussiert Waters’ erneut das eigene vaterlose Schicksal: »When the fight was over / We spent what they had made / But in the bottom of our hearts / We felt the final cut« – eine perfekte Überleitung zum titelgebenden, von Depressionen, Selbstzweifeln und Suizidgedanken getränkten Song des Albums: »I held the blade in trembling hands«, doch die Courage, diesen letzten Schnitt auszuführen, kann das Ich nicht aufbringen. Oder handelt es sich etwa um eine Metapher, um den final cut im iron curtain? Wie so oft liegt dies im Auge des Betrachters.
Und wenn man genau hinschaut, gibt es über das ganze Album verstreut die unterschiedlichsten ›Augen-Blicke‹: Die »Paranoid Eyes«, hinter denen man sich ›verstecken, verstecken, verstecken‹ kann, sind ebenso wirkmächtig wie »petrified« oder »brown and mild eyes«. Als klassische Seelenfenster geben sie Auskunft über die Verfassung des Individuums – oder versuchen diese zu kaschieren. Zudem üben Augen als (elektronische) Überwachungsinstrumente Macht aus: »If you negotiate the minefield in the drive / And beat the dogs and cheat the cold electronic eyes«. Schließlich kann der Blick verzerrt sein, durch Tränen etwa oder gar als Zeichen extremer psychischer Instabilität: »Through the fish-eyed lens of tear stained eyes / I can barely define the shape of this moment in time«, heißt es in »The Final Cut«, wohingegen sich die Patienten des »Fletcher Memorial Home« sicherfühlen im »permanent gaze of a cold glass eye«. Es sind herrschende und verlorene Blicke, Blicke tiefster Trauer und Wut, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, die den Hörer von The Final Cut anblicken und ihm auch das Sehen, das Erkennen, das Begreifen lehren, was schon im lateinischen videre semantisch zusammengefaßt wurde.
Make them laugh Make them cry Make them lie down and die…
Doch damit nicht genug! Nach dem krachend-ätzenden, auch als Single herausgebrachten Stück »Not Now John« (das nicht, wie viele meinen, ein Tribute-Song für den 1980 ermordeten John Lennon ist; ein solcher findet sich auf About Face, dem im März 1984 veröffentlichten zweiten Solo-Album David Gilmours, mit dem prägnanten Titel »Murder«) erweitert Roger Waters die Sichtweise auf Konflikte, Kriege, Attentate mit der düsteren Vision eines atomaren final cut: »Two Suns In The Sunset«, das die letzten Momente vor der nuklearen Zerstörung beschreibt: »Ashes and diamonds / Foe and friend / We were all equal in the end«. Mit diesen durchaus positiven, hoffnungsvollen Worten vor der sicheren Vernichtung der Menschheit endet The Final Cut – und es endet in gewisser Weise aristotelisch: In »The Post War Dream«, dem ersten Song, ist von der »rising sun« die Rede; »Two Suns In The Sunset« läßt diese dann mitsamt der Welt untergehen. Dennoch: Waters’ Wut, Kritik und Anklage, seine Verzweiflung und Trauer scheinen sich in ein versöhnliches, sich in sein Schicksal ergebenes, wahre Werte erkennendes Subjekt transformiert zu haben. Kann man also von einem Happy End sprechen oder schwingt vielmehr Resignation und Ironie mit? Denn wenn man genau hinhört, gibt es noch eine letzte Radio-Sequenz, einen Auszug aus einem fiktiven Wetterbericht, der das Album abschließt: »Tomorrow will be cloudy with scattered showers spreading from the east… with an expected high of 4,000 degrees celsius…« Keine allzu schöne Prognose.
I saw the best minds of my generation destroyed by madness…
Mit The Final Cut hat Roger Waters, der am 6. September seinen 70. Geburtstag feiern wird, sein persönliches »Howl« geschaffen. Er hat Pink Floyd auch in einem neuen Jahrzehnt eine wichtige, hörbare, kritische Stimme gegeben – und dieser bis heute Gültigkeit und Kraft verliehen. Daß es sich dabei um einen Schwanengesang handelt, macht das Album auch vor dem Hintergrund der Kriegs-, Zerfalls- und Verlustthematik umso authentischer.
Take heed of his dream Take heed…
Pink Floyd The Final Cut. A Requiem For The Post War Dream Digital Remaster 2011 Pink Floyd Music Ltd. EMI
Während Google an diesem 22. Februar 2013 an Arthur Schopenhauers 225. Geburtstag erinnert, möchte ich auf Ferdinand de Saussures 100. Todestag hinweisen. Der folgende Text bildet die leicht überarbeitete Version eines Kapitels meiner Magisterarbeit Die Topographie des Labyrinths. Zur Semiotik des Raummodells in den Romanfragmenten Franz Kafkas aus dem Jahr 2006 ab.
Das Klassifizierungssystem, mit dessen Hilfe der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure (1857-1913) die Sprache betrachtet, ist zum Referenzobjekt strukturalistischer Analysen geworden. Indem Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan oder Roland Barthes de Saussures Methodologie über die Grenzen der Linguistik hinweg auf Ethnologie, Psychoanalyse oder die Mode anwandten, zeigten sie, daß menschliches Wissen und Handeln stets sprachlich manifestiert und somit zeichentheoretischen Ursprungs sind: »Ein Kleidungsstück, ein Auto, ein Fertiggericht, eine Geste, ein Film, ein Musikstück, ein Bild aus der Werbung, eine Wohnungseinrichtung, ein Zeitungstitel – offenbar lauter bunt zusammengewürfelte Gegenstände. Was können sie miteinander gemein haben? Zumindest dies: Sie alle sind Zeichen.« (Roland Barthes. »Die Machenschaften des Sinns.«)
Entscheidend dabei ist die Ansicht, daß jegliche Bedeutung systemimmanent – nämlich durch Differenzbildung an sich bedeutungsloser Elemente – generiert wird. Diese Fokussierung auf ein internes Beziehungsgeflecht ist für das Denken de Saussures ebenso charakteristisch wie die Beliebigkeit (Arbitrarität) des sprachlichen Zeichens*. Inwieweit es sich jedoch bei den Vorlesungsmitschriften der Jahre 1906-11, welche die Textgrundlage des Cours de linguistique générale bilden, tatsächlich um de Saussures Überlegungen handelt, bleibt Aufgabe der Editionsphilologie. Es wird im Folgenden aus der 3. Auflage der im Jahr 2001 bei Walter de Gryter erschienenen Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft zitiert. Sämtliche Belegstellen werden als Äußerungen de Saussures aufgefaßt.
Ferdinand de Saussure begreift Sprache – auf den bestimmten Artikel wird aufgrund des Universalitätsanspruches verzichtet – als eine »soziale Institution«, als Vermittlerin von Ideen. Dabei vertritt er konstruktivistische Ansichten, wenn er behauptet: »Man kann nicht einmal sagen, daß der Gegenstand früher vorhanden sei als der Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachtet; vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt erschafft; […].« De Saussure trennt Sprache (langue) vom Sprechen (parole) und damit »1. das Soziale vom Individuellen; 2. das Wesentliche vom Akzessorischen und mehr oder weniger Zufälligen«. Da de Saussure selbst auf die Unzulänglichkeiten einer adäquaten Übersetzung seiner Termini hinweist, werden im Folgenden auch die französischen Begriffe verwendet. Das Hauptaugenmerk des hier gegebenen Überblicks ruht auf der langue, ihrer semeologischen** Darstellung und ihrem Verhältnis zur Schrift.
Das sprachliche Zeichen (signe) ist laut de Saussure eine Begriffsdublette***, die aus dem Oppositionspaar signifié und signifiant besteht und »beliebig«, das heißt »unmotiviert« ist.
Vorstellung und Lautfolge unterliegen keiner natürlichen Bindung. Der Akt des Bezeichnens – das Verweisen auf ein außersprachliches Denotat durch ein Zeichen – beruht auf einer »Kollektivgewohnheit«. Wenn hier von Lautfolge die Rede ist, so meint dieser Begriff keineswegs die Äußerung einer Vorstellung als physikalische Manifestation. Im Gegenteil handelt es sich bei beiden Zeichenkomponenten um psychische Größen, die die Voraussetzung des Sprechens bilden. Wie schon Johann Gottfried Herder spricht auch de Saussure der Sprache eine orientierung- beziehungsweise ordnunggebende (und keine abbildende) Funktion zu. Gedanken (pensées) und Laute (sons) sind eine chaotische, amorphe Masse, die durch Sprache organisiert und geformt wird. Sowohl die Selektion eines Elements der penseés als auch dessen Kombination mit einem Gegenstück aus dem Bereich der sons sind arbiträr – und konventionell! Auf Basis dessen läßt sich die Vielfältigkeit der Sprachen erklären: »So ist die Vorstellung ›Schwester‹ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge: […].«
Neben der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens stellt de Saussure als zweiten, wesentlichen Grundsatz die Linearität des Signifikanten heraus: »Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind: a) es stellt eine Ausdehnung dar, und b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimension: es ist eine Linie.« Der physikalische Parameter Zeit fungiert – wie schon die Sprache als Ganzes – als Organisationsprinzip, das zur Charakterisierung des Ablaufs sprachlicher Ereignisse verwendet wird und durch strukturalistische Kontiguitätsanalysen eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Schrift ist dabei das Mittel par excellence, das »die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt«. Dieser syntagmatischen Ebene, die Elemente »in praesentia« enthält, stellt Ferdinand de Saussure eine paradigmatische entgegen, deren Glieder »in absentia« verbunden werden und die er als »Sphäre[] [der] assoziative[n] Beziehungen« beschreibt: »Andererseits aber assoziieren sich außerhalb des gesprochenen Satzes die Wörter, die irgend etwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis, und so bilden sich Gruppen, innerhalb deren sehr verschiedene Beziehungen herrschen. So läßt das Wort Belehrung unbewußt vor dem Geist eine Menge anderer Wörter auftauchen (lehren, belehren usw., oder auch Bekehrung, Begleitung, Erschaffung usw., oder ferner Unterricht, Ausbildung, Erziehung usw.).«
Der Begriff der Assoziation verweist bereits auf den nicht-linearen, rhizomartigen Charakter dieses Verbindungstypus, der Analogien nach Sinn und/oder Form herstellt. Da de Saussure die Relationalität bereits in seinen Zeichenbegriff integriert hat, liegt es an den Unterschieden der Zeichenwerte (valeurs), distinktive Merkmale auszumachen. Bedeutung entsteht durch Differenzen im System: »Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.«
Ein außersprachliches Referenzobjekt ist bei der Bedeutungskonstituierung ebenso auszugrenzen, wie das sprechende Subjekt selbst, das keinerlei individuellen Einfluß auf die soziale Institution Sprache (langue) besitzt.
Innerhalb der mentalistisch geprägten Zeichenkonzeption de Saussures stellt die Sprache »ein System von Zeichen« dar, das mit der »Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar« ist, »[n]ur sie das wichtigste dieser Systeme.« De Saussure begreift also das schriftliche Zeichensystem als ein dem sprachlichen untergeordnetes: »Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen: das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen.« Trotz ihres Supplementcharakters, den die Schrift in einer Sprachwissenschaft per definitionem verliehen bekommt, ist sie im allgemeinen doch vielmehr der Rede übergeordnet: das Schriftbild erscheint als normiertes, beständigeres, verlässlicheres Speichermedium inmitten eines Kommunikations-, Bildungs- und Forschungshorizonts.
*Der häufig unreflektiert übernommene Begriff der Arbitrarität ist – wie Roman Jakobson im Jahr 1962 anmerkt – »eine äußerst unglückliche Bezeichnung«, denn »[d]er Zusammenhang zwischen einem signans und einem signatum, den Saussure willkürlicherweise arbiträr nennt, ist in Wirklichkeit eine gewohnheitsmäßige, erlernte Kontiguität, die für alle Mitglieder der gegebenen Sprachgemeinschaft obligat ist.« (Roman Jakobson. »Zeichen und System der Sprache.«)
**Da Sprache ein »System von Zeichen [ist], die Ideen ausdrücken«, nennt de Saussure »eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht […] Semeologie«.
***Der oftmals verwendete Terminus Dichotomie wird aufgrund seiner Übersetzung als ein Zweigeteiltes vermieden, da das sprachliche Zeichen mit einem Blatt Papier vergleichbar ist, denn »man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedanken vom Laut trennen; […].«
Die Lektüre des Großen Gatsby (in der 2011 bei Insel erschienenen Übersetzung Reinhard Kaisers), die ich nun endlich und rauschhaft an einem Tag abgeschlossen habe, läßt mich »beschwingt und glücklich« zurück, »alter Junge«! So kritisch ich auch gelesen habe, so muß ich doch eingestehen, daß dieser Roman keinen einzigen überflüssigen Satz enthält, keine einzige langweilige Passage, keine einzige hölzerne Formulierung! Der präzise dosierte Adjektiveinsatz verblüfft mich noch immer; es gibt tatsächlich von nichts zu viel und von nichts zu wenig. Der große Gatsby sollte Der perfekte Gatsby heißen! Beschwingt von Francis Scott Fitzgeralds Meisterschaft werde ich nun alle noch ausstehenden Lektüre-Verlockungen ignorieren und mich an meinen guten Vorsatz für’s neue Jahr wagen: Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 2013 soll sie gefunden und komplett gelesen werden! [Eigentlich wollte ich bis zum 14. November warten, denn an jenem Tag im Jahr 1913 (also vor 100 Jahren) erschien der erste Band der Recherche, Du côté de chez Swann, bei Grasset, und zwar auf Kosten des Autors, da andere Verlage den Roman abgelehnt hatten!]
Seit einigen Wochen schon lese ich mit großem Gewinn in Hans Mayers zuerst 1975 erschienenem und 2007 aus Anlaß Mayers 100. Geburtstag wiederaufgelegtem opus magnum Außenseiter. Ich habe das Buch im April zufällig (!) bei Zweitausendeins in Münster entdeckt – von € 15 auf € 7,95 heruntergesetzt. Da mich die Figur des Fremden, des Anderen, des Außenseiters schon immer fasziniert hat, habe ich es ohne groß zu überlegen einfach mitgenommen. Ich hatte vorher noch nie von Hans Mayer (1907-2001) gehört. Er war Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Hannover und Tübingen.
Schon nach den ersten Seiten wurde mir klar, daß hier ein breitgebildeter, großer Stilist am Werk ist, den ich mit Hans Blumenberg vergleichen möchte. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« Bäng! Das sitzt! Seine These verifiziert Mayer auf den kommenden 464 Seiten (mit Anhang und Personenregister sind es 508) anhand von existentiellen Außenseiterfiguren, von starken Frauen, Homosexuellen und Juden aus der Literaturgeschichte. Man könnte sagen, daß Mayer hier einen großen Überblick über abendländische Hauptwerke der Literatur schlägt, und wie er dies macht, ist keine Sekunde lang ermüdend!
Er behandelt Jeanne d’Arc bei Schiller, Brecht, Shaw und Wischnewski, George Eliot und George Sand, Dürrenmatt und Pinter, Marlowe, Shakespeare, Winckelmann, Heine, Platen, Andersen, Verlaine, Rimbaud, Ludwig von Bayern, Tschaikowski, Wilde, Gide, Klaus Mann, Sarte und Genet, Shylock, Heine, Dickens, Proust, Joyce… Beim Tippen fällt mir erst so richtig auf, was alles in diesem unscheinbaren Buch steckt! Eine wahre Fundgrube des Wissens!
Auch wenn ich momentan erst auf Seite 247 bin – ich könnte keine bessere Empfehlung aussprechen! (Ist es ein Zufall (!), daß es sich wieder um ein Suhrkamp-Buch – noch dazu um ein gebundenes – handelt?) Der Außenseiter dient Mayer dazu, breitgefächert Anekdoten zu erzählen, essayhaft ein Kompendium der Literaturgeschichte zu schreiben, das eigentlich auf jede Literaturliste für Geisteswissenschaftler gehört.
Hans Mayers Außenseiter zum 100. Geburtstag des Autors
Neues Altes von Sir Nigel Twitt-Thornwaite und Dr. Karlheinz Klopweisser. Auf zehn DVDs hat Sony nun »The Complete CBC Broadcasts 1954-1977« herausgebracht, Fernseh-Interviews mit Glenn Gould. Im Gould-Jahr 2012 (80. Geburtstag und zugleich 30. Todestag) dürfte diese Box so manch Überraschendes, Lustiges und »Glenngeniales« (ein Wort Thomas Bernhards aus seinem Roman Der Untergeher) für den Zuschauer und Zuhörer bereithalten. (Aktueller Preis: € 56,99)
Welche Liszt-Biographie malt das bunteste und authentischste Bild des Virtuosen? Für alle Unentschlossenen, die im Jubiläumsjahr in all den Neuerscheinungen den Überblick verloren haben, stellt Michael Stallknecht die wichtigsten vor – und hält sich mit Kritik nicht zurück. Die Liszt-Biographie des Glenn-Gould-Experten Michael Stegemann hebt Stallknecht als gelungen heraus und nennt sie »[d]ie Standardbiographie der kommenden Jahre [...], weil [sie] bei aller Nähe die Fakten klar ordnet und durchdenkt.« Doch versäumt es Stallknecht keinesfalls die brillante, schon vor zwei Jahren erschienene, fast 1000 Seiten starke Liszt-Biographie des französischen Musikwissenschaftlers Serge Gut zu unterschlagen. Für jeden Geschmack (und jeden Anspruch!) dürfte der Liszt-Büchermarkt in diesem Herbst gewappnet sein.