← Home About Archive Photos Also on Micro.blog
  • Nachtoderfahrungen

    In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books stoße ich auf zwei Arten der Nachtoderfahrung. Die eine betrifft den weltrekordhaften Nachruhm Herbert von Karajans: Ende letzten Jahres erschien ein gewaltiges Kompendium – und wie das Guinness Book of World Records vermerkt: »the largest box set ever issued« – des österreichischen Dirigenten, das nicht weniger als 330 CDs, 24 DVDs, zwei Blu-Ray-Audio-Discs, eine Bildbiographie sowie diverse Booklets umfaßt – insgesamt 405 Stunden Musik, von Karajans erster Aufführung 1938 bis zu seiner letzten im April 1989. Die andere, sich weniger in olympischen Höhen abspielende Nachtoderfahrung ereilte die sterblichen Überreste des 2008 verstorbenen US-amerikanischen Schriftstellers und Radiomoderators Studs Terkel. Neben der Digitalisierung und dem Zugänglichmachen von Terkels über 5600 Radioshows – was eine sowohl zeitliche als auch quantitative Korrespondenz zum Karajanschen Nachruhm darstellt – erscheint eine kuriose Anekdote in ihren Ausmaßen weniger überwältigend: Garry Wills berichtet, daß, nachdem Terkel gestorben war, seine Asche und die seiner Frau von Freunden bestattet worden sei. Dann sei das Folgende geschehen: »After the earth was tamped down over them, a dog trotted up and pissed on the spot. Another ritual. Enthusiastically applauded.« Wie auch immer sich die Nachtoderfahrung äußern mag: Applaus scheint ihr gewiß.


    Tim Page. »The Wizard of Salzburg.« Rezension zu Complete Recordings on Deutsche Grammophon and Decca, von Herbert von Karajan. The New York Review of Books, Jun. 7, 2018, vol. LXV, no. 10, pp. 30-1.

    Garry Wills. »The Art of the Schmooze.« The New York Review of Books, Jun. 7, 2018, vol. LXV, no. 10, pp. 42-3.

    → 1:00 PM, May 24
  • Außenseiter

    Seit einigen Wochen schon lese ich mit großem Gewinn in Hans Mayers zuerst 1975 erschienenem und 2007 aus Anlaß Mayers 100. Geburtstag wiederaufgelegtem opus magnum Außenseiter. Ich habe das Buch im April zufällig (!) bei Zweitausendeins in Münster entdeckt – von € 15 auf € 7,95 heruntergesetzt. Da mich die Figur des Fremden, des Anderen, des Außenseiters schon immer fasziniert hat, habe ich es ohne groß zu überlegen einfach mitgenommen. Ich hatte vorher noch nie von Hans Mayer (1907-2001) gehört. Er war Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Hannover und Tübingen.

    Schon nach den ersten Seiten wurde mir klar, daß hier ein breitgebildeter, großer Stilist am Werk ist, den ich mit Hans Blumenberg vergleichen möchte. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« Bäng! Das sitzt! Seine These verifiziert Mayer auf den kommenden 464 Seiten (mit Anhang und Personenregister sind es 508) anhand von existentiellen Außenseiterfiguren, von starken Frauen, Homosexuellen und Juden aus der Literaturgeschichte. Man könnte sagen, daß Mayer hier einen großen Überblick über abendländische Hauptwerke der Literatur schlägt, und wie er dies macht, ist keine Sekunde lang ermüdend!

    Er behandelt Jeanne d’Arc bei Schiller, Brecht, Shaw und Wischnewski, George Eliot und George Sand, Dürrenmatt und Pinter, Marlowe, Shakespeare, Winckelmann, Heine, Platen, Andersen, Verlaine, Rimbaud, Ludwig von Bayern, Tschaikowski, Wilde, Gide, Klaus Mann, Sarte und Genet, Shylock, Heine, Dickens, Proust, Joyce… Beim Tippen fällt mir erst so richtig auf, was alles in diesem unscheinbaren Buch steckt! Eine wahre Fundgrube des Wissens!

    Auch wenn ich momentan erst auf Seite 247 bin – ich könnte keine bessere Empfehlung aussprechen! (Ist es ein Zufall (!), daß es sich wieder um ein Suhrkamp-Buch – noch dazu um ein gebundenes – handelt?) Der Außenseiter dient Mayer dazu, breitgefächert Anekdoten zu erzählen, essayhaft ein Kompendium der Literaturgeschichte zu schreiben, das eigentlich auf jede Literaturliste für Geisteswissenschaftler gehört.

    Hans Mayers Außenseiter zum 100. Geburtstag des Autors

    [Ursprünglich gepostet auf Google+]

    → 8:00 AM, Jul 30
  • RSS
  • JSON Feed
  • Micro.blog