Inkompetentes Wissen

Der Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider setzt in einer Tour d’horizon der Meinungsbildungsprozesse den abgesagten Tanz in den Mai als angesagte Lektüre in den Mai in Szene. In seinem lesenswerten und lehrreichen Beitrag für die NZZ heißt es unter anderem:

Für eine andere Studie bat die Psychologin Rebecca Lawson Versuchspersonen, in der groben Skizze eines Velos einige Details einzuzeichnen. 36 von 80 waren nicht in der Lage, Kette und Pedale korrekt zu positionieren. Bei vielen führte die Kette direkt vom Vorderrad zum Hinterrad, die Pedale klebten losgelöst irgendwo am Rahmen. Wenn Sie jetzt ­gelacht haben, nehmen Sie ein Blatt Papier und skizzieren Sie eine WC-Spülung. Das gehörte auch zu ­Rozenblits und Keils Aufgaben.

Spätere Untersuchungen zeigten: Das Halbwissen setzt sich nahtlos von Velos und WC-Spülungen zu Steuersystemen und der Klimaerwärmung fort. Die meisten Leute glauben Dinge zu verstehen, von denen sie keine Ahnung haben. Dabei ist es nicht so, dass sie bewusst aufschneiden, sie erliegen tatsächlich der Illusion, etwas zu verstehen, was sie nicht verstehen. Erst wenn sie eine genaue Erklärung liefern sollen, bricht ihr oberflächliches Wissen in sich zusammen. ›Ich ahnte nicht, wie wenig ich über diese Dinge wusste, bis ich sie zeichnen musste‹, kommentierte ein Proband seine Veloskizze. Die instinktive Selbstüberschätzung zeigt sich während der Corona-Pandemie besonders spektakulär. Menschen, die Polymerase Chain Reaction noch nicht einmal buchstabieren können, fühlen sich berufen, ihre Meinung zu den PCR-Tests in die Welt hinauszuschreien. Dabei spielt auch der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt mit: Inkompetenten Menschen fehlt leider auch die Kompetenz, ihre Inkompetenz zu erkennen.

Der mit einer Fülle von Beispielen angereicherte Artikel Schneiders läßt die Vermutung (die Meinung?) zu, Psychologie und Soziologie seien als Disziplinen wichtiger und bedeutsamer für das 21. Jahrhundert als die Technologie in Form von omnipräsenter Digitalisierung und omnipotenter Künstlicher Intelligenz.


Reto U. Schneider. »Die Wissenschaft der Meinungsbildung.« Neue Zürcher Zeitung, 01.05.2021, https://www.nzz.ch/folio/warum-sie-nie-recht-haben-ld.1612968.


Schwarmwissen

Daß sich Platons Sokrates seines Nichtwissens – und nicht etwa seines Nichtswissens – bewußt ist, daß er sein Wissen kritisch hinterfragt, daß er dies mit dem berühmten, verkürzten Diktum: »οἶδα οὐκ εἰδώς« ausdrückt (was mit: »Ich weiß als Nicht-Wissender« wörtlich zu übersetzen ist), zeugt von Weitsichtigkeit. Daß wir, wenn wir an unser Wissen denken, an das Wissen anderer, oder besser gesagt: an das Wissen aller denken – ein ›Schwarmwissen‹, wenn man so will –, zeichnet den Menschen wesentlich aus: »No individual knows everything it takes to build a cathedral, an atom bomb or an aircraft. What gave Homo sapiens an edge over all other animals and turned us into the masters of the planet was not our individual rationality, but our unparalleled ability to think together in large groups.« Wenn der Einzelne also wüßte, was er weiß, wüßte er, daß dieses Wissen weder der Rede noch des Sich-damit-Brüstens wert sei.


Plat. apol. 21d.

Yuval Harari. »People Have Limited Knowledge. What’s the Remedy? Nobody Knows.« Rezension zu The Knowledge Illusion. Why We Never Think Alone, von Steven Sloman und Philip Fernbach. The New York Times, Apr. 18, 2017, https://www.nytimes.com/2017/04/18/books/review/knowledge-illusion-steven-sloman-philip-fernbach.html.