Poesie
Staubige Entropie
Einem bereits 2014 ausgestrahlten und am vergangenen Sonntag wiederholten Beitrag im Deutschlandfunk entnehme ich die so augenöffnende wie triviale Feststellung:
Staub ist der sinnentleerte Rest von allem. Ein Pullover flust, aber eine Fluse pullovert nicht. Mit anderen Worten: Die Entropie hat eine unumkehrbare Richtung so wie der Zeitpfeil. Am Ende erwartet uns immer Staub.
Man meint, die Hand eines Poeten habe die Entropie erschaffen; die nicht-pullovernde Fluse ist jedoch bloß schaler Ausdruck physikalischer Gesetzmäßigkeiten.
Thomas Palzer. »Staub – Melancholie der Materie.« Deutschlandfunk. Essay und Diskurs, 6. Juni 2021, 7:37-56, http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2021/06/06/staub_melancholie_der_materie_dlf_20210606_0930_4027e76a.mp3.
Das falsche Profil
Im Zuge der nur als völlig absurd und daher als völlig zeitgemäß zu bezeichnenden Aufregung um eine angemessene Übersetzung beziehungsweise einen angemessenen Übersetzer des Gedichts »The Hill We Climb« der Lyrikerin Amanda Gorman, das diese bei der Amtseinführung Joe Bidens am 20. Januar medienwirksam vorgetragen hatte, äußerte sich nun der katalanische Übersetzer Victor Obiols, dessen Übersetzung bereits abgeschlossen war, jedoch nicht publiziert werden würde, da er »nicht die richtige Person« sei:
Es ist ein sehr kompliziertes Thema, das nicht leichtfertig behandelt werden kann. Aber wenn ich eine Dichterin nicht übersetzen kann, weil sie eine Frau ist, jung, schwarz, eine Amerikanerin des 21. Jahrhunderts, dann kann ich auch nicht Homer übersetzen, weil ich kein Grieche aus dem achten Jahrhundert vor Christus bin. Oder ich kann Shakespeare nicht übersetzen, weil ich kein Engländer des 16. Jahrhunderts bin.
Können wir den wahren Homer, den wahren Shakespeare heute und in heutiger Übersetzung überhaupt wirklich lesen und verstehen? Mein erster Gedanke, nachdem ich vom Rückzug der niederländischen Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld erfahren hatte, war, daß fortan nur noch Literaturnobelpreisträger Thomas Manns Werk übersetzen dürften. Ich sehe schon einst hochgelobte Arbeiten – wie etwa die Dostojewski-Übersetzungen Swetlana Geiers – auf dem Scheiterhaufen der Anmaßung brennen.
»›Not suitable‹: Catalan translator for Amanda Gorman poem removed. The Guardian, 10 Mar 2021, https://www.theguardian.com/books/2021/mar/10/not-suitable-catalan-translator-for-amanda-gorman-poem-removed.
Corona prae eventum
Ich stoße in Alfred Brendels FAZ-Gastbeitrag über Goethe und die Musik auf den Namen der Sopranistin Corona Schröter (1751-1802), die neben anderen Sängerinnen auf Goethe eine ›unübertreffliche Wirkung‹ ausgeübt haben soll. Daß ihr Name dem heutigen Leser ins Auge springt, liegt in der simplen Tatsache begründet, daß eine Pandemie gleichen Namens ungleich größere Auswirkungen verursacht hat.
»So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,
Und selbst dein Name ziert, Corona, dich.«
Alfred Brendel. »Goethe, Musik und Ironie.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.12.2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/goethe-musik-und-ironie-ein-gastbeitrag-von-alfred-brendel-17076178.html.
Johann Wolfgang Goethe. »Auf Miedings Tod.« Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775-1786. I. Herausgegeben von Hartmut Reinhardt. Hanser, 1987. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 66-72, hier p. 71 [V 171-2]
. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 2.1.