Qualität
Selbstkasteiungen eines Kritikers
Hinsichtlich fehlender Ironie und überbordendem »Identitätskitsch« in der heutigen Literatur, ersinnt der Klagenfurter Juror Philipp Tingler in einem Beitrag für die NZZ zwei Arten der Selbstkasteiung, die seinen Schmerz ob dieses Mangels und jener Entwicklung weniger gravierend erscheinen lassen sollen.
Die äußerliche Selbstkasteiung:
Seit zwei Jahren sitze ich in der Jury des Bachmann-Preises, und manchmal möchte ich mir in Klagenfurt Feuerquallen auf die Augen drücken.
Die innerliche Selbstkasteiung:
Lieber konsumiere ich undatierten Eiersalat aus dem Verkaufsautomaten in der Kantine des ORF Kärnten.
Man leidet mit ihm und ist versucht, sich seinen radikalen Experimenten anzuschließen, gäbe es nicht einen weniger leidvollen Ausweg, zumindest für den Hobbyleser und Laienkritiker: sich derartiger Literatur durch vollkommene Mißachtung zu entziehen, sie in keinster Weise zur Kenntnis zu nehmen.
Philipp Tingler. »Die richtige Moral macht schlechte Literatur nicht besser – und den Kritiker erst recht nicht.« Neue Zürcher Zeitung, 05.07.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/philipp-tingler-ueber-erfahrungen-am-klagenfurter-wettlesen-ld.1632823.
Auf dem Weg ins Vollidiotentum
Felix Heidenreich heute in der NZZ:
Erst die Handwerkszünfte bringen echtes Kunsthandwerk hervor, die wissenschaftlichen Institutionen Exzellenz. Wer etwas gut können will, kann nicht alles können. Aber irgendwann dreht sich das Verhältnis: In der berühmten Stecknadelfabrik findet sich, so
[Adam]
Smith, womöglich niemand mehr, der in der Lage wäre, allein eine Stecknadel fertigzustellen. Der zerhackte Arbeitsprozess macht uns zu Idioten, im besten Fall zu Fachidioten, im schlimmsten Fall zu Vollidioten.
Und weiter:
Genau diese Arbeitsteilung macht den treibenden Motor der Vermurksung unserer mentalen Infrastrukturen aus: Unsere Kinder lernen nicht mehr schreiben, weil sie es ja nicht können müssen. Bald werden sie wohl auch nicht mehr tippen müssen, sondern Spracherkennungsprogramme bedienen. Entsprechend schwindet die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen oder einer musikalischen Ausbildung.
Die Etablierung eines Vollidiotentums mittels Absenkung des Niveaus bringt automatisch, problemlos und unumgänglich eine Fülle neuer Genies hervor. Citius, altius, fortius – aber bitte mit einfachsten Mitteln.
Felix Heidenreich. »Mach’s leichter, wenn’s zu schwierig wird: Sobald die Kompetenzen schwinden, senken wir die Anforderungen. Aber wissen wir auch, was wir damit auslösen?« Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/bildungsdebatte-wie-wir-zu-fachidioten-werden-ld.1604614.