Da-Heim-Sein

In Peter Sloterdijks kontroverser Basler (1997) beziehungsweise Elmauer Rede (1999) Regeln für den Menschenpark findet sich die folgende, auf Heideggers sogenannten Humanismusbrief (1946/47) anspielende Passage: »Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten, daß sie nur als ›Nachbarn des Seins‹ existieren – und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in unkündbarer Hauptmiete.« In Zeiten von Wohnungsnotstand und astronomisch hohen Mietpreisen ergibt das anthropotopologische Bild Sloterdijks neuen, konkreten Sinn: Das Sein als unerreichbares Da-Heim-Sein verstanden, läßt lange Warteschlangen Da-Seins-Berechtigter vor dem geistigen Auge erscheinen; die fließbandartige Wohnungsbesichtigung ist das luxussanierte Höhlengleichnis unserer Zeit. Schon ein kurzer Blick auf die ersehnten Quadratmeter lindert die Da-Seins-Not, doch: Der Begriff ›wohnen‹, der etymologisch mit ›zufrieden sein‹, ›lieben‹ und ›schätzen‹ verbunden ist, scheint seine Griffigkeit eingebüßt zu haben. »Eine schlechte Wohnung«, so Vater Märten in Goethes Was wir bringen, »macht brave Leute verächtlich.« Dies gilt im übrigen auch für das »Haus des Seins«.


Peter Sloterdijk. Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Sonderdruck. Suhrkamp, 1999, p. 30.

Art. »wohnen.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 994.

Johann Wolfgang Goethe. »Was wir bringen.« Weimarer Klassik 1798-1806. Herausgegeben von Victor Lange. Hanser, 1986. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 750-83, hier p. 754. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 6.1.

Martin Heidegger. Über den Humanismus. 11. Aufl., Klostermann, 2010, p. 5.


Das Lächerliche und das Erhabene

»Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.« (Thomas Bernhard, 1968)

Der Tod ist das Erhabene par excellence; vor ihm wirkt alles lächerlich, irrelevant und klein. Im VI. Programm seiner Vorschule der Ästhetik stellt Jean Paul das Lächerliche als den »Erbfeind des Erhabenen« dar. Im Gegensatz zu Kant und dessen Differenzierung mathematisch/dynamisch versteht Jean Paul das Erhabene als etwas sinnlich Faßbares und definiert es als das »angewandte Unendliche«. Diesem »unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.« Als etwas unendlich Kleines, als eine Mischung aus Sinnlichem und Geistigem ist das Lächerliche die »ideale Kleinheit«, die Thomas Bernhard für sein Anschreiben gegen den Tod nutzt, sie in seinen ›Denkkerker‹ hineinzieht, um sie zu sezieren und sichtbar zu machen. Diese Visualisierung geschieht durch eine Sprache, die ohne Zweifel ›erhaben‹ genannt werden kann.

»Wiener Rede zur Überreichung des österreichischen Staatspreises an Thomas Bernhard.« Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Suhrkamp, 2011, pp. 69-70, hier p. 70.

Jean Paul. »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit.« Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Herausgegeben von Norbert Miller. Hanser, 1963. Lizenzausgabe. 6., korrigierte Aufl., WBG, 1995, pp. 7-514, hier pp. 105-6; 109. Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band.

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