Akustische Bahnreisen

Ueli Bernays hört in seiner Würdigung des achtzigjährigen Bob Dylan genau hin:

Was macht die Eigenheit des Gesangs so attraktiv und geradezu magisch? Sie scheint die Authentizität und das Gewicht des Ausdrucks zu beglaubigen. So irritiert es die echten Bob-Dylan-Fans kaum, dass die vokalen Nebengeräusche, der velare und gutturale Lärm in der Gesangskunst ihres Idols im Alter zugenommen haben: Die Kröten krächzen öfter im Hals. Dann wiederum raspelt und schnaubt die Stimme wie eine müde Dampflokomotive.

Es ist diese müde Dampflokomotive, die gegen den monotonen, softwaretechnischen Perfektionismus heutiger Chartserfolge das Zerbrechlich-Menschliche des Individuums stellt und es zelebriert.


Ueli Bernays. »Bob Dylans Stimme ist unverwechselbar. Über ihre Schönheit lässt sich streiten.« Neue Zürcher Zeitung, 24.05.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/bob-dylans-stimme-ein-organ-jenseits-der-normen-ld.1623833.


Das Ende der Schönheit

Finde in Sloterdijks Notizen unter dem Datum des 29. September 2011 die triviale, aber erstaunliche Feststellung: »Casanova soll gesagt haben, auch die schönste Frau ist an den Füßen zu Ende.« Diese Äußerung ist in ihrer Resignation zugleich tröstlich als auch lächerlich. Tröstlich, weil einem die engen Grenzen der physischen Attraktivität leger vor Augen geführt werden; lächerlich, weil Casanova die weiten Dimensionen der psychischen Schönheit nicht wahrnehmen konnte oder wollte; die Kartographierung der terra incognita fand nicht statt.


Peter Sloterdijk. Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011-2013. Suhrkamp, 2018, p. 160.