Suhrkamp
Der absolute Lektor
Titelblatt der Blumenberg-Biographie, Suhrkamp, 2020
Der »Exorzist des Druckfehlerteufels« (Hans Blumenberg, 26. Februar 1996) stand für das Titelblatt nicht (mehr) zur Verfügung.
Hans Blumenberg und Uwe Wolff. »›Und das ist mir von der Liebe zur Kirche geblieben.‹ Hans Blumenbergs letzter Brief. Mit einem Nachwort von Uwe Wolf.« Internationale katholische Zeitschrift »Communio«, 43. Jahrgang, Heft 3, 2014, pp. 173-81, hier p. 177.
Lektoratsbrevier
Erst kürzlich erwarb ich die von Suhrkamps Cheflektor Raimund Fellinger 2018 zusammengestellten Polyloquien Peter Sloterdijks, ein bündiges Best-of von Texten des »merkwürdige[n]
Bastard[s]
« aus Karlsruhe. Das Besondere an diesem Brevier ist weder die Themenvielfalt noch die Neologismendichte; atemberaubend ist das Versagen des Lektorats!
Vor allem die unter dem Titel »Literaturhistoriker« abgedruckte Passage versammelt auf gerade einmal elf Seiten acht Fehler, darunter so Kurioses wie »beargwôhnten«, »irnpliziert«, »Srufe« oder »urid«. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre dieses Konvolut in aller Schnelle zusammegestoppelt und fahrlässig eingescannt worden. Für ein Haus wie Suhrkamp und den so beschlagenen, erst vor drei Monaten unerwartet verstorbenen Fellinger ein Armutszeugnis.
Peter Sloterdijk. Polyloquien. Ein Brevier. Zusammengestellt und mit einer Gebrauchsanweisung versehen von Raimund Fellinger. Suhrkamp, 2018, pp. 73, 16, 18, 25.
Außenseiter
Seit einigen Wochen schon lese ich mit großem Gewinn in Hans Mayers zuerst 1975 erschienenem und 2007 aus Anlaß Mayers 100. Geburtstag wiederaufgelegtem opus magnum Außenseiter. Ich habe das Buch im April zufällig (!) bei Zweitausendeins in Münster entdeckt – von € 15 auf € 7,95 heruntergesetzt. Da mich die Figur des Fremden, des Anderen, des Außenseiters schon immer fasziniert hat, habe ich es ohne groß zu überlegen einfach mitgenommen. Ich hatte vorher noch nie von Hans Mayer (1907-2001) gehört. Er war Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Hannover und Tübingen.
Schon nach den ersten Seiten wurde mir klar, daß hier ein breitgebildeter, großer Stilist am Werk ist, den ich mit Hans Blumenberg vergleichen möchte. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« Bäng! Das sitzt! Seine These verifiziert Mayer auf den kommenden 464 Seiten (mit Anhang und Personenregister sind es 508) anhand von existentiellen Außenseiterfiguren, von starken Frauen, Homosexuellen und Juden aus der Literaturgeschichte. Man könnte sagen, daß Mayer hier einen großen Überblick über abendländische Hauptwerke der Literatur schlägt, und wie er dies macht, ist keine Sekunde lang ermüdend!
Er behandelt Jeanne d’Arc bei Schiller, Brecht, Shaw und Wischnewski, George Eliot und George Sand, Dürrenmatt und Pinter, Marlowe, Shakespeare, Winckelmann, Heine, Platen, Andersen, Verlaine, Rimbaud, Ludwig von Bayern, Tschaikowski, Wilde, Gide, Klaus Mann, Sarte und Genet, Shylock, Heine, Dickens, Proust, Joyce… Beim Tippen fällt mir erst so richtig auf, was alles in diesem unscheinbaren Buch steckt! Eine wahre Fundgrube des Wissens!
Auch wenn ich momentan erst auf Seite 247 bin – ich könnte keine bessere Empfehlung aussprechen! (Ist es ein Zufall (!), daß es sich wieder um ein Suhrkamp-Buch – noch dazu um ein gebundenes – handelt?) Der Außenseiter dient Mayer dazu, breitgefächert Anekdoten zu erzählen, essayhaft ein Kompendium der Literaturgeschichte zu schreiben, das eigentlich auf jede Literaturliste für Geisteswissenschaftler gehört.
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Echtzeitbücher
Echtzeitbücher? Ist das nicht ein Oxymoron? Müssen Bücher ›schnell‹ sein, müssen sie mit der Aktualität von Twitter oder Facebook mithalten, ja können sie das überhaupt? Führt nicht ein schnell geschriebenes, schnell redigiertes, schnell publiziertes Buch zwangsläufig zum Verlust von Tiefe, Qualität und ›Reife‹, also zu all denjenigen Eigenschaften, die das Medium Buch auszeichnen? Suhrkamps neue »digital«-edition versucht, ein Bindeglied zwischen langsamem Analogen und schnellem Digitalen zu sein. Damit scheint ein ›warmes Medium‹ anvisiert zu werden, also die Erstellung eines Hybriden, das aus dem – um mit Marshall McLuhan zu sprechen – ›heißen Buch‹ und dem ›kalten Internet‹ bestehen soll.
Kilian Trotier. »Kurz, aber bitte mit Schmackes.« Die Zeit, 15. Dez. 2011, https://www.zeit.de/2011/51/Wiese-Suhrkamp.
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Fragte er, dachte ich: Über die Schwierigkeiten, Spuren der Wahrheit zu lesen
Interviews mit Thomas Bernhard sind für Leser und – denkt man etwa an die von Krista Fleischmann gefilmten Gespräche Monologe auf Mallorca oder Die Ursache bin ich selbst – für Zuschauer besonders amüsant und sorgen für Kurzweil, setzt sich doch in ihnen und durch sie einer der sprachmächtigsten und bedeutendsten Autoren deutscher Sprache so gekonnt, verschmitzt und sympathisch in Szene, als würden wir ihn schon immer zu unseren besten Freunden, wenigstens aber zu unseren vertrauten Bekannten rechnen. Er ist der »Übertreibungskünstler«, der ohne mit der Wimper zu zucken über Gott und die Welt grantelt und schimpft, gleichzeitig mit Anekdoten und Gedankenspielen sein lustiges Potential zur Schau stellt.
Doch wer waren die Menschen, die dem zurückgezogen lebenden Dichter so nah kamen, denen er sich so offen präsentierte? Nun, viele waren es nicht. Es gab nur eine Handvoll Auserkorener, die sich mit Bernhard entweder in privater Atmosphäre auf seinem Ohlsdorfer Hof trafen oder ihn eher öffentlich im Wiener Café Bräunerhof befragten. Viele dieser Interviews sind zu Beginn des Jahres – teilweise erstmals, teilweise als Wiederabdruck – zusammen mit Reden, Leserbriefen und Feuilletons in Der Wahrheit auf der Spur im Suhrkamp-Verlag erschienen.
Diese Wahrheit, der der Leser auf der Spur ist, verstreut sich allerdings hin und wieder wie in den indirekten, zitathaften Berichten Bernhardscher Erzähler. Es gibt Wiederholungen, Variationen, Modulationen. Hat man schon Mühe, die feinen Nuancen zwischen Ironie und Ernst in den Äußerungen des österreichischen Schriftstellers herauszuhören, so stellen sich die Interviewer oder die diese Interviews Herausgebenden in beste Bernhard-Tradition und verwischen die Spuren zur Wahrheit.
In Der Wahrheit auf der Spur stößt man auf den Seiten 244 bis 264 auf ein Interview, das Bernhard am 15. Juli 1986 mit Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof in Wien geführt hat (so im Anhang nachzulesen auf Seite 339). Nun kommen dem im Bernhard-Kosmos Bewanderten Passagen daraus merkwürdig bekannt vor. In Kurt Hofmanns Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard (dtv, 4. Aufl. 2004) äußert sich der Schriftsteller auf den Seiten 70-71 wie folgt: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und jeder Weg ist richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt fünf Milliarden Menschen und fünf Milliarden richtige Wege.« In Der Wahrheit auf der Spur sagt Bernhard: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und für denjenigen ist jeder Weg richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt viereinhalb Milliarden Menschen und viereinhalb Milliarden richtige Wege.« (Seite 257) Im Anhang von Der Wahrheit auf der Spur erfährt man über die Publikationsgeschichte dieses Interviews, daß es zunächst 1987 in französischer Übersetzung erschienen ist, der deutsche Erstdruck erst im Herbst 2006 erfolgte (Seite 339).
Wie kann es sein, so könnte man als wahrheitssuchender Spurenleser fragen, daß sich die Zahl der Menschen und damit auch der richtigen Wege um eine halbe Milliarde vergrößert hat? Ist etwa das Bevölkerungswachstum stillschweigend in das Interview eingebaut worden? Der Hinweis auf das französische »Original« ist hierbei wenig hilfreich: »cinq milliards« versus »quatre et demi milliards« sind klar unterscheidbare Ausdrücke und sollten dem Übersetzer wenig Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus gibt es eine weitere Stolperfalle auf der Spur zur Wahrheit: Ist dieses Interview nun von Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof oder aber von Kurt Hofmann »in Ohlsdorf und Ottnang« (so steht es in der Vorbemerkung seines Buches auf Seite 7) geführt worden?
Die Antwort ist eine eher profane, auch wenn der Weg zur selbigen große Mühe bereitet hat, denn das dem Wahrheitssucher entgegenschlagende Schweigen diverser Personen und Institutionen ist das größte. Dennoch konnte es zu einem mehr oder minder angenehmen »Rauschen der Sprache« durchbrochen werden. Werner Wögerbauer, derzeit Professor für deutsche Literatur in Nantes, brachte Ordnung in das Stimmengewirr: Die deutsche Erstveröffentlichung dieses seines (!) Interviews erschien im Herbst 2006 in der Zeitschrift Kultur & Gespenster. Darin ist eine Nachbemerkung Wögerbauers zu finden, die zuerst 2002 im französischen Neuabdruck des Interviews publiziert worden ist. Wögerbauer schreibt dort auf S. 189: »Ich erinnere mich noch gut der plötzlichen Aufmerksamkeit eines Richters nebst Gerichtsschreiberin während einer Anhörung im Wiener Handelsgericht, wo ich 1990 einen taktlosen Verleger [des Löcker-Verlages] wegen Plagiats und anderer Hintergehungen belangte. (Er hatte sich des Interviewtextes – des ›meinigen‹ – bedient, um ein Buch mit zerstückelten Interviews anzureichern, das kurz nach Bernhards Tod veröffentlicht wurde.)«
Wögerbauer meint hier natürlich besagtes Kurt-Hofmann-Buch. Warum nun dtv diese Sammlung vor diesem fragwürdigen Hintergrund immer noch herausgibt – denn nach dem Vergleich durfte der Band zwar vom Löcker-Verlag nicht wieder aufgelegt werden, bereits geschlossene Lizenzverträge waren davon jedoch nicht berührt (wie Wögerbauer per E-Mail mitteilte) –, kann auch Wögerbauer nicht beantworten. So liegt nun also das Plagiat nicht beim Suhrkamp-Verlag und dessen Neuerscheinung Der Wahrheit auf der Spur, sondern vielmehr (vielleicht eher indirekt) bei dtv, der die Rechte vom Löcker-Verlag erworben hatte und noch immer diese höchst fragwürdige Kompilation Gespräche mit Thomas Bernhard herausgibt.
So hat Kurt Hofmann die Weltbevölkerung einfach um eine halbe Milliarde Menschen erhöht, weil sie eben in den Jahren, die seit dem originalen Wögerbauer-Interview vergangen waren, schlicht und einfach um eine halbe Milliarde gewachsen ist! Er hat Bernhard seine zeitlich angepaßten und vermeintlich korrigierten Worte in den Mund gelegt. (Konsequenterweise sollte es dann in der 5. Auflage auch »sieben Milliarden« heißen!) Natürlich sind derartige Abweichungen und Abwandlungen nichts Welterschütterndes; Bernhard selbst hätte sich wohl bestätigt gefühlt mit seinem Bonmot vom »Wahrheitsgehalt der Lüge«, welches in seiner als autobiographisch apostrophierten Schrift Der Keller. Eine Entziehung fällt. Vielleicht zeigen diese Stolpersteine, die verstreut auf den Spuren zur Wahrheit liegen und die einen zum Nach- und Überdenken, zum Gehen in die »entgegengesetzte Richtung« veranlassen, daß selbst die Interviews ihren Beitrag zur Stilisierung Bernhards als auch zur Konstituierung mehrerer Spuren und mehrerer Wahrheiten leisten.