Technologie
Meine Hardware für Sprachaufnahmen
Vor zwei Monaten habe ich an dieser Stelle die Plugin-Kette aufgeführt, die ich bei der Postproduction meiner Sprachaufnahmen anwende. Da ich diesen Prozeß inzwischen wesentlich überarbeitet und reduziert habe, kam mir die Idee, nicht nur eine aktualisierte Version zu veröffentlichen, sondern einen Gesamtüberblick über Hard- und Software zu geben, die bei meinen eigenen Audioaufnahmen zum Einsatz kommen. Statt also nur Plugins zu präsentieren, möchte ich zunächst an der eigentlichen Quelle beginnen, sprich: beim Mikrophon, das meine Stimme einfängt, und beim Weg, der zur Plugin-Kette in meiner DAW (Digital Audio Workstation) führt.
Überblick über die Audio-Hardware am und auf dem Schreibtisch im Denkkerker (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Das Mikrophon
Als Hauptmikrophon habe ich mich für das erschwingliche und äußerst robuste RØDE Procaster entschieden, ein dynamisches Mikrophon, das mehrere Vorteile bietet, die es zu einer hervorragenden Wahl für Sprachaufnahmen und Podcasts machen. Ich nenne nur drei:
- Der Frequenzgang des Procaster ist speziell auf die Aufnahme von Sprache abgestimmt. Es liefert eine natürliche und ausgewogene Stimmwiedergabe in ›Rundfunkqualität‹ mit einer leichten Präsenzanhebung für mehr Klarheit.
- Es verfügt über eine enge Nierencharakteristik, die effektiv Umgebungsgeräusche sowohl von den Seiten als auch von hinten abschirmt. Dies ermöglicht eine saubere Sprachaufnahme, selbst in nicht perfekt schallgedämmten Umgebungen wie dem Denkkerker.
- Der integrierte Popschutz hilft dabei, Plosivlaute wie [p] oder [b] zu entschärfen, die sonst das Mikrophon übersteuern und Verzerrungen verursachen können. Zur Verstärkung dieser Schutzvorrichtung benutze ich das Procaster zusätzlich mit RØDEs Pop-Filter-Windschutz WS2.
Um Vibrationen jeglicher Art (etwa durch das unbeabsichtigte Anstoßen des Mikrophons und/oder des Stativs mit der Hand) einzudämmen, habe ich das Procaster in einen PSM1-Stoßdämpfer (»Spinne«) eingesetzt, was die Audioqualität zusätzlich verbessern kann.
RØDE Procaster mit WS2-Windschutz in einem PSM1-Stoßdämpfer (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Mit dem PSM1 ist das Procaster am Elgato Wave Mic Arm LP befestigt, einem niedrigen Schwenkarm, der auf dem Schreibtisch wenig Platz einnimmt, die Sicht nicht beeinträchtigt und absolut lautlos bewegt werden kann.
Elgato Wave Mic Arm LP (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Vom Procaster aus führt das Mogami 3080, ein drei Meter langes XLR-Kabel, zunächst durch den Elgato-Schwenkarm, dann unter dem Schreibtisch her bis in den Vorverstärker.
dbx 286s (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Mikrophonvorverstärker/Kanalzug
Dieser Zwischenschritt ist rein fakultativ, bietet jedoch zahlreiche Vorteile auch für Sprachaufnahmen und Podcasts, die nicht unbedingt einer Live-Atmosphäre wie Streaming oder Interviews unterliegen. Der dbx 286s-Mikrophonvorverstärker ist ein kosteneffizienter und voll ausgestatteter Kanalzug-Prozessor, der nicht nur als Mikrophonvorverstärker dient, sondern auch über Kompressor, De-Esser, Enhancer und einem effektiven Expander/Gate verfügt. Diese Funktionen ermöglichen eine umfassende Bearbeitung des Audiosignals schon vor einer möglichen Postproduction mittels Plugins, um eine klare und professionelle Klangqualität zu erzielen.
Ich möchte folgend nur kurz meine gewählten Einstellungen des dbx 286s in Kombination mit dem RØDE Procaster anführen:
- Verstärkung (Gain): Da das Procaster recht ›gain-hungrig‹ ist, mußte ich den Pegel auf etwa +54 dB einstellen, um sicherzustellen, daß das Mikrophon die Stimme klar und ohne übermäßiges Rauschen aufnimmt. (Alternativ hatte ich zwischenzeitlich einen FetHead im Einsatz, den das Procaster mit zugeschalteter Phantomspeisung problemlos verträgt.)
- Hochpaßfilter: Eingeschaltet bei 80 Hz, um tieffrequente Geräusche zu reduzieren und die Klarheit zu verbessern.
- Kompressor: Drive auf ca. 2,5 und Density auf 8,0 eingestellt, um eine Komprimierung von etwa 3 dB, in den Spitzen von bis zu 9 dB zu erreichen und eine ausgewogene und kontrollierte Stimmausgabe zu gewährleisten.
- De-Esser: Frequenz auf 4,8 kHz und Schwellenwert auf 2 eingestellt, um Zischlaute zu reduzieren, ohne die Gesamtklangqualität zu verändern.
- Enhancer: Niedrige Frequenz (LF) auf 1 und hohe Frequenz (HF) auf 0,5 eingestellt, um ein wenig Wärme und Klarheit hinzuzufügen, ohne einen Frequenzbereich übermäßig zu betonen. Diese eher ästhetischen Einstellungen bearbeite ich später erneut in der Postproduction mit Plugins in der DAW.
- Expander/Gate: In dieser Funktion liegt die große Stärke des dbx 286s. Den Threshold habe ich auf -30 dB und die Ratio auf 1,8:1 eingestellt, um Hintergrundgeräusche zu minimieren, ohne merkliche Gating-Artefakte zu verursachen.
- Output: Um möglichst dieselbe Lautstärke bei Ein- und Ausgang zu erzielen (das sogenannte »Gain Staging« kann mittels der Funktion »Process Bypass« überprüft und eingerichtet werden), habe ich hier den Regler auf -8 db gestellt.
Audio-Interface
Der dbx 286s-Mikrophonvorverstärker ist mittels eines Mogami 2534, ein ein Meter langes TRS-Kabel, mit meinem Audio-Interface verbunden: dem SSL 2 von Solid State Logic.
SSL 2 (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Hier justiere ich die ›sauber‹ klingende Eingangsverstärkung (in meinem Fall: etwa +2,5), um den optimalen Pegel zwischen -18 und -10 dB in meiner Digital Audio Workstation zu erreichen.
Sennheiser HD 280 PRO (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Mai 2024)
Das ganze kontrolliere ich mit den Sennheiser HD 280 PRO-Kopfhörern, die ich mit einem zwei Meter langen Mogami 2534-Verlängerungskabel an das SSL 2-Interface angeschlossen habe.
In einem kommenden Blog-Beitrag werde ich dann einen Blick auf die Postproduction und meine aktualisierte Plugin-Kette werfen.
My Backup Pages
Yes, my guard stood hard when abstract threats Too noble to neglect Deceived me into thinking I had something to protect — Bob Dylan: »My Back Pages«, 1964
Haben wir nicht alle etwas, wenn nicht gar vieles, zu beschützen? Gibt es nicht für einiges, wenn nicht gar alles, vielerlei Versicherungen? Wir denken bei derartigen Überlegungen häufig an Leib und Leben, Hab und Gut, an physische Größen, die offensichtlich und daher versicherungswürdig sind. Doch wir übersehen dabei den Teil, dessen (Ver-)Sicherung wir schändlich vernachlässigen, nämlich denjenigen unseres immer größer werdenden digitalen Lebens. Für dieses und für den ebenso berühmten wie berüchtigten Fall der Fälle potentieller Datenverluste durch Hardwarefehler, Softwareprobleme, Viren, Ransomware-Attacken, Diebstahl oder schlicht menschliche Fehler habe ich die folgenden Vorkehrungen als Ab- und Versicherungen in Form von Backups (Datensicherungen) getroffen.
Zunächst sollte ich darauf hinweisen, daß es verschiedene Backup-Arten gibt, die je nach (persönlichen) Anforderungen und eingesetzter beziehungsweise zur Verfügung stehender Technologie in Frage kommen und durchgeführt werden können, und zwar
- manuelle oder automatisierte Sicherungen auf externen Laufwerken wie Festplatten oder Netzwerkspeichern (NAS) oder bei Cloud-Speicher-Diensten wie etwa Google Drive, Dropbox oder iCloud, die allerdings oft nur eine Synchronisierung der Daten durchführen, kein Backup.
- Daneben können und sollten spezialisierte Backup-Programme wie Time Machine, File History oder Drittanbieter-Lösungen wie Acronis True Image, Backblaze oder ChronoSync zum Einsatz kommen, die automatische Backups mit erweiterten Funktionen wie etwa einer Datei-Versionskontrolle (um auf frühere Datei-Versionen zugreifen zu können, falls unbeabsichtigte Änderungen vorgenommen worden sind) anbieten.
Eine Kombination verschiedener Strategien möchte ich nachdrücklich empfehlen, da sie Redundanz und Sicherheit erhöht. Ich selbst verwende iCloud, Time Machine, ChronoSync und Backblaze, und ich möchte nachfolgend einen kurzen Überblick geben, wie meine Daten(ver)sicherung aussieht.
iCloud
Mein Cloud-Speicher-Migrationsweg begann vor gut 15 Jahren und führte mich von Google Drive über Dropbox und Sync zu iCloud, aus dem einfachen Grund, weil ich ohnehin seit gut zehn Jahren im Apple-Kosmos beheimatet bin – Kritiker sprechen von einem »walled garden«, also einem um- oder eingezäunten Garten bestehend aus Apples Hard- und Software sowie den ergänzenden Diensten – und keinerlei Probleme hatte: Es funktioniert (bislang) einfach alles. Auch wenn es noch immer keinen einfachen Weg gibt, vom einen zum anderen Cloud-Anbieter zu wechseln (ich erinnere mich ungern an die Tage und Wochen des Downloadens hier und Uploadens da), lohnt es sich durchaus, die Vor- und Nachteile gegenüberzustellen und die Online-Speicher miteinander zu vergleichen, etwa nach Preis- oder Sicherheitskriterien. Letztlich muß man sich darüber im klaren sein, daß ›die Cloud‹ nur ein Computer ist, der jemand anderem gehört.
iCloud (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Wie man erkennen kann, befindet sich mein ganzes digitales Leben in Apples Cloud: über 100 Apps, gut 25.000 Photos und 1.000 Videos, rund 10.000 Mails und 20.000 iMessage-Nachrichten sowie unzählige Dokumente – darunter meine DEVONthink-Datenbanken und mein digitaler Zettelkasten in Obsidian –, die alles in allem gut 1,4 Terabyte belegen (Tendenz: steigend). Über Zuverlässigkeit, Sicherheit und Privatsphäre von iCloud läßt sich sowohl streiten als auch spekulieren.
iCloud – Erweiterter Datenschutz (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Ich empfehle, alle Möglichkeiten zu nutzen, die zumindest Sicherheit und Privatsphäre zu verstärken versprechen, sprich: die Aktivierung des »erweiterten Datenschutzes«, der mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung die aufgelisteten iCloud-Daten versieht. Zusätzlich sollte die Funktion »Über das Internet auf iCloud-Daten zugreifen« deaktiviert werden, was verhindert, daß man (oder jemand) über einen Browser via iCloud.com auf die dort gespeicherten Daten zugreifen kann.
Time Machine
Einmal pro Woche schließe ich zwei verschlüsselte externe Festplatten an mein MacBook Air an. Die eine ist die vier Terabyte große Western Digital My Passport for Mac, die ich, mit einem Apple-Sticker markiert, als Time Machine-Backup-Ort benutze.
Externe Datensicherung: ChronoSync und Time Machine (Photo Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Dabei ist es mir weniger wichtig, daß mein komplettes System wiederhergestellt werden könnte; mir kommt es auf die Sicherung meiner persönlichen Dateien an. Da Time Machine naht- und kostenlos in macOS integriert ist, automatisch Sicherungen erstellt und unterschiedliche Dateiversionen bereithält, verhielte man sich unvernünftig, zumindest grob fahrlässig, diese (Ver-)Sicherung nicht zu nutzen.
Time Machine (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
ChronoSync
Die andere externe Festplatte – es handelt sich bei dieser ebenfalls um eine Western Digital My Passport for Mac, allerdings mit fünf Terabyte Kapazität –, schließe ich zeitgleich mit der Time Machine-Festplatte an. Sie enthält ein Dateien-Backup, das ich mit ChronoSync erstellen lasse. Nun wird der geneigte und kritische Leser dieser Zeilen denken, ChronoSync sei zuviel des Guten, quasi Overkill, da Time Machine doch bereits läuft und sichert. Doch es gibt einen ganz wichtigen Grund, ChronoSync zusätzlich zu verwenden, und einen ganz großen Unterschied zum Backup mit Time Machine.
ChronoSync (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Ich zitiere aus dem Funktionsüberblick:
Wenn Sie das Backup starten, scannt ChronoSync Ihre in iCloud gespeicherten Dateien und Ordner und sucht nach Änderungen. Wenn eine gefunden wird, wird die Datei zu Ihrem Ziel kopiert. Wenn die Datei nicht lokal gespeichert ist, sondern nur in der Cloud existiert, wird sie automatisch heruntergeladen, bevor sie kopiert wird. Nach dem Herunterladen wird die Datei standardmäßig zum Löschen auf Ihrem Computer markiert, damit sie keinen wertvollen Speicherplatz belegt. Wenn sie bereits lokal gespeichert war, bevor ChronoSync sie untersucht hat, bleibt sie lokal gespeichert.
Das bedeutet, daß ChronoSync Dateien sichern kann, die nicht auf der Festplatte des Rechners gespeichert sind, sondern lediglich als Platzhalter-Icon auftreten, während die eigentliche Datei in iCloud ausgelagert worden ist, um Speicherplatz auf dem Mac freizugeben! Time Machine kann das nicht, und mir ist auch kein anderes Programm bekannt, das von Dateien, die sich nur in der Cloud und nicht auf dem Rechner befinden, ein Backup erstellen kann. Die Lösung, die ChronoSync anbietet, ist zugleich genial und elegant. Jedem Mac-Nutzer sei sie wärmstens empfohlen.
Backblaze
Vor einigen Tagen erhielt ich eine E-Mail vom »Backup Steward« Yev Pusin aus dem kalifornischen San Mateo, die mich überraschte:
Fünf Jahre, wow! Vielen Dank, daß Sie seit einem halben Jahrzehnt Kunde von Backblaze-Computer-Backup sind. Das ist keine kleine Leistung. Wir freuen uns, daß Sie Backblaze weiterhin Ihr Vertrauen schenken und den Wert der Sicherung Ihrer wichtigen Daten erkennen.
Mein Backblaze-Jubiläum (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Meine Überraschung erklärt sich daher, daß dieses so mächtige Backup-Werkzeug, das persönliche Cloud-Backup von Backblaze, so unscheinbar und lautlos seine Arbeit im Hintergrund verrichtet, daß ich es im Laufe der fünf Jahre ganz vergessen hatte!
Backblaze (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Backblaze sichert die Daten automatisch und ständig, bietet unbegrenzten, verschlüsselten (»zero-knowledge«) Cloud-Speicherplatz mit einjähriger (auf Wunsch unbegrenzter) Dateiversionsgeschichte sowie problemlose Wiederherstellung der Daten per Backblaze Restore-App oder eines USB-Laufwerks, das Backblaze postalisch zusendet.
Backblaze Restore: Zusätzliche Sicherheit dank privatem Chiffrierschlüssel (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Man schläft besser, wenn man über 700.000 Dateien mit einer Gesamtgröße von rund 1,8 Terabyte sicher weiß. Und als Bonus lasse ich mein iCloud-Backup, das ich mit ChronoSync erstellt habe, ebenfalls von Backblaze sichern, denn »Backblaze sichert jede USB- oder Firewire-Festplatte, die Sie an Ihren Computer angeschlossen haben«.
Backblaze und ChronoSync (Screenshot Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, Januar 2024)
Und das sind sie, meine »Backup Pages«, meine digitalen (Ver-)Sicherungen.
Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
(Politico-Screenshot von Nico Schulte-Ebbert, Januar 2024)
In Südkalifornien schuf der Tech-Unternehmer Alex Furmansky eine Chatbot-Version der belgischen Prominenten-Psychotherapeutin Esther Perel, indem er ihre Podcasts aus dem Internet sammelte und zusammenschnitt. Er nutzte den Bot, um seinen eigenen Liebeskummer zu therapieren, und dokumentierte seine Reise in einem Blogbeitrag, den ein Freund schließlich an Perel selbst weiterleitete. Perel sprach die Existenz der K.I.-Perel auf der 2023 SXSW-Konferenz an. Wie
[Martin]
Seligman war sie mehr erstaunt als verärgert über die Replikation ihrer Persönlichkeit. Sie nannte es »künstliche Intimität«.
Nicht nur werden derartige K.I.-Avatare ungefragt, nicht autorisiert und ohne Vergütung erstellt, was juristische und ethische Fragen aufwirft; diese digitalen Abbilder dienen quasi ad hoc als omnipräsente Ansprechpartner, gar als kompetente Therapeuten, obschon sie lediglich auf dem Material publizierter Werke, Interviews und Podcasts ihrer menschlichen Vorbilder beruhen, nicht jedoch auf deren Wissen, Erfahrungen und Ideen zugreifen können, die die Originale nie medial (und das bedeutet: in aus- und verwertbarer Form) festgehalten haben.
Angewandte Statistik
In der Financial Times schärft der 1967 geborene US-amerikanischer Science-Fiction-Autor Ted Chiang den Blick auf die Künstliche Intelligenz (KI), indem er sie anders und dadurch präziser bezeichnet:
Anthropomorphe Begriffe wie ›lernen‹, ›verstehen‹, ›wissen‹ und Personalpronomen wie ›ich‹, die KI-Ingenieure und Journalisten auf Chatbots wie ChatGPT projizieren, schaffen eine Illusion. Diese voreilige Kurzschrift
[_shorthand_]
verleitet uns alle dazu, sagt er, selbst diejenigen, die mit der Funktionsweise dieser Systeme bestens vertraut sind, in KI-Tools einen Funken Gefühl zu sehen, wo es keines gibt. »Vor einiger Zeit gab es einen Austausch auf Twitter, bei dem jemand fragte: ›Was ist künstliche Intelligenz?‹ Und jemand anderes sagte: ›Eine schlechte Wortwahl im Jahr 1954‹«, berichtet Chiang. »Und, wissen Sie, sie haben Recht. Ich glaube, wenn wir in den 50er Jahren einen anderen Begriff dafür gewählt hätten, hätten wir vielleicht einen Großteil der Verwirrung vermieden, die wir jetzt haben.« Wenn er also einen Begriff erfinden müßte, wie würde er lauten? Seine Antwort ist schnell gegeben: angewandte Statistik.
So betrachtet, so bezeichnet, müßte die so bedrohlich wirkende KI heutiger Prägung unter dem Dach des Statistischen Bundesamtes (StBA) oder einer globalen Statistikbehörde à la Our World in Data untergebracht und benutzt werden.
Weniger unglücklich?
Ich lese einen Artikel im New York-Magazin über die Online- oder besser Nachrichten-Sucht im Zeitalter des nach unten gerichteten Blicks. Darin der Satz: »Has our enslavement to dopamine — to the instant hits of validation that come with a well-crafted tweet or Snapchat streak — made us happier? I suspect it has simply made us less unhappy, or rather less aware of our unhappiness, and that our phones are merely new and powerful antidepressants of a non-pharmaceutical variety.« Nicht mehr lange und die Krankenkasse bezuschußt den Smartphone-Kauf!
Andrew Sullivan. »I Used to Be a Human Being.« New York, Sep. 18, 2016, http://nymag.com/selectall/2016/09/andrew-sullivan-technology-almost-killed-me.html.
Abgenützte Köpfe
Von allen Prognosen, die auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technologie für das Jahr 2017 ausgesprochen worden sind – von selbstfahrenden Automobilen (welch schöne Tautologie!) über Quantencomputer bis zu privat finanzierten Fahrten zum Mond –, gefällt mir eine Vorhersage besonders gut: »Prof Sergio Canavero, an Italian neuroscientist, is also preparing to carry out the first human head transplant within a year. Valery Spiridonov, 31, a Russian who suffers from Werdnig-Hoffmann disease, a muscle-wasting condition, is to be the first patient.« Kopftransplantationen könnten 50 Jahre nach der ersten geglückten Herztransplantation ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hatte schon 1986 mit dem Gedanken gespielt, Köpfe so einfach zu wechseln wie Hosen. In einem seiner Dramolette läßt er die Figur Peymann sagen:
Schade daß man sich nicht auch ohne weiteres / einen neuen Kopf kaufen kann Bernhard / ich ginge jetzt im Augenblick gern mit Ihnen in einen Laden / und kaufte mir einen neuen Kopf / das ganze Leben laufen wir doch immer nur / mit einem abgetragenen ich will sagen mit einem abgenutzten Kopf herum / mit einem schäbig gewordenen Kopf Bernhard / alle Leute haben einen schäbigen Kopf auf / alle Köpfe die wir sehen sind abgenützte Köpfe / ich selbst habe natürlich einen völlig abgenützten Kopf / kaum haben wir einen Kopf / haben wir auch schon einen abgenützten / die Welt hat nur lauter abgenützte Köpfe / Das wäre doch eine tolle Sache Bernhard / wenn wir jetzt in ein Geschäft gehen könnten / und könnten uns neue Köpfe kaufen / und Sie trügen dann einen neuen / und ich trüge Ihren alten abgenützten in der Plastiktasche / und ich trüge auch einen neuen / und Sie trügen meinen alten Kopf in der Plastiktasche / und wir gingen mit neuen Köpfen auf dem Hals / in die Zauberflöte essen / und hätten unsere alten Köpfe in den Plastiktaschen
Thomas Bernhard. »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.« Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette, Suhrkamp, 1993, pp. 26-52.
Schon heute hätte die Gewißheit, stets einen kühlen Kopf bei sich zu tragen, etwas ungemein Beruhigendes.
Sarah Knapton. »Science and technology predictions for 2017.« The Telegraph, Dec. 30, 2016, http://www.telegraph.co.uk/news/predictions-2017/science-technology/.