Thomas Bernhard
Strategischer Rückzug
Dieter Henrich berichtet:
Ich bin Anfang der 80er Jahre als Herausgeber ausgeschieden. Um die Theorie-Reihe stand es nicht mehr erfreulich. Hans Blumenberg trat schon früher aus, wie er überall irgendwann austrat, etwa aus Poetik und Hermeneutik. Auch Jürgen Habermas zog sich später zurück; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund. Unseld kündigte Taubes.
Daß der Solitär Blumenberg »überall irgendwann austrat« erinnert an eine Äußerung Thomas Bernhards, die Karl Ignaz Hennetmair am 8. Juni 1972 in seinem Tagebuch festhält:
Also, die Mitgliedschaft der Akademie in Darmstadt werde ich nun doch zurücklegen. Stell dir vor, gestern habe ich schon wieder einen Brief bekommen. »An das Mitglied der Akademie« steht als Anschrift auf dem Kuvert. Ich kann das nicht mehr ertragen, solche Briefe zu bekommen. Ich kann kein »Mitglied« sein, ich muß das rückgängig machen.
Sieben Jahre später, am 26. November 1979, schreibt Bernhard von Kreta an Claus Peymann, »Großfürst der Schnürböden«:
Herr Walter Scheel, der deutsche Präsident, ist in die sogenannte Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt worden, da bin ich ausgetreten. Ich habe mich immer gefragt, was eine solche Akademie ist, und bin immer nur auf den Begriff Blödsinn gekommen. Jetzt hatte ich einen Anlaß, zu verschwinden. Ich möchte in Zukunft möglichst nirgends mehr dabeisein und nur mehr noch bei mir sein.
Gemeinschaft und Teamwork sind weder der Weisheit letzter Schluß noch ein Universalwerkzeug für produktive oder kreative Prozesse. Von etwas oder jemandem nichts wissen, mit diesen Dingen oder jenen Menschen nichts zu tun haben zu wollen, ist kein Zeichen von Arroganz, Engstirnigkeit oder gar Schwäche, sondern der individuelle Ausdruck dessen, wie man sein möchte, um sein zu können.
Dieter Henrich. Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie. Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C. H. Beck, 2021, p. 143.
Karl Ignaz Hennetmair. Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. Residenz, 2000. Genehmigte Taschenbuchausgabe. 2. Aufl., btb, 2003, p. 237.
Thomas Bernhard. Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Suhrkamp, 2011, p. 178.
Abgenützte Köpfe
Von allen Prognosen, die auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technologie für das Jahr 2017 ausgesprochen worden sind – von selbstfahrenden Automobilen (welch schöne Tautologie!) über Quantencomputer bis zu privat finanzierten Fahrten zum Mond –, gefällt mir eine Vorhersage besonders gut: »Prof Sergio Canavero, an Italian neuroscientist, is also preparing to carry out the first human head transplant within a year. Valery Spiridonov, 31, a Russian who suffers from Werdnig-Hoffmann disease, a muscle-wasting condition, is to be the first patient.« Kopftransplantationen könnten 50 Jahre nach der ersten geglückten Herztransplantation ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hatte schon 1986 mit dem Gedanken gespielt, Köpfe so einfach zu wechseln wie Hosen. In einem seiner Dramolette läßt er die Figur Peymann sagen:
Schade daß man sich nicht auch ohne weiteres / einen neuen Kopf kaufen kann Bernhard / ich ginge jetzt im Augenblick gern mit Ihnen in einen Laden / und kaufte mir einen neuen Kopf / das ganze Leben laufen wir doch immer nur / mit einem abgetragenen ich will sagen mit einem abgenutzten Kopf herum / mit einem schäbig gewordenen Kopf Bernhard / alle Leute haben einen schäbigen Kopf auf / alle Köpfe die wir sehen sind abgenützte Köpfe / ich selbst habe natürlich einen völlig abgenützten Kopf / kaum haben wir einen Kopf / haben wir auch schon einen abgenützten / die Welt hat nur lauter abgenützte Köpfe / Das wäre doch eine tolle Sache Bernhard / wenn wir jetzt in ein Geschäft gehen könnten / und könnten uns neue Köpfe kaufen / und Sie trügen dann einen neuen / und ich trüge Ihren alten abgenützten in der Plastiktasche / und ich trüge auch einen neuen / und Sie trügen meinen alten Kopf in der Plastiktasche / und wir gingen mit neuen Köpfen auf dem Hals / in die Zauberflöte essen / und hätten unsere alten Köpfe in den Plastiktaschen
Thomas Bernhard. »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.« Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette, Suhrkamp, 1993, pp. 26-52.
Schon heute hätte die Gewißheit, stets einen kühlen Kopf bei sich zu tragen, etwas ungemein Beruhigendes.
Sarah Knapton. »Science and technology predictions for 2017.« The Telegraph, Dec. 30, 2016, http://www.telegraph.co.uk/news/predictions-2017/science-technology/.
Jahresgabe
Die diesjährige Jahresgabe der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft zeigt ein Tetraptychon: Vier Briefe aus der etwa 40 Dokumente umfassenden Korrespondenz zwischen Thomas Bernhard und Gerhard Fritsch (1924-1969, Selbstmord). Es handelt sich um eine Postkarte aus Lovran an Fritsch vom 30. März 1956, um einen Brief an Fritsch vom 13. Dezember 1967, um einen Brief an Bernhard vom 13. Februar 1968 sowie um eine kurze Nachricht an Bernhard vom 20. März 1968. (Das Foto wurde aufgrund Urheberrechten unscharf markiert.)
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»Bitte keine Besuche« oder: »Folge nicht mir, folge dir!« Hermann Hesse zum 50. Todestag
Wenn man in dieser Woche an einem Zeitschriftenregal vorbeischlendert, so wird man eines Mannes mit Strohhut gewahr, der dem Vorbeischlendernden vom Titelblatt des Spiegel aus direkt in die Augen schaut. Es ist eine merkwürdig kolorierte Version einer Fotografie, die das Hamburger Nachrichtenmagazin bereits im Jahre 1958 zierte. Doch nicht allein die Farbe macht den Unterschied: Das aktuelle Titelblatt zeigt den Schriftsteller Hermann Hesse – denn um eben jenen »Störenfried«, so der Schriftzug, handelt es sich dabei – mit erhobenem Mittelfinger. Darunter die Appositionen (in Großbuchstaben!): »SINNSUCHER, DICHTER, ANARCHIST«. Ein verstörendes, wenn nicht gar provozierendes Bild.
Doch so sehr die Differenz von friedlicher Mimik und aggressiver Gestik auch irritieren mag: Sie trifft den Menschen Hesse, der sich nicht festlegen läßt, der von den einen vergöttert, von den anderen verachtet wird. Hermann Hesse bezieht Stellung – und bezieht sie zugleich nicht. Er heiratet dreimal – und bleibt doch ein ewiger Alleingänger. Er feiert das Leben – und denkt doch stets an Suizid. Er verteufelt den Pietismus – und kommt doch nie vom Glauben los. Er ist ein Seher, der zeit seines Lebens unter Augen- und Kopfschmerzen leidet – wie auch Friedrich Nietzsche. (Seine dritte Ehefrau Ninon liest ihm ab 1929 fast 1.500 Bücher vor!)
Mit dem von ihm bewunderten Philosophen aus Röcken teilt Hesse auch das Asketische, Einsame, Einzelgängerische, das ebenso wie das Doppelgängermotiv sein Leben und Schreiben charakterisiert. Die Doppelstruktur von Gut und Böse, Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich – sprich: diese Doppelhelix als evolutionär-genetischer Impetus durchzieht das Werk des bis heute polarisierenden Schriftstellers von der ersten bis zur letzten Seite.
Eng mit diesem gnostischen Denken verbunden ist Hesses radikales Distanzschaffen, worin er Hans Blumenberg oder – ganz extrem – Thomas Pynchon gleicht. Schon früh fühlt er sich als Fremdkörper in seiner Familie, als ein Anderer und Außenseiter, der als Brandstifter und potentieller Amokläufer gar in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird. Sein Biograph Gunnar Decker bezeichnet ihn gleich an drei Stellen seiner in diesem Jahr bei Hanser erschienenen, sehr lesenswerten Biographie als »Berührungsneurotiker«, der sein Leben strikt nach seinem eigenen Rhythmus ausrichtet und »Unberührbarkeitsrituale« pflegt. Diese Abwehrmechanismen gehen so weit, daß Hesse selbst seine eigene Familie und seine Kinder nicht erträgt. Der Wein und das Alleinsein bleiben wichtiger als menschliche Beziehungen.
Hier zeigt sich in extremo seine Aversion gegen jegliche Form von Vereinen, Bünden, Gruppen oder Mitgliedschaften, was ihm oft Anfeindungen und – gerade während des Ersten Weltkrieges und in den Jahren nach 1933 – den Ruf eines Nestbeschmutzers bis hin zum Vaterlandshasser einbringt. So verwundert es nicht, daß Hesse auch Preisen und Ehrungen ablehnend gegenübersteht. Als ihm nach bemerkenswertem Einsatz Thomas Manns in Stockholm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen wird, nimmt er diesen nicht persönlich in Empfang.
Stockholm – Hesse verachtet die Metropolen! Als einsamer Steppenwolf liebt er das Ländliche, das seiner Imagination Raum gibt. Ohnehin reist der einst begeisterte und leidenschaftliche Wanderer (auch hierin ähnelt er etwa Nietzsche oder Thomas Bernhard) mit zunehmendem Alter immer weniger, vertieft sich immer mehr ins innere Erkunden, das er mit dem weniger wichtigen Äußeren kontrastiert. (Zuletzt besucht der Schweizer Hesse seine Heimat Deutschland im Jahre 1936.)
Viele Fotos und vereinzelte Filmaufnahmen zeigen Hesse als stoischen Asketen bei der Gartenarbeit. Er schneidet Rosen oder sitzt einfach am Feuer, zündelt, verbrennt Reisig und starrt gebannt in die Flammen. Das Feuer ist für ihn Symbol des Lebens, Wasser ist stets Medium des Todes. Im Garten findet Hesse, der Mitentdecker Kafkas, die Ruhe zur Meditation. Gunnar Decker schreibt: »So ist der Garten nicht nur ein Sinnbild des menschlichen Lebens, für Hesse wird er das Modell seiner Arbeit als Autor, eine Schule des Sehens und des Säens, des glücklichen Gleichgewichts von vita activa und vita contemplativa.«
Aus diesem Gleichgewicht heraus entsteht mit großem Fleiß und strenger Disziplin ein Werk, das 20 Bände umfaßt, dazu kommen noch ein Dutzend Briefbände, Hunderte Zeichnungen und Aquarelle. Als Hermann Hesse, dem seine Leukämie-Diagnose nicht mitgeteilt wird – mit Goethe teilt der Hypochonder »die Abwehr gegen Krankheit und Tod« (Decker) –, am 9. August 1962 morgens zwischen 7 und 9 Uhr in Montagnola an einem Hirnschlag stirbt, hinterläßt er der Welt obendrein ein Nachlaß-Konvolut von 44.000 Briefen.
Wir werden auch 50 Jahre nach seinem Tod noch viel von und über Hermann Hesse erfahren, nicht zuletzt dank eines von ihm verschnürten, ominösen Päckchens, das sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, und das nicht vor dem Jahre 2017 geöffnet werden darf – Hesses Art der Flaschenpost in und für die Zukunft!
»Ich habe diesen Mann geliebt«. Das längste Drama Thomas Bernhards
Am Abend des 18. Juli 2012 lasen in der »Akademie Franz Hitze Haus« in Münster die Freiburger Theaterurgesteine Gerd Heinz und Helmut Grieser aus dem 2009 erschienenen Briefwechsel zwischen Thomas Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld.
Mit verteilten Rollen (Grieser als Bernhard, Heinz als Unseld) konnten sie das Publikum auf Anhieb fesseln und es einerseits von Bernhards teils unverschämten Forderungen, andererseits von Unselds schier unmenschlicher Geduld überzeugen. Gerd Heinz schilderte die Zusammenkünfte von Autor und Verleger in den fast drei Jahrzehnten ihrer Zusammenarbeit als ein sich wiederholendes dreiaktiges Stück: 1. Akt: Verlegerbeschimpfung, 2. Akt: Klärung des Finanziellen (Ratifizierung von Verträgen, Umgang mit Darlehen, Gewährung von Vorschüssen), 3. Akt: Gemeinsames Essen und Trinken.
Seit Februar 2011, dem 80. Geburtstag Thomas Bernhards, sind Heinz und Grieser mit ihrer szenischen Lesung auf Tour. Trotz des riesigen Konvoluts von mehr als 500 Briefen, die zwischen dem Autor und seinem Verleger in den Jahren 1961 bis 1988 kursierten, überzeugte die Auswahl der vorgelesenen Briefe und ließ – gerade auch durch kommentierende Einschübe der Vortragenden – einen roten Pfaden auch für den mit Thomas Bernhard nicht vertrauten Hörer erkennen.
Die Veranstaltung neigte sich nach über anderthalb Stunden ihrem Ende entgegen, als Gerd Heinz vom sogenannten »Heldenplatz«-Skandal berichtete, bei dem er 1988 in Wien live vor Ort war (und sogar die Parallelinszenierung leitete): Am Abend der Uraufführung stand ein großes Polizeiaufgebot zwischen Burgtheater, Theaterbesuchern und Demonstranten, die riesige Misthaufen angekarrt hatten, zwischen denen das Premierenpublikum in feinster Abendgarderobe herumhüpfen mußte. Das Publikum im Münsteraner Franz Hitze Haus reagierte einmal mehr mit herzhaftem Lachen.
»Selbst das Genie wird noch einmal größenwahnsinnig, wenn es ums Geld geht.« So heißt es in Thomas Bernhards »Die Macht der Gewohnheit«. Dieser Größenwahnsinn wurde in all seinen Facetten an diesem Abend greifbar.
Glenngenial
Neues Altes von Sir Nigel Twitt-Thornwaite und Dr. Karlheinz Klopweisser. Auf zehn DVDs hat Sony nun »The Complete CBC Broadcasts 1954-1977« herausgebracht, Fernseh-Interviews mit Glenn Gould. Im Gould-Jahr 2012 (80. Geburtstag und zugleich 30. Todestag) dürfte diese Box so manch Überraschendes, Lustiges und »Glenngeniales« (ein Wort Thomas Bernhards aus seinem Roman Der Untergeher) für den Zuschauer und Zuhörer bereithalten. (Aktueller Preis: € 56,99)
Wolfram Goertz. »Klavierkunst in Schlachtschiffgrau.« Die Zeit, 19. Jan. 2012, https://www.zeit.de/2012/04/D-DVD-Glenn-Gold.
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Das Lächerliche und das Erhabene
»Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.« (Thomas Bernhard, 1968)
Der Tod ist das Erhabene par excellence; vor ihm wirkt alles lächerlich, irrelevant und klein. Im VI. Programm seiner Vorschule der Ästhetik stellt Jean Paul das Lächerliche als den »Erbfeind des Erhabenen« dar. Im Gegensatz zu Kant und dessen Differenzierung mathematisch/dynamisch versteht Jean Paul das Erhabene als etwas sinnlich Faßbares und definiert es als das »angewandte Unendliche«. Diesem »unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.« Als etwas unendlich Kleines, als eine Mischung aus Sinnlichem und Geistigem ist das Lächerliche die »ideale Kleinheit«, die Thomas Bernhard für sein Anschreiben gegen den Tod nutzt, sie in seinen ›Denkkerker‹ hineinzieht, um sie zu sezieren und sichtbar zu machen. Diese Visualisierung geschieht durch eine Sprache, die ohne Zweifel ›erhaben‹ genannt werden kann.
»Wiener Rede zur Überreichung des österreichischen Staatspreises an Thomas Bernhard.« Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Suhrkamp, 2011, pp. 69-70, hier p. 70.
Jean Paul. »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit.« Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Herausgegeben von Norbert Miller. Hanser, 1963. Lizenzausgabe. 6., korrigierte Aufl., WBG, 1995, pp. 7-514, hier pp. 105-6; 109. Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band.
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Fragte er, dachte ich: Über die Schwierigkeiten, Spuren der Wahrheit zu lesen
Interviews mit Thomas Bernhard sind für Leser und – denkt man etwa an die von Krista Fleischmann gefilmten Gespräche Monologe auf Mallorca oder Die Ursache bin ich selbst – für Zuschauer besonders amüsant und sorgen für Kurzweil, setzt sich doch in ihnen und durch sie einer der sprachmächtigsten und bedeutendsten Autoren deutscher Sprache so gekonnt, verschmitzt und sympathisch in Szene, als würden wir ihn schon immer zu unseren besten Freunden, wenigstens aber zu unseren vertrauten Bekannten rechnen. Er ist der »Übertreibungskünstler«, der ohne mit der Wimper zu zucken über Gott und die Welt grantelt und schimpft, gleichzeitig mit Anekdoten und Gedankenspielen sein lustiges Potential zur Schau stellt.
Doch wer waren die Menschen, die dem zurückgezogen lebenden Dichter so nah kamen, denen er sich so offen präsentierte? Nun, viele waren es nicht. Es gab nur eine Handvoll Auserkorener, die sich mit Bernhard entweder in privater Atmosphäre auf seinem Ohlsdorfer Hof trafen oder ihn eher öffentlich im Wiener Café Bräunerhof befragten. Viele dieser Interviews sind zu Beginn des Jahres – teilweise erstmals, teilweise als Wiederabdruck – zusammen mit Reden, Leserbriefen und Feuilletons in Der Wahrheit auf der Spur im Suhrkamp-Verlag erschienen.
Diese Wahrheit, der der Leser auf der Spur ist, verstreut sich allerdings hin und wieder wie in den indirekten, zitathaften Berichten Bernhardscher Erzähler. Es gibt Wiederholungen, Variationen, Modulationen. Hat man schon Mühe, die feinen Nuancen zwischen Ironie und Ernst in den Äußerungen des österreichischen Schriftstellers herauszuhören, so stellen sich die Interviewer oder die diese Interviews Herausgebenden in beste Bernhard-Tradition und verwischen die Spuren zur Wahrheit.
In Der Wahrheit auf der Spur stößt man auf den Seiten 244 bis 264 auf ein Interview, das Bernhard am 15. Juli 1986 mit Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof in Wien geführt hat (so im Anhang nachzulesen auf Seite 339). Nun kommen dem im Bernhard-Kosmos Bewanderten Passagen daraus merkwürdig bekannt vor. In Kurt Hofmanns Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard (dtv, 4. Aufl. 2004) äußert sich der Schriftsteller auf den Seiten 70-71 wie folgt: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und jeder Weg ist richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt fünf Milliarden Menschen und fünf Milliarden richtige Wege.« In Der Wahrheit auf der Spur sagt Bernhard: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und für denjenigen ist jeder Weg richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt viereinhalb Milliarden Menschen und viereinhalb Milliarden richtige Wege.« (Seite 257) Im Anhang von Der Wahrheit auf der Spur erfährt man über die Publikationsgeschichte dieses Interviews, daß es zunächst 1987 in französischer Übersetzung erschienen ist, der deutsche Erstdruck erst im Herbst 2006 erfolgte (Seite 339).
Wie kann es sein, so könnte man als wahrheitssuchender Spurenleser fragen, daß sich die Zahl der Menschen und damit auch der richtigen Wege um eine halbe Milliarde vergrößert hat? Ist etwa das Bevölkerungswachstum stillschweigend in das Interview eingebaut worden? Der Hinweis auf das französische »Original« ist hierbei wenig hilfreich: »cinq milliards« versus »quatre et demi milliards« sind klar unterscheidbare Ausdrücke und sollten dem Übersetzer wenig Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus gibt es eine weitere Stolperfalle auf der Spur zur Wahrheit: Ist dieses Interview nun von Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof oder aber von Kurt Hofmann »in Ohlsdorf und Ottnang« (so steht es in der Vorbemerkung seines Buches auf Seite 7) geführt worden?
Die Antwort ist eine eher profane, auch wenn der Weg zur selbigen große Mühe bereitet hat, denn das dem Wahrheitssucher entgegenschlagende Schweigen diverser Personen und Institutionen ist das größte. Dennoch konnte es zu einem mehr oder minder angenehmen »Rauschen der Sprache« durchbrochen werden. Werner Wögerbauer, derzeit Professor für deutsche Literatur in Nantes, brachte Ordnung in das Stimmengewirr: Die deutsche Erstveröffentlichung dieses seines (!) Interviews erschien im Herbst 2006 in der Zeitschrift Kultur & Gespenster. Darin ist eine Nachbemerkung Wögerbauers zu finden, die zuerst 2002 im französischen Neuabdruck des Interviews publiziert worden ist. Wögerbauer schreibt dort auf S. 189: »Ich erinnere mich noch gut der plötzlichen Aufmerksamkeit eines Richters nebst Gerichtsschreiberin während einer Anhörung im Wiener Handelsgericht, wo ich 1990 einen taktlosen Verleger [des Löcker-Verlages] wegen Plagiats und anderer Hintergehungen belangte. (Er hatte sich des Interviewtextes – des ›meinigen‹ – bedient, um ein Buch mit zerstückelten Interviews anzureichern, das kurz nach Bernhards Tod veröffentlicht wurde.)«
Wögerbauer meint hier natürlich besagtes Kurt-Hofmann-Buch. Warum nun dtv diese Sammlung vor diesem fragwürdigen Hintergrund immer noch herausgibt – denn nach dem Vergleich durfte der Band zwar vom Löcker-Verlag nicht wieder aufgelegt werden, bereits geschlossene Lizenzverträge waren davon jedoch nicht berührt (wie Wögerbauer per E-Mail mitteilte) –, kann auch Wögerbauer nicht beantworten. So liegt nun also das Plagiat nicht beim Suhrkamp-Verlag und dessen Neuerscheinung Der Wahrheit auf der Spur, sondern vielmehr (vielleicht eher indirekt) bei dtv, der die Rechte vom Löcker-Verlag erworben hatte und noch immer diese höchst fragwürdige Kompilation Gespräche mit Thomas Bernhard herausgibt.
So hat Kurt Hofmann die Weltbevölkerung einfach um eine halbe Milliarde Menschen erhöht, weil sie eben in den Jahren, die seit dem originalen Wögerbauer-Interview vergangen waren, schlicht und einfach um eine halbe Milliarde gewachsen ist! Er hat Bernhard seine zeitlich angepaßten und vermeintlich korrigierten Worte in den Mund gelegt. (Konsequenterweise sollte es dann in der 5. Auflage auch »sieben Milliarden« heißen!) Natürlich sind derartige Abweichungen und Abwandlungen nichts Welterschütterndes; Bernhard selbst hätte sich wohl bestätigt gefühlt mit seinem Bonmot vom »Wahrheitsgehalt der Lüge«, welches in seiner als autobiographisch apostrophierten Schrift Der Keller. Eine Entziehung fällt. Vielleicht zeigen diese Stolpersteine, die verstreut auf den Spuren zur Wahrheit liegen und die einen zum Nach- und Überdenken, zum Gehen in die »entgegengesetzte Richtung« veranlassen, daß selbst die Interviews ihren Beitrag zur Stilisierung Bernhards als auch zur Konstituierung mehrerer Spuren und mehrerer Wahrheiten leisten.