Das Problem der Armut

In einer Rezension stoischer Literatur stoße ich auf eine Anekdote – genauer: eine χρεία – aus dem Leben des damals zweiunddreißigjährigen Ulysses S. Grant, die Ryan Holidays 2019 erschienenem Buch Stillness Is the Key entnommen ist:

Vor dem Bürgerkrieg erlebte Grant eine lange Verkettung von Rückschlägen und finanziellen Schwierigkeiten. Er geriet nach St. Louis und verkaufte Feuerholz, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – ein tiefer Fall für einen Absolventen der renommierten Militärakademie West Point. Ein Armeekamerad fand ihn und war entsetzt. »Großer Gott, Grant, was machst du da?«, fragte er. Grants Antwort war einfach: »Ich löse das Problem der Armut.«

Fünfzehn Jahre nach dieser Episode sollte Grant zwischen 1869 und 1877 der achtzehnte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein.


Gregory Hays. »Tune Out & Lean In.« Rezension zu That One Should Disdain Hardships: The Teachings of a Roman Stoic, von Musonius Rufus, How to Keep Your Cool: An Ancient Guide to Anger Management, von Seneca, How to Be Free: An Ancient Guide to the Stoic Life, von Epictetus, The Pocket Stoic von John Sellars, Stillness Is the Key, von Ryan Holiday, sowie Not All Dead White Men: Classics and Misogyny in the Digital Age, von Donna Zuckerberg. The New York Review of Books, vol. LXVIII, no. 4, March 11, 2021, pp. 37-40, hier p. 39.


Der Promischtland

Die New York Times berichtet, daß die Nachfrage der amerikanischen Leser nach Barack Obamas erstem Teil seiner Memoiren, A Promised Land, so hoch sei, daß Penguin Random House, die Muttergesellschaft von Crown, in Deutschland 1,5 Millionen Exemplare gedruckt habe, die auf Frachtschiffen in die USA transportiert würden. Dies brachte Stephen Colbert zu folgender Einschätzung: »Aber ich bin mir sicher, die Kunden werden den Unterschied zwischen der amerikanischen und der deutschen Version nicht bemerken.«

The Late Show with Stephen Colbert: »Der Promischtland«


Alexandra Alter und Elizabeth A. Harris. »Readers Have Been Eagerly Waiting for Barack Obama’s New Memoir. Struggling Booksellers Have, Too.« The New York Times, Nov. 16, 2020, www.nytimes.com/2020/11/1…

»Stephen Kicks Off A Late Show’s Obama-Rama Extravagama With A Special Obamalogue.« The Late Show with Stephen Colbert, 01.12.2020, 2:03-2:10, www.youtube.com/watch


Vignetten

Randall Fullers Studie über den Einfluß von Charles Darwins Evolutionstheorie auf das intellektuelle Amerika der 1860er Jahre erweist sich – folgt man der Rezension John Hays – als Füllhorn obskurer Anekdoten. So erfahre man beispielsweise, daß der Bostoner Mediziner John Jeffries (1744-1819) »der erste Mensch war, der den Ärmelkanal per Luftballon« überquert habe, und zwar nackt! Der als ›letzter Transzendentalist‹ apostrophierte Franklin Sanborn (1831-1917) hingegen habe zweifelhafte lokale Berühmtheit (infamy) durch das »Düngen seines Gartens mit seinen eigenen Fäkalien« erlangt. Derartige Abschweifungen sind das Salz in der Suppe einer jeden (wissenschaftlichen) Monographie!


John Hay. »Darwin’s Early Adopters.« Rezension zu The Book That Changed America. How Darwin’s Theory of Evolution Ignited a Nation, von Randall Fuller. Public Books, Apr. 5, 2017, http://www.publicbooks.org/darwins-early-adopters/.


Zahlenspielereien

Im Zuge ihrer umfangreichen Berichterstattung rund um den höchst kontroversen und bald neuen US-Präsidenten Donald Trump, wirft die New York Times einen Blick auf die Menschenmassen, die bei unterschiedlichen Inaugurationen (vermeintlich) anwesend waren. So hätten, basierend auf der Analyse einer historischen Photographie, bei der Amtseinführung Abraham Lincolns am 4. März 1861 gut 7.350 Menschen dem Spektakel in Washington, D. C. beigewohnt. Ausgehend von Satellitenaufnahmen vom Tag der Amtseinführung Barack Obamas am 20. Januar 2009 schätzt man die Masse auf 1,8 Millionen Individuen! Doch erst wenn man diese Zahlen mit der Gesamtbevölkerung in Relation setzt, wird der immense Zuwachs deutlich: Folgt man dem United States Census des Jahres 1860, betrug die Bevölkerungszahl zu jener Zeit 31.443.321. Gut 150 Jahre später, im Jahr, in dem Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, zählte man 303.064.548 US-Bürger. Demnach pilgerte 1861 gut 0,02 % der Bevölkerung zur Amtseinführung, 2009 stand 0,59 % vor dem Capitol. Wie viele – seien es Unterstützer, seien es Protestler – wird Trump anziehen?


Tim Wallace. »From Lincoln to Obama, How Crowds at the Capitol Have Been Counted.« The New York Times, Jan. 18, 2017, https://www.nytimes.com/interactive/2017/01/18/us/politics/How-Crowds-at-the-Capitol-Have-Been-Counted.html.

1860 Census, https://www.censusrecords.com/content/1860_Census.

»United States of America (USA) population history.« United States of America (USA) Population, http://countrymeters.info/en/United_States_of_America_(USA).


Korrigenda

Bei den 1,8 Millionen des Jahres 2009 handelte es sich um eine Schätzung. De facto hätten sich etwa 460.000 Menschen auf den National Mall versammelt, was den Prozentsatz von 0,59 auf 0,15 reduziert.


Tim Wallace, Karen Yourish und Troy Griggs. »Trump’s Inauguration vs. Obama’s: Comparing the Crowds.« The New York Times, Jan. 20, 2017, https://www.nytimes.com/interactive/2017/01/20/us/politics/trump-inauguration-crowd.html.


Vertauschte Rollen

Von einem Podcast des Deutschlandfunks lerne ich, daß Andrew Jackson – von 1829 bis 1837 der siebte Präsident der USA – ein leidenschaftlicher, harter und kompromißloser Populist, Rassist und Sklavereibefürworter mit genozidalen Anwandlungen gewesen sei, der heutzutage vermutlich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen würde. Stattdessen landete er, der Demokrat war, auf dem Zwanzig-Dollar-Schein. Für den beliebten und verehrten Republikaner und Sklavenbefreier Abraham Lincoln war nur Platz auf der Fünf-Dollar-Note.


Hannes Stein. »Präsidentschaftswahlen in den USA, Teil 1: Der lange Weg zur Rassistenpartei.« Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 9. Okt. 2016, 9:30 Uhr


Protestwahl

Eine interessante Art der Kandidatenempfehlung für den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gibt die Philosophin Judith Butler. Laut einem Interview in der F.A.S. werde sie ihre Stimme Hillary Clinton ex negativo geben, denn es sei leichter gegen die Demokratin zu protestieren als gegen Trump: »Wir müssen ihr [Clinton] ins Weiße Haus helfen, damit wir eine Opposition gegen sie aufbauen können. Denn eine Opposition gegen Clinton hat bessere Chancen erfolgreich zu sein als eine gegen Trump.« Clinton, das kleinere, demokratischere Übel, wird so in eine Machtposition gesetzt, damit man ihre Macht beschneiden und lenken kann.


Judith Butler und Gregor Quack. »Das Paradox der Demokratie.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Okt. 2016, p. 54-5.


Dotedu-Blase

Aus der New York Review of Books erfahre ich, daß sich in den USA eine 1,2 Billionen Dollar große Studienschuldenblase gebildet habe. Wohl dem, dem die Bürde eines überbewerteten Hochschulabschlusses erspart bleibt!


Rana Foroohar. »How the Financing of Colleges May Lead to DISASTER!« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 28-30.



Thomas Mann, nachdenklich

Ein nachdenklicher Thomas Mann ziert Heinrich Deterings im Oktober 2012 erschienene Untersuchung Thomas Manns amerikanische Religion, die die Beziehung des Literaturnobelpreisträgers zur Unitarischen Kirche in Kalifornien zum Thema hat. Manns Blick scheint ins Leere zu gehen. Einen Penny für seine Gedanken! Über die im unteren Teil des Umschlags abgedruckte, handschriftliche Autogrammkarte Thomas Manns erfährt man, daß sie sich im Privatbesitz Wolfgang Dreiacks befinde: »To Stephen H. Fritchman, / defender of American / evangelic freedom / Thomas Mann«. Reverend Stephen Hole Fritchman (1902-81), dessen Name, so Detering, Mann »nach der ersten Begegnung ohne weiteres ›Fritzmann‹« (98) schrieb, war von 1948 bis 1969 Vorsitzender der First Unitarian Church of Los Angeles. Detering hat – wie Frido Mann in seinem die Studie abschließenden Essay anmerkt – »eine ergreifende Trauerrede« entdeckt, die »Fritchman zu Thomas Manns Tod 1955 vor seiner Gemeinde gehalten hatte und in der er Thomas Mann als einen religiösen Mahner mit den alttestamentarischen Propheten Hesekiel und Jeremias verglich.« (323) Nun, vielleicht denkt Mann auf der verwendeten Photographie über die Religion nach. Man meint, Skepsis in seinen Augen zu erkennen.

Heinrich Detering, Thomas Mann und »Fritzmann«

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American Idol

Nietzsche war nie in Amerika, doch Amerika war bei Nietzsche: Er ›vergötterte‹ Emerson, den er seit 1862 in Übersetzung las. Diese Vereinigung, »one of the most significant acts of transatlantic cross-fertilization in Western intellectual history«, ließ Emersons Warnung konkret werden: »Beware when the great God lets loose a thinker on this planet.« Dieser Denker sollte Nietzsche sein, wie Nietzsche selbst mit diesem Denker Schopenhauer identifiziert hatte. Das Buch American Nietzsche: A History of an Icon and His Ideas von Jennifer Ratner-Rosenhagen, das am 6. Dezember erscheinen soll, verspricht, eine interessante Darstellung der Rezeption Nietzsches in den Vereinigten Staaten zu sein.

Ross Posnock. »American Idol: On Nietzsche in America.« The Nation, Nov. 1, 2011, https://www.thenation.com/article/american-idol-nietzsche-america/.

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