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  • Warnhinweise

    Bereits im Frühjahr 2014 berichtete die New York Times, daß Studenten an US-Hochschulen sogenannte »trigger warnings« forderten, die auf Materialen appliziert werden sollten – etwa Bücher, Filme, Kunstwerke –, die »might upset them [the students] or, as some students assert, cause symptoms of post-traumatic stress disorder in victims of rape or in war veterans.« Zu den Büchern, die mit einem solchen Warnhinweis versehen werden sollten »gehören [unter anderem] Shakespeares ›The Merchant of Venice‹ (enthält Antisemitismus) und Virginia Woolfs ›Mrs. Dalloway‹ (spricht Selbstmord an).«

    An diese polarisierende Diskussion mußte ich denken, als ich kürzlich die auf Philip K. Dicks 1962 publiziertem dystopischen Roman basierende Serie The Man in the High Castle schaute. In Episode 2 der vierten und letzten Staffel bekommt man ein besonders eindrückliches, erschreckendes Beispiel eines ultimativen Warnhinweises in Form eines Bücherverbots präsentiert. Die Szene spielt in einem Klassenzimmer im vom Deutschen Reich besetzten New York City der 1960er Jahre.

    Die Lehrerin Mrs. Vick referiert: »In Shakespears Kaufmann von Venedig ist der Hauptantagonist ein erbarmungsloser jüdischer Geldverleiher namens Shylock. Dieser Mann verlangt ein Pfund Fleisch, und zwar Menschenfleisch als Sicherheit für ein Darlehen. Mit Shylock dramatisiert Shakespeare die wahre Natur des Juden: böse, betrügerisch und gierig.« Eine Schülerin namens Tracy meldet sich, steht auf und merkt an: »Shylock sagt im dritten Akt: ›Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?‹« Mrs. Vick reagiert irritiert mit einem: »Ja und?«, woraufhin Tracy mit einem bemerkenswerten, ja atemberaubenden Gedankengang Shakespeare auf den Kopf stellt: »Meint dieser Autor damit, daß Juden Menschen sind?« Die Lehrerin denkt nach und gibt ein wenig überrascht zu: »So hab ich das nie betrachtet.« Und Tracy fügt, subtil an das Menschenbild der Nazis gemahnend, an: »Wir sollten das nicht lesen.« Die Schüler tauschen fragende Blicke aus, Flüstern entsteht. Leicht stotternd und sichtlich verängstigt erwidert Mrs. Vick: »Danke für den Hinweis, Tracy. Ich glaube, du hast recht. Ich werde es im Lehrerkollegium besprechen und wir sortieren das aus. Das tun wir.«

    Mit einem zufriedenen Lächeln setzt sich Tracy wieder; ihrem Warnhinweis wurde prompt und unkompliziert entsprochen.


    Jennifer Medina. »Warning: The Literary Canon Could Make Students Squirm.« The New York Times, May 17, 2014, https://www.nytimes.com/2014/05/18/us/warning-the-literary-canon-could-make-students-squirm.html.

    »Der Anschlag.« The Man in the High Castle, Staffel 4, Episode 2, Amazon Studios, Scott Free Productions, 2019, 30:38-31:37.

    → 2:54 PM, Mar 30
  • Die Quelle des Genies

    Die zweite Seite des George-North-Manuskripts, die die Passage zeigt, die Shakespeare zum Schreiben des Eröffnungsmonologs in »Richard III.« verwendete

    Die New York Times berichtet, daß zwei findige Forscher, Dennis McCarthy und June Schlueter, mit Hilfe der Plagiatssoftware WCopyfind herausgefunden hätten, daß sich William Shakespeare zu elf seiner Stücke von dem unveröffentlichten Manuskript A Brief Discourse of Rebellion & Rebels, verfaßt von George North im späten 16. Jahrhundert, habe inspirieren lassen. »It [the source] affects the language, it shapes the scenes and it, to a certain extent, really even influences the philosophy of the plays«, so McCarthy. Das Auffinden des Manuskripts war mühsam; es wurde schließlich in der British Library entdeckt, die es 1933 erworben hatte. Rebellion and Rebels wurde nun bei Boydell & Brewer erstmals publiziert und kann für $ 120 beziehungsweise € 90,99 erworben werden. Die Quelle des Genies hat wahrlich ihren Preis.


    Michael Blanding. »Plagiarism Software Unveils a New Source for 11 of Shakespeare's Plays.« The New York Times, Feb. 7, 2018, https://www.nytimes.com/2018/02/07/books/plagiarism-software-unveils-a-new-source-for-11-of-shakespeares-plays.html.

    → 10:00 AM, Feb 8
  • Das Ende der Geschichtsferien

    Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, das sich am Ende der Sommerferien einstellte: einerseits ein Gefühl der Trauer und Melancholie ob der verlorenen Freizeit, andererseits eine überschwengliche Mischung aus Neugier und Vorfreude auf das, was kommen möge. In diesem diffusen Transitstadium sieht der bulgarische Politologe Ivan Krastev die Bundesrepublik Deutschland, wenn er seinen Meinungsbeitrag für die New York Times mit dem Satz beginnen läßt: »Germans have enjoyed a long holiday from history, but it looks like their vacation is over.« Mit anderen Worten: Genug gefaulenzt, jetzt ist Schluß mit lustig! Das Ergebnis der Bundestagswahl hat das Land aus seinem lethargischen Dornröschenschlaf gerissen. Laut Krastev werde die sogenannte Flüchtlingskrise die tiefgreifendsten Auswirkungen auf die Europäische Union haben: »That crisis has, in its way, become Europe’s Sept. 11 in that it has fundamentally altered how citizens look at the world.« In Anlehnung an Shakespeares Richard III. könnte man sagen, daß Deutschlands, ja daß auch Europas glorreicher Sommer nun langsam, aber sicher in einen Winter des Mißvergnügens übergehen dürfte. Weder kann man sich seiner Verantwortung noch der Geschichte entziehen. Auf unabsehbare Zeit wird daher eine Urlaubssperre verhängt werden müssen.


    Ivan Krastev. »Dual anxiety in Germany and Europe.« The New York Times International Edition, Oct. 5, 2017, pp. 1 & 14, hier p. 1.

    William Shakespeare. »König Richard III.« Historien, herausgegeben von Günther Klotz, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin, Aufbau, 2009, pp. 789-905, hier p. 793 [1.1.1-2].

    → 9:12 AM, Oct 7
  • Unzeitgemäße Persönlichkeiten

    Ich finde in einer Würdigung des englischen Dichters Ben Jonson (1572-1637) die bemerkenswerte Formulierung: »Shakespeare may have been for all time, but Jonson was so of his own age that he remains more tangible as a personality.« Demnach unterscheiden sich die beiden Freunde Shakespeare und Jonson kategorial, und zwar durch die Oppositionspaare Weltzeit/Lebenszeit, göttlich/menschlich, abstrakt/konkret, unfaßbar/faßbar. Die Persönlichkeit Jonsons, die ihn als Vertreter seiner Zeit auszeichne und fixiere, habe Shakespeare zugunsten einer epochenübergreifenden, unmenschlichen Unpersönlichkeit abgelegt. Dennoch muß auch Jonson die immortalitas zugesprochen werden: noch immer spricht und schreibt man über ihn, man spielt und liest ihn, man würdigt ihn.


    Ed Simon. »The Other Folio: On the Legacy of Ben Jonson.« The Millions, Oct. 7, 2016, http://www.themillions.com/2016/10/the-other-folio-on-the-legacy-of-ben-jonson.html.

    → 11:30 AM, Oct 12
  • 2B OR NOT 2B

    Nun wissen wir endlich, wie Hamlet auf diesen berühmten Ausspruch – »To be, or not to be, aye there’s the point« (First Quarto) – kam: Er war sich unsicher, mit welcher Bleistiftstärke er seinen Liebesbrief »[t]o the celestial, and my soul’s idol, the most beautified Ophelia« schreiben sollte! (Via http://www.theliterarygiftcompany.com/)

    2B OR NOT 2B

    [Ursprünglich gepostet auf Google+]

    → 9:00 AM, Feb 2
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