Wissenschaft
Sinn und Wert
In seinem Anfang der 1930er Jahre entstandenen und erst im Sommer 2008 zufällig in einem unerschlossenen Teilnachlaß entdeckten Werk Elemente der Bildung mahnt der Romanist Ernst Robert Curtius, nicht nur die Frage nach Nutzen und Zweck zu stellen, sondern auch diejenige nach dem Sinn: »Als Beethoven die Neunte Symphonie schrieb, als Goethe den Faust dichtete, taten beide etwas, was sicher nutzlos und zwecklos und dennoch zweifellos wertvoll war. Wie soll man solches Tun bezeichnen? Wir nennen es sinnvoll.« Der Frage, was Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten nützen, liegt also eine tiefergehende Frage zugrunde, und zwar: »›Welchen Sinn kann dieses Wissen, dieses Ereignis, dieses Sachgebiet für mich gewinnen?‹« Curtius’ Plädoyer für ›unnützes‹ Wissen und ›unnütze‹ Bildung hat in Abraham Flexners Essay »The Usefulness of Useless Knowledge« – zuerst in der Oktober-Ausgabe 1939 des Harper’s Magazine erschienen, jetzt, im März 2017, bei Princeton UP herausgebracht und mit einem lesenswerten Begleittext Robbert Dijkgraafs versehen – ein mit anschaulichen Beispielen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich angereichertes Pendant. Flexner, Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton, schreibt: »With the rapid accumulation of ›useless‹ or theoretic knowledge a situation has been created in which it has become increasingly possible to attack practical problems in a scientific spirit.« Wer vermag einzuschätzen, was gegenwärtige Neugier, Vorstellungskraft und deep thinking für die Zukunft bedeutet? Was heute unnütz und überflüssig erscheint, könnte sich morgen schon als sinn- und wertvoll erweisen: Der Denkkerker als Zukunftslabor.
Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg. C. H. Beck, 2017, p. 25.
Abraham Flexner. »The Usefulness of Useless Knowledge.« Harper’s, Oct. 1939, https://library.ias.edu/files/UsefulnessHarpers.pdf.
Robbert Dijkgraaf. »We Need More ›Useless‹ Knowledge.« The Chronicle of Higher Education, Mar. 17, 2017, http://www.chronicle.com/article/We-Need-More-Useless-/239365?key=sp0x03E8c0EpmAD1jKoY1bfV4sUT5Q4XEgqPwngvKWO9K3tB2ItsT7NqOgfc52k3dEZob2E0Tmk2MGVTWEZwZGRZUHdxczhkclJ1U1YyRE0tbFlVMVViMHdPbw.
Abgenützte Köpfe
Von allen Prognosen, die auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technologie für das Jahr 2017 ausgesprochen worden sind – von selbstfahrenden Automobilen (welch schöne Tautologie!) über Quantencomputer bis zu privat finanzierten Fahrten zum Mond –, gefällt mir eine Vorhersage besonders gut: »Prof Sergio Canavero, an Italian neuroscientist, is also preparing to carry out the first human head transplant within a year. Valery Spiridonov, 31, a Russian who suffers from Werdnig-Hoffmann disease, a muscle-wasting condition, is to be the first patient.« Kopftransplantationen könnten 50 Jahre nach der ersten geglückten Herztransplantation ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hatte schon 1986 mit dem Gedanken gespielt, Köpfe so einfach zu wechseln wie Hosen. In einem seiner Dramolette läßt er die Figur Peymann sagen:
Schade daß man sich nicht auch ohne weiteres / einen neuen Kopf kaufen kann Bernhard / ich ginge jetzt im Augenblick gern mit Ihnen in einen Laden / und kaufte mir einen neuen Kopf / das ganze Leben laufen wir doch immer nur / mit einem abgetragenen ich will sagen mit einem abgenutzten Kopf herum / mit einem schäbig gewordenen Kopf Bernhard / alle Leute haben einen schäbigen Kopf auf / alle Köpfe die wir sehen sind abgenützte Köpfe / ich selbst habe natürlich einen völlig abgenützten Kopf / kaum haben wir einen Kopf / haben wir auch schon einen abgenützten / die Welt hat nur lauter abgenützte Köpfe / Das wäre doch eine tolle Sache Bernhard / wenn wir jetzt in ein Geschäft gehen könnten / und könnten uns neue Köpfe kaufen / und Sie trügen dann einen neuen / und ich trüge Ihren alten abgenützten in der Plastiktasche / und ich trüge auch einen neuen / und Sie trügen meinen alten Kopf in der Plastiktasche / und wir gingen mit neuen Köpfen auf dem Hals / in die Zauberflöte essen / und hätten unsere alten Köpfe in den Plastiktaschen
Thomas Bernhard. »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.« Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette, Suhrkamp, 1993, pp. 26-52.
Schon heute hätte die Gewißheit, stets einen kühlen Kopf bei sich zu tragen, etwas ungemein Beruhigendes.
Sarah Knapton. »Science and technology predictions for 2017.« The Telegraph, Dec. 30, 2016, http://www.telegraph.co.uk/news/predictions-2017/science-technology/.
Fontaneplag
Es ist still geworden um die Plagiatorenjäger. Die mediale Aufmerksamkeit, die ihnen noch vor wenigen Monaten mit den causae zu Guttenberg, Schavan oder von der Leyen zuteil geworden ist, scheint gänzlich den Themen Flüchtlingskrise, Populismus und Brexit gewichen zu sein. Da kommt einem der kurze Hinweis aus dem Jahre 1954 auf einen berühmten Abschreiber gerade recht: Theodor Fontane, seines Zeichens Schriftsteller, kein Politiker, soll sich in seinem 1878 erschienenen Roman Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 großzügig aus anderen Quellen bedient haben. Arno Schmidt urteilt: »[D]er Kenner älterer Literatur stößt auf Schritt und Tritt erbittert auf Geschichten und Novellen, die er längst bei Krug von Nidda oder Fouqué vorher gelesen hat !« Ja, Fontane solle gar das gesamte Kapitel »Von Kajarnak, dem Grönländer« schamlos abgeschrieben haben, und zwar bei David Cranz’ bereits 1765 erschienener Historie von Grönland enthaltend Die Beschreibung des Landes und der Einwohner etc. insbesondere die Geschichte der dortigen Mission der Evangelischen Brüder zu Neu=Herrnhut und Lichtenfels, genauer: die Seiten 490 bis 531. Schmidt schließt sarkastisch: »[…] mit Grönländern läßt sich ein Berliner scheinbar besser nicht ein !« Man möchte ergänzen: Die heutige, mit akademischen Meriten dekorierte Prominenz möge den Ehrgeiz und die Mittel der Plagiatorenjäger nicht unterschätzen!
Arno Schmidt. »Fontane und der Eskimo.« Essays und Aufsätze 1, herausgegeben von der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, 1995, pp. 156-9. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches, Studienausgabe Bd. 3.
Keine Tabus
Die noch immer faszinierende Tatsache, daß hinter Claude Lévi-Strauss’ ethnologischer Studie Les Structures élémentaires de la parenté (1949) die linguistische Phonem-Theorie Roman Jakobsons steckt – quasi unter der Haube –, zeigt, daß das Heranziehen von fachfremden Erkenntnissen zu überraschenden, neuen, ja epochalen Ansichten führen kann. Man sollte also mit offenen Augen und einem panoramatischen Blick durch die Welt gehen, um Beziehungen und Gegensätze breiter betrachten und klassifizieren zu können.
Adam Kuper. »Philosopher among the Indians.« Rezension zu Lévi-Strauss, von Emmanuelle Loyer. The Times Literary Supplement, Oct. 12, 2016, http://www.the-tls.co.uk/articles/public/philosopher-among-the-indians/.
Curiositas
Die Gier nach Neuem galt lange Zeit als Motor wissenschaftlicher Erkenntnis, als treibende Kraft, Grenzen zu überschreiten und das ›unentdeckte Land‹ zu vermessen. Doch was ist aus der Neugierde geworden? Gibt es in der heutigen Wissenschaft noch einen Platz für sie oder zählt nurmehr noch das persönliche Netzwerk als Karriereprinzip? Peter-André Alt macht sich stark für die curiositas, den Zufall als Erkenntnisprinzip sowie für Beharrlichkeit und Ausdauer beim wissenschaftlichen Arbeiten.
Peter-André Alt. »Ist der Kandidat denn auch gut vernetzt?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Jan. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/motive-der-forschung-ist-der-kandidat-denn-auch-gut-vernetzt-11600466.html.
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