Formaneks Vierjahresplan für Münster

Es war mal wieder soweit: Vier Jahre nach dem letzten, durch die Corona-Pandemie in seinem Event-Charakter reduzierten Schildwechsel, der statt am 2. April 2020 erst im Mai ohne Publikum stattgefunden hatte, wurde Mark Formaneks Datum jetzt am Michaelisplatz in Münster wieder zu einem Happening.

Der Schildwechsel, der am 27. März 2024 um 16:30 Uhr stattfinden sollte, zog bereits gut eine Stunde vor dem Ereignis erste Schaulustige an. (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2024)

Um 16:25 Uhr wurde das alte Schild abgeschraubt (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2024)

Hunderte Schaulustige wohnten dem Schildwechsel bei (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2024)

Unter Applaus wurden die Schilder gewechselt (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2024)

Factum est! Safe the date: 20. März 2028, 16:45 Uhr (Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.com, März 2024)

Die Menschenmenge löste sich auf; oft hörte man die Grußformel: »Bis in vier Jahren dann!«


Zeitüberfluß

Ein besonders humorvolles Beispiel, in einer Situation, in der mehr Zeit zur Verfügung steht, als gedacht, mit einem Mehr oder Zuviel an Zeit umzugehen, gibt der vorgestern im Alter von 61 Jahren an Leukämie verstorbene kanadische Stand-Up-Comedian Norm Macdonald. Er war berühmt dafür, mäandernde und verwirrende Geschichten mit teils abstrusen, kitschigen oder auch bitterbösen Pointen zu erzählen. Einen solch labyrinthartigen Witz über eine Motte in der Praxis eines Podologen breitete er im August 2009 in der Tonight Show mit Conan O’Brien aus.

Bei einer Vorstellung seines Buches Based on a True Story: Not a Memoir im September 2016 verriet Macdonald, wie es zu diesem ausufernd-kafkaesken Witz gekommen sei: Als Gast bei Conan O’Brien sei Macdonald von der Tatsache überrascht worden, daß ein weiteres Segment mit ihm in der Show nach einer Werbeunterbrechung vorgesehen wäre, er jedoch dafür kein Material mehr gehabt habe. Da habe er sich an einen Motten-Witz erinnert, den ihm sein ehemaliger Saturday Night Live-Kollege Colin Quinn erzählt habe. Er habe O’Brien in der Pause gefragt, wie lang das Segment nach der Werbung sein würde, hoffend, es wäre nicht länger als zwanzig Sekunden, denn länger würde er für den Motten-Witz nicht brauchen. O’Brien habe geantwortet: »Ungefähr sieben Minuten.« Also habe er den Witz ein wenig aufgebläht.

So wurde der Überfluß an Zeit mit einem Überfluß an Worten kompensiert und ausgefüllt.



Die menschlichen Jahreszeiten

An John Keats’ 200. Todestag

Four seasons fill the measure of the year; There are four seasons in the mind of man. He has his lusty Spring, when fancy clear Takes in all beauty with an easy span. He has his Summer, when luxuriously Spring’s honeyed cud of youthful thought he loves To ruminate, and by such dreaming nigh His nearest unto heaven. Quiet coves His soul has in its Autumn, when his wings He furleth close; contented so to look On mists in idleness - to let fair things Pass by unheeded as a threshold brook. He has his Winter too of pale misfeature, Or else he would forego his mortal nature.

Charles Brown: John Keats, 1819

Vier Zeiten füllen eines Jahres Maß; Es gibt vier Zeiten in des Menschen Geist. Er steht im satten Frühling seines Jahrs, Wenn Phantasie das Schöne klar umreißt. Er steht im Sommer, wenn er nochmals spürt, Wie honigsüß der Frühling, jugendlich Sein Denken war und, nur vom Traum geführt, Wie nah dem Himmel. Schlupfwinkel für sich Hat seine Seele dann im Herbst und rollt Die Flügel ein; beruhigt so, schaut er aus Nach Nebeln - lässig läßt er alles Gold Vorbeiziehn, achtlos wie den Bach vorm Haus. Auch ist sein Winter bleich voll Mißgestalten, Sonst würde er sich für unsterblich halten.

[Entstanden im März 1818 in Teignmouth.]


John Keats. »The Human Seasons/Die menschlichen Jahreszeiten.« Werke und Briefe. Lyrik (Englisch/Deutsch), Verserzählungen, Drama, Briefe. Ausgewählt und übertragen von Mirko Bonné unter Verwendung der Briefübersetzungen von Christa Schuenke. Nachwort von Hermann Fischer. Reclam, 1995, p. 114-5; 427.


Time Games

Das Rolling Stone Magazine wiederveröffentlicht anläßlich John Lennons vierzigstem Todestag einen Nachruf aus seiner Ausgabe vom 22. Januar 1981, geschrieben vom damals fünfunddreißigjährigen Journalisten und Schriftsteller Scott Spencer. Darin findet sich – neben vielen Plattitüden – der elementar philosophische Gedanke des Sterbenlernens, der in Zeiten einer Pandemie ins Bewußtsein der Menschen zurückzukehren im Begriff ist: »Weil er uns erlaubte, ihn zu kennen und zu lieben, gab John Lennon uns die Chance, an seinem Tod teilzuhaben und die Vorbereitungen für unseren eigenen wiederaufzunehmen.«

Der Zeitpunkt seines Todes ist gesichert überliefert: Es war der 8. Dezember 1980. »At 11:15 P.M.«, heißt es in Keith Elliot Greenbergs faszinierender Analyse December 8, 1980. The Day John Lennon Died, »John Lennon was officially pronounced dead.« Beachtet man den Zeitunterschied zwischen Liverpool, wo Lennon geboren, und New York City, wo er ermordet wurde, so trat der Tod des Musikers in seiner Heimatzeitzone morgens um 4:15 Uhr am 9. Dezember 1980 ein. Aus diesem temporalen Grund erinnere ich erst am heutigen 9. Dezember an den Tod des einflußreichen Imaginaristen. — So keep on playing those time games together / Faith in the future out of the now —


Scott Spencer. »›We Are Better People Because of John Lennon.‹« Rolling Stone, December 8, 2020, www.rollingstone.com/feature/j…

Keith Elliot Greenberg. December 8, 1980. The Day John Lennon Died. Backbeat Books, 2010, p. 172.


Uplifting!

Am heutigen 30. Oktober erscheint das inzwischen 31. Studioalbum des sechsundsechzigjährigen britischen Musikers Declan Patrick MacManus, besser bekannt als Elvis Costello. Es trägt den Titel Hey Clockface, und in dessen Titelsong »Hey Clockface / How Can You Face Me?« unternimmt Costello inhaltlich wie musikalisch eine Zeitreise:

Hey Clockface
Now I don’t feel a thing
You stole away the heart in me
And then removed my spring
The winding mechanisms shot
The movement is unwound
Don’t tick or tock or dare to make a sound

Für Stephen Colberts Late Show führte Costello diesen Song kongenial mit Jon Batiste auf, dem Bandleader und musikalischen Leiter der Late Show. Der talentierte Batiste, Jahrgang 1986, dessen rachmaninowgleiche Hände federleicht über die Klaviatur schweben, ist mit dem seltenen Talent gesegnet, allein schon durch Mimik und Körpersprache Musik zu vermitteln und erlebbar zu machen. Zusammen mit Costellos markanter Stimme kann diese Unplugged-Version nur mit dem schönen englischen Prädikat »uplifting« belegt werden, das im Deutschen ein wenig antiquiert als »erbaulich« oder »erhebend« daherkommt — aber was könnte Musik mehr bewirken, erst recht in Zeiten einer Pandemie?

Elvis Costello “Hey Clockface / How Can You Face Me” feat. Jon Batiste


Seiner Zeit voraus

In einem Auszug aus Erica Benners Monographie Be Like the Fox. Machiavelli in His World (Norton, 2017) stoße ich auf die folgende Passage: »Several years after writing the Prince, he [Machiavelli] wrote to a close friend that for a long time I have not said what I believed, nor do I ever believe what I say. And if sometimes I do happen to tell the truth, I hide it among so many lies that it is hard to find.« Wüßte ich nicht, daß dieses Zitat gut 500 Jahre alt ist, ich würde es einem Poststrukturalisten – Foucault, Barthes oder Derrida – zuordnen.


Erica Benner. »How Machiavelli Trolled Europe’s Princes. Machiavelli’s advice for rulers was ruthless and pragmatic—and he may have intended for it to secretly destroy them.« The Daily Beast, May 6, 2017, http://www.thedailybeast.com/articles/2017/05/06/how-machiavelli-trolled-europe-s-princes.html.


Touché!

Als ein Violinist – es handelte sich dabei wohl um den Italiener Felix Radicati – die sogenannten Rasumowsky-Quartette mit der Bemerkung, diese seien keine Musik, abqualifizierte, entgegnete ihm ihr Komponist Beethoven souverän: »Sie sind nicht für Sie, sie sind für eine kommende Zeit.« Dieses Diktum sollten sich alle Künstler auf ihre Fahnen schreiben.


Lewis Lockwood. »›There Is Only One Beethoven‹.« Rezension zu Beethoven for a Later Age: Living with the String Quartets, von Edward Dusinberre. The New York Review of Books, Jan. 19, 2017, vol. LXIV, no. 1, pp. 48-50.


Lektürezeit

Der investigative Journalist Luke Harding schätzt, daß ein einzelner Leser gut 27 Jahre für die Bewältigung der sogenannten Panama Papers benötigen würde – das größte Epos moderner Kleptokratie, das die Welt je gesehen hat!


Alan Rusbridger. »Panama: The Hidden Trillions« The New York Review of Books, Oct. 27, 2016, vol. LXIII, no. 16, pp. 33-5.


Unzeitgemäße Persönlichkeiten

Ich finde in einer Würdigung des englischen Dichters Ben Jonson (1572-1637) die bemerkenswerte Formulierung: »Shakespeare may have been for all time, but Jonson was so of his own age that he remains more tangible as a personality.« Demnach unterscheiden sich die beiden Freunde Shakespeare und Jonson kategorial, und zwar durch die Oppositionspaare Weltzeit/Lebenszeit, göttlich/menschlich, abstrakt/konkret, unfaßbar/faßbar. Die Persönlichkeit Jonsons, die ihn als Vertreter seiner Zeit auszeichne und fixiere, habe Shakespeare zugunsten einer epochenübergreifenden, unmenschlichen Unpersönlichkeit abgelegt. Dennoch muß auch Jonson die immortalitas zugesprochen werden: noch immer spricht und schreibt man über ihn, man spielt und liest ihn, man würdigt ihn.


Ed Simon. »The Other Folio: On the Legacy of Ben Jonson.« The Millions, Oct. 7, 2016, http://www.themillions.com/2016/10/the-other-folio-on-the-legacy-of-ben-jonson.html.


4514

Man kann dem US-Fotografen Noah Kalina eine gewisse narzißtische Selbstdisziplin nicht absprechen. In seinem schon 2006 veröffentlichten Video Everyday zeigt er das eigene Altern in Zeitraffer. Nun hat er sein Projekt aktualisiert: Vom 11. Januar 2000 (Kalina war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt) bis zum 30. Juni 2012 (kurz vor seinem 32. Geburtstag) porträtierte sich der Photograph jeden Tag selbst und fügte diese 4514 Einzelaufnahmen zu einem gut achtminütigen Video zusammen. Ist hier alles eitel?

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=iPPzXlMdi7o)
12,5 Jahre in 4514 Bildern

[Ursprünglich gepostet auf Google+]