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  • Populismus

    In ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2019 macht die New York Times auf ein bemerkenswertes, fast schon romantisch zu nennendes Langzeitprojekt aufmerksam, das im wahrsten Sinne des Wortes aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Seit den 1890er-Jahren arbeiten rund 400 Wissenschaftler am sogenannten THESAVRVS LINGVAE LATINAE, einem monumentalen, einsprachigen Wörterbuch der lateinischen Sprache, das bis dato 18 Bände umfaßt und – nach Aufschub von Q und N – beim Buchstaben R angekommen ist; man beabsichtigt im Jahre 2050 mit dem Lemma »zythum« (ein ägyptisches Malzbier) das ThLL abgeschlossen zu haben.
    Die folgende Anekdote scheint mir erwähnenswert: »Gastwissenschaftler«, so heißt es in dem Artikel, »kommen oft vorbei [im Institut bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München], um bestimmte Wörter nachzuschlagen – das Gästebuch außerhalb der Bibliothek enthält in schwachen Lettern den Namen Joseph Ratzinger, besser bekannt als Papst Benedikt XVI. Er kam, um die Zettelkästen nach ›populus‹ zu befragen, was ›Massen‹ oder ›Volk‹ bedeutet.« [Meine Übersetzung] Es sei jedem selbst überlassen, eine Antwort auf die Frage zu ersinnen, warum Ratzinger ausgerechnet an diesem Begriff ein solches Interesse besaß. Ein Blick in den Thesaurus, vol. 10.1.2, Sp. 2713-38, zeigt, daß »populus« mit gut 25 Spalten einen weitaus umfangreicheren Eintrag darstellt als das gar nicht so weit entfernte »pontifex« mit derer neun (Sp. 2672-81).


    Annalisa Quinn. »Latin Dictionary’s Journey: A to Zythum in 125 Years (and Counting).« The New York Times, Nov. 30, 2019, https://www.nytimes.com/2019/11/30/arts/latin-dictionary.html.

    TLL Open Access. Bayerische Akademie der Wissenschaften, 2019, https://www.thesaurus.badw.de/en/tll-digital/tll-open-access.html.

    → 5:55 PM, Dec 2
  • Bockige Ausdauer

    In der aktuellen Ausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext ist das Gespräch abgedruckt (und wie man erfährt: »hier erstmals vollständig publiziert«), das Alexander Kluge im April 1994 mit dem damals 66jährigen Soziologen Niklas Luhmann in München geführt hat. Es endet mit Kluges Frage: »Was würden Sie als eine Ihrer Haupteigenschaften bezeichnen?«, worauf Luhmann prägnant antwortet: »Bockigkeit«. Die Semantik dieses Begriffs umgibt nichts Mysteriöses; das Verb ›bocken‹ bedeutet – folgt man Kluges (nicht Alexander!) Etymologischem Wörterbuch – »steifbeinig dastehen und sich sperren wie ein Bock«. Luhmann sieht sich also als einen störrischen, widerstrebenden, vielleicht auch launischen Menschen, in dessen Hartnäckigkeit jedoch vor allem das Moment der unbedingten Ausdauer zum Tragen kommt. Interessanterweise hatte der 61jährige Philosoph Hans Blumenberg 1982 im sogenannten Proustschen Fragebogen für das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Frage nach seinem Hauptcharakterzug nicht minder prägnant, doch weniger negativ konnotiert, als es Luhmann tat, mit »Ausdauer« beantwortet. Sicherlich muß man als Geistesarbeiter nicht nur flexibel und offen, sondern auch ausdauernd und stur wie ein Bock sein, zumindest wenn man ein ganzes Zettelkasten-Universum erschaffen und beherrschen möchte, wie dies Blumenberg und Luhmann getan haben. Im Nachwort zu Quellen, Ströme, Eisberge findet sich – bezugnehmend auf eine Randbemerkung Blumenbergs auf einer Kopie von Luhmanns Text Kommunikation mit Zettelkästen – die folgende Anekdote: »Gegen Luhmanns Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹« – man beachte das beinahe bockig gesetzte Ausrufezeichen.


    Alexander Kluge. »›Schirmherr makelloser Schlangenschönheit.‹« Volltext, Nr. 4/2017, pp. 34-51, hier pp. 34, 49.

    Art. »bocken.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 137.

    Rüdiger Zill. »Umweg zu sich. Hans Blumenbergs Spiegel-Bild.« Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VII/1, Frühjahr 2013, pp. 81-90, hier p. 88.

    Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Nachwort. Quellen, Ströme, Eisberge, von Hans Blumenberg, herausgegeben von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Suhrkamp, 2012, pp. 271-85, hier p. 280.

    → 2:00 PM, Jan 4
  • Zettelkasten, Teil 2

    Das aktuelle Merkheft von Zweitausendeins zeigt auf seinem Cover eine Photographie Werner Michaels’: Der ins Karteikartenausfüllen versunkene Arno Schmidt sitzt vor einer Batterie Zettelkästen, die an ein hölzern-papiernes Amphitheater en miniature erinnern, in welchem ein riesiger Schriftsteller die Rolle des Schöpfer-Protagonisten einnimmt.

    Zweitausendeins. Merkheft 307, Oktober 2016.

    → 11:00 AM, Oct 1
  • Zettelkasten

    Als ich eben das Nachwort zu Hans Blumenbergs Quellen (Hg. Ulrich v. Bülow u. Dorit Krusche. DLA Marbach, 2009) las, mußte ich über folgende Randbemerkung schmunzeln: »Seinen ersten Zettelkasten legte Blumenberg vermutlich bereits Anfang der vierziger Jahre an, in einer Zeit, in der er wegen seiner jüdischen Herkunft Verfolgungen und Benachteiligungen ausgesetzt war. Für diese Datierung spricht nicht nur der Zustand der frühen Karteikarten, sondern auch eine seiner Randbemerkungen in Niklas Luhmanns Erfahrungsbericht ›Kommunikation mit Zettelkästen‹ (in: N. L., ›Universität als Milieu‹, Bielefeld, 1992). Gegen dessen Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹.« (91) In den insgesamt 55 Jahren bis zu seinem Tode schuf Blumenberg ein Archiv aus 30.000 Karten! Blumenberg – nein! die Herausgeber seiner Nachlaß-Fragmente sind es, die mehr und mehr zum modernen Quintus Fixlein avancieren, indem sie sein Leben (und Denken!) aus Zettelkästen, aus Schubern und Mappen ziehen. Es bleibt zu hoffen, daß sie im Sinne des so peniblen Philosophen mit Feingefühl, Kommentaren und in historisch-kritischer Manier diese Mammutaufgabe bewältigen.

    [Ursprünglich gepostet auf Google+]

    → 9:00 AM, Nov 4
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