Wahlfreiheit
Aus einer Doppelrezension in der New York Review of Books erfahre ich, daß strafrechtlich vorbelastete Kandidaten bei bundesstaatlichen und nationalen Wahlen in Indien dreimal häufiger gewinnen würden als andere. Dies deute darauf hin, daß sie es besser verstehen würden, Wähler zu kaufen oder einzuschüchtern, oder sie davon zu überzeugen, daß sie besser in der Lage seien, ›Dinge zu erledigen‹, als ihre gesetzestreuen Rivalen dies tun könnten. Der Ehrliche ist also nicht nur der Dumme; der Gesetzestreue scheint vor allem der Verlierer und der Ohnmächtige zu sein.
Max Rodenbeck. »A Mighty Wind.« Rezension zu How the BJP Wins: Inside India’s Greatest Election Machine, von Prashant Jha sowie When Crime Pays: Money and Muscle in Indian Politics, von Milan Vaishnav. The New York Review of Books, Apr. 19, 2018, vol. LXV, no. 7, pp. 4-8, hier p. 8.
Überzüchtung
Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch kommt in seiner gelehrten Blumenberg-Biographie auf die schwierigen Umstände zu sprechen, unter denen der junge Kieler Doktorand in der Nachkriegszeit forschen mußte, wobei Flasch en passant einen formidablen Neologismus anbringt:
[...]
; ich[Flasch]
nehme den Text[der Dissertation]
des 27-Jährigen[Blumenberg]
als ein Werk der Jahre 1945 bis 1947, in denen allein schon die Literaturbeschaffung den Autor vor Schwierigkeiten stellte, die die Researchhengste von heute sich kaum noch vorstellen können.
Die männlichen, unkastrierten Pferde, die häufig zur Zucht eingesetzt werden, tauchen, laut Flaschs Metapher, in menschlicher Gestalt im heutigen Wissenschaftsbetrieb auf, um textuellen Forschungsnachwuchs am Fließband zu (er-)zeugen. Als Deckhengste des Geistes scheinen sie Züge des polymechanos Odysseus zu tragen; ihre Recherche führen sie mit List und Tücke, vor allem jedoch unter Zuhilfenahme mechanisch-technischer Mittel wie Computer, Suchmaschinen, ja Algorithmen generell. Peter Sloterdijk erinnert daran, daß »der Krieg von alters her das Polytechnikum der Ingenieure bedeutet«, und daß es daher nicht verwundere, »wenn das Beiwort polymechanos zuerst einem Krieger zugesprochen wurde.«
Ob als Hengste oder Krieger – das Attest des inzwischen 88jährigen Kurt Flasch behält seine Gültigkeit: Die Forscher der Gegenwart würden in der Nachkriegszeit auf verlorenen Posten stehen.
Kurt Flasch. Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966. Klostermann, 2017, p. 140.
Peter Sloterdijk. »Odysseus der Sophist. Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress.« Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp, 2016, pp. 253-90, hier p. 283.
Frust am Text. Gedanken zum Thomas-Bernhard-Sound
Es fällt mir schwer, Thomas Bernhard zu empfehlen. Dieses Geständnis klingt nach einem erzwungenen, allerdings mache ich es aus freien Stücken und vor dem Hintergrund jahrelanger literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem so eigentümlichen österreichischen Schriftsteller. Empfehlungen sind mit Vorsicht zu genießen, Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Eine Empfehlung möchte Genuss bereiten, einen Nutzen bringen, Lust verschaffen, und das heißt in diesem Falle: Lektüregenuss. Doch gerade diese Lust am Text kippt allzu schnell in Frust um, was ich auf den typischen Bernhard-Sound zurückführen möchte. [Weiterlesen in Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, Heft 2/2017, pp. 79-90]
Jahresschalttage
Als die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im August vergangenen Jahres darauf hinwies, daß beim fünfzigsten Jubiläum der Johnsonschen Jahrestage eine kalendarische Übereinstimmung mit den Jahren 2017/18 bestehe, vergaß sie – trotz Hinweis auf das Schaltjahr 1968 – zu erwähnen, daß die Tageskongruenz nur bis zum 28. Februar währen würde. Der ›heutige‹ Jahrestag erstreckt sich über neun Seiten und trägt das Datum »29. Februar, 1968 Donnerstag«; fünfzig Jahre später ist dieser Donnerstag der 1. März. »Wir sollten ihn [den zusätzlichen Tag]
statt am 29. Februar am 32. Dezember erwarten«, so Alexander Demandt in seiner Kulturgeschichte der Zeit, »aber Caesar hielt aus kultischen Gründen an dem Februartermin fest.« Beinahe wäre also diese etwas unschöne, schiefe Lektürelage der Jahrestage in ihrem Jubiläumsjahr verhindert worden.
Andreas Bernard. »Zurück zum Riverside Drive.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Aug. 2017, p. 41.
Nico Schulte-Ebbert. »Jahrestag der Jahrestage.« denkkerker, 21. Aug. 2017, http://denkkerker.com/2017/08/21/jahrestag-der-jahrestage/.
Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, pp. 710-8.
Alexander Demandt. Zeit. Eine Kulturgeschichte. Propyläen, 2015, p. 230.
Endzeitvisionen
In einem Zeitalter wie dem unsrigen, in dem sich der Mensch mehr und mehr physisch entkoppelt und seine Lebenswelt im Virtuellen einrichtet, nimmt es nicht wunder, wenn selbst dem Dataismus positiv gegenüberstehende Intellektuelle wie der israelische Whig-Historiker Yuval Noah Harari zu dystopischen Prognosen greifen – schließlich stehen das Schicksal und das Überleben der mächtigsten Spezies unseres Planeten auf dem Spiel!
»Doch sobald das ›Internet aller Dinge‹ existiert und funktioniert«, so Harari in seinem zweiten Bestseller Homo Deus, »könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.« Auch wenn der Autor an dieser Stelle keinen Verweis anbringt, so ist die Anspielung auf einen berühmten Vorgänger doch offensichtlich: Michel Foucault hatte seine 1966 erschienene Epistemologie Les mots et les choses mit den apokalyptischen Worten enden lassen: »[...]
, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«
Sowohl Foucault als auch Harari beschreiben in ihren Werken einen fundamentalen Orientierungs- und Ordnungswechsel, der eine Marginalisierung der menschlichen Autorität zur Folge hat. Den ›Tod‹ des Menschen inszenieren beide Autoren auf ähnliche Weise und in ähnlichen Gefilden: hier ist von Verschwinden die Rede, dort von Auflösung; hier geschieht es am Meeresufer, dort im Datenstrom; hier ist das Subjekt ein Gesicht im Sand, dort ein Erdklumpen im Fluß. Erde, Sand, Wasser, Meer – es scheint, als zöge die existentielle Heimat den Menschen zurück in ihren Schoß; es scheint, als würde der Mensch wieder Teil der Natur werden. Man könnte sich weitaus düstere Endzeitvisionen ausmalen.
Yuval Noah Harari. Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn. 3. Aufl., C. H. Beck, 2017, p. 534.
Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Suhrkamp, 1974, p. 462.
Die Quelle des Genies
Die zweite Seite des George-North-Manuskripts, die die Passage zeigt, die Shakespeare zum Schreiben des Eröffnungsmonologs in »Richard III.« verwendete
Die New York Times berichtet, daß zwei findige Forscher, Dennis McCarthy und June Schlueter, mit Hilfe der Plagiatssoftware WCopyfind herausgefunden hätten, daß sich William Shakespeare zu elf seiner Stücke von dem unveröffentlichten Manuskript A Brief Discourse of Rebellion & Rebels, verfaßt von George North im späten 16. Jahrhundert, habe inspirieren lassen. »It [the source]
affects the language, it shapes the scenes and it, to a certain extent, really even influences the philosophy of the plays«, so McCarthy. Das Auffinden des Manuskripts war mühsam; es wurde schließlich in der British Library entdeckt, die es 1933 erworben hatte.
Rebellion and Rebels wurde nun bei Boydell & Brewer erstmals publiziert und kann für $ 120 beziehungsweise € 90,99 erworben werden. Die Quelle des Genies hat wahrlich ihren Preis.
Michael Blanding. »Plagiarism Software Unveils a New Source for 11 of Shakespeare’s Plays.« The New York Times, Feb. 7, 2018, https://www.nytimes.com/2018/02/07/books/plagiarism-software-unveils-a-new-source-for-11-of-shakespeares-plays.html.
Halbe Sachen
Ich finde im Mann ohne Eigenschaften eine kluge und nüchterne Auslegung des bei Platon überlieferten Kugelmenschen-Mythos (symp. 189a1-193e2). Nachdem sich Agathe gefragt hat, warum es so schwer sei, die beiden zu- und ineinander passenden Menschenhälften wiederzuvereinigen, die Zeus geteilt und dadurch geschwächt hatte, antwortet ihr Bruder Ulrich:
Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen. so ›hälftet‹ sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster.
Die Macht des Eros verleitet zum Ausruf: »Was nicht paßt, wird passend gemacht!« (Im Zweidimensionalen könnte man diese Methode die Quadratur des Kreises nennen.) So erodieren im Laufe der Zeit die Profile der Hälften durch ungeschicktes und übereiltes trial and error, bis selbst perfekte Gegenstücke keinerlei Verbindungsmöglichkeiten mehr erkennen lassen. Die Symbole stumpfen ab und verlieren ihre magische Wirkung. Sie sind gefangen zwischen Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht nach dem Urzustand, und können doch bloß halbe Sachen machen.
Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017, pp. 391-2. Gesamtausgabe Band 3, herausgegeben von Walter Fanta.
Bockige Ausdauer
In der aktuellen Ausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext ist das Gespräch abgedruckt (und wie man erfährt: »hier erstmals vollständig publiziert«), das Alexander Kluge im April 1994 mit dem damals 66jährigen Soziologen Niklas Luhmann in München geführt hat. Es endet mit Kluges Frage: »Was würden Sie als eine Ihrer Haupteigenschaften bezeichnen?«, worauf Luhmann prägnant antwortet: »Bockigkeit«.
Die Semantik dieses Begriffs umgibt nichts Mysteriöses; das Verb ›bocken‹ bedeutet – folgt man Kluges (nicht Alexander!) Etymologischem Wörterbuch – »steifbeinig dastehen und sich sperren wie ein Bock«. Luhmann sieht sich also als einen störrischen, widerstrebenden, vielleicht auch launischen Menschen, in dessen Hartnäckigkeit jedoch vor allem das Moment der unbedingten Ausdauer zum Tragen kommt.
Interessanterweise hatte der 61jährige Philosoph Hans Blumenberg 1982 im sogenannten Proustschen Fragebogen für das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Frage nach seinem Hauptcharakterzug nicht minder prägnant, doch weniger negativ konnotiert, als es Luhmann tat, mit »Ausdauer« beantwortet. Sicherlich muß man als Geistesarbeiter nicht nur flexibel und offen, sondern auch ausdauernd und stur wie ein Bock sein, zumindest wenn man ein ganzes Zettelkasten-Universum erschaffen und beherrschen möchte, wie dies Blumenberg und Luhmann getan haben.
Im Nachwort zu Quellen, Ströme, Eisberge findet sich – bezugnehmend auf eine Randbemerkung Blumenbergs auf einer Kopie von Luhmanns Text Kommunikation mit Zettelkästen – die folgende Anekdote: »Gegen Luhmanns Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹« – man beachte das beinahe bockig gesetzte Ausrufezeichen.
Alexander Kluge. »›Schirmherr makelloser Schlangenschönheit.‹« Volltext, Nr. 4/2017, pp. 34-51, hier pp. 34, 49.
Art. »bocken.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 137.
Rüdiger Zill. »Umweg zu sich. Hans Blumenbergs Spiegel-Bild.« Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VII/1, Frühjahr 2013, pp. 81-90, hier p. 88.
Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Nachwort. Quellen, Ströme, Eisberge, von Hans Blumenberg, herausgegeben von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Suhrkamp, 2012, pp. 271-85, hier p. 280.
2017 – Mein Bücherjahr
Am letzten Tag des Jahres werfe ich einen chronologisch ausgerichteten Blick zurück auf die abwechslungs- und lehrreichen Bücher, die ich in den vergangenen zwölf Monaten (wieder-)lesen konnte:
- Arno Schmidt. Essays und Aufsätze 1. Herausgegeben von der Arno Schmidt Stiftung. Haffmans, 1995. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches, Studienausgabe Bd. 3.
- E. M. Forster. Die Maschine steht still. Aus dem Englischen von Gregor Runge. Hoffmann und Campe, 2016.
- Wendy Moffat. E. M. Forster. A New Life. Bloomsbury, 2010.
- Jan Philipp Reemtsma. Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Reclam, 2016.
- Hans Blumenberg. Die Sorge geht über den Fluß. Suhrkamp, 1987.
[Zweite Lektüre nach 2009.]
- Manfred Geier. Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Rowohlt, 2017.
- Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016. Gesamtausgabe Bd. 2, herausgegeben von Walter Fanta.
- Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Neubearbeitet von Karin Metzler. 11. Aufl., Kröner, 1984. Kröners Taschenausgabe, Bd. 2.
[Zweite Lektüre nach 1998.]
- David Foster Wallace. Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich. Aus dem Amerikanischen von Markus Ingendaay. 14. Aufl., Goldmann, 2006.
[Zweite Lektüre nach 2012.]
- William Faulkner. Eine Rose für Emily. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. Diogenes, 1972.
[Zweite Lektüre nach 2011.]
- Walter Benjamin. Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. Suhrkamp, 1987.
[Zweite Lektüre nach 2004.]
- James Joyce. Dubliner. Übersetzt von Dieter E. Zimmer. Suhrkamp, 1995.
[Zweite Lektüre nach 2006.]
- Jacques Derrida. Die unbedingte Universität. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. 6. Aufl., Suhrkamp, 2016.
- Philip Roth. Das sterbende Tier. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 2003.
[Zweite Lektüre nach 2003.]
- Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg. C. H. Beck, 2017.
- Ian McEwan. Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 2007.
[Zweite Lektüre nach 2010.]
- Jim O’Donnell. The Day John Met Paul. An Hour-By-Hour Account of How The Beatles Began. Routledge, 2006.
- E. M. Cioran. »Auf den Gipfeln der Verzweiflung.« Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp, 2008, pp. 11-154.
[Zweite Lektüre nach 2009.]
- Paul-Henri Campbell. nach den narkosen. Gedichte. Wunderhorn, 2017.
- Emmanuelle Loyer. Lévi-Strauss. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, 2017.
- Patrick Wilcken. Claude Lévi-Strauss. The Poet in the Laboratory. Bloomsbury, 2010.
- W. G. Sebald. Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Lizenzausgabe, 6. Aufl., Fischer Tb, 2012.
- Homer. Die Odyssee. Übersetzt in deutsche Prosa von Wolfgang Schadewaldt. Rowohlt, 1958. Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Herausgegeben von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Wolfgang von Einsiedel. Griechische Literatur, Bd. 2.
- Leonid Zypkin. Ein Sommer in Baden-Baden. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Mit einem Vorwort von Susan Sontag. 2. Aufl., Berlin Verlag, 2006.
Mit der Lektüre 2017 begonnen, diese jedoch noch nicht abgeschlossen:
- Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2017. Gesamtausgabe Bd. 3, herausgegeben von Walter Fanta.
- Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000.
Aufregung zur Tätigkeit
Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, das mir am Wochenende zugestellt wurde, finde ich eine Photographie von Goethes während eines Bombenangriffs am 9. Februar 1945 zerstörtem Arbeitszimmer. Ganz gleich, wie das Verhältnis von Originalzustand und musealer Inszenierung, von Authentizität und Rekonstruktion des Weimarer Domizils gewesen sein mag: hier liegt nicht nur die Architektur in Trümmern, sondern vor allem die Aura des genius loci.
Der Dichter selbst spricht uns jedoch Trost zu, als könnte er uns, über ein Jahrhundert nach seinem Tod, fassungslos inmitten der Schuttberge stehen sehen: »Es darf uns nicht niederschlagen«, heißt es im Dezember 1787 in Goethes Italien-Bericht,
wenn sich uns die Bemerkung aufdringt, das Große sei vergänglich; vielmehr wenn wir finden das Vergangene sei groß gewesen, muß es uns aufmuntern selbst etwas von Bedeutung zu leisten das fortan unsre Nachfolger, und wär’ es auch schon in Trümmer zerfallen, zu edler Tätigkeit aufrege, woran es unsre Vorvordern niemals haben ermangeln lassen.
Paul Kahl. »Kulturgeschichte des Dichterhauses. Das Dichterhaus als historisches Phänomen.« Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Herausgegeben von Alexander Honold, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp und Ulrich Raulff, Bd. LXI, de Gruyter, 2017, pp. 325-45, hier p. 340.
Johann Wolfgang Goethe. Italienische Reise. In Zusammenarbeit mit Christof Thones herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller. Hanser, 1992. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, p. 543. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Bd. 15.
Anekdoten aus einem Jahrhundert
Was ich aus Emmanuelle Loyers monumentaler Biographie über den Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908-2009) gelernt habe:
- er war 1,79 Meter groß;
- er fiel 1933 durch die Führerscheinprüfung;
- er war leidenschaftlicher Leser von Kriminalromanen;
- er besuchte die Chinesische Oper in New York City mit Albert Camus;
- Franz Boas starb 1942 direkt neben ihm;
- Strawinsky machte auf ihn »den Eindruck einer pedantischen und ängstlichen russischen alten Dame«;
- er brach mit Jacques Lacan in dessen Citroën DS zu »sehr lustig
[en]
« Expeditionen auf; - er fand in alten Kochbüchern in der New York Public Library »absolut sensationelle aphrodisische Rezepte«;
- er war technophil, liebte Musik und Tiere;
- er schnupfte einerseits gern Tabak, andererseits war er mit zwei bis drei Päckchen täglich auch ein starker Raucher;
- er besaß eine Leidenschaft für Pilze;
- er war klaustrophob und überpünktlich;
- er äußerte sich sarkastisch, ja geradezu grausam gegenüber Roland Barthes’ literarischem Strukturalismus;
- er mochte den Humor der US-amerikanischen Fernsehserie The Sopranos;
- er hatte zwei Tageszeitungen abonniert;
- er kaufte Max Ernst einen Kriegshelm ab, nachdem dieser sich von Peggy Guggenheim getrennt hatte und knapp bei Kasse war;
- seine Lieblingsfarbe war Grün;
- er neigte dazu, ohnmächtig umzukippen;
- er schätzte Bücher von Michel Houellebecq;
- er wünschte sich, daß es bei seiner Beerdigung regnen würde, damit die Trauernden möglichst formlos in Plastikstiefeln erscheinen würden.
Emmanuelle Loyer. Lévi-Strauss. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, 2017, pp. 111, 135, 171-2, 380, 423, 440, 506-7, 578-9, 706, 715, 731-2, 740-1, 748, 750, 796, 805, 812, 883, 911, 946, 1031, 1034.
»Schoiße!«
Nachdem David Auerbach im Juli 2016 den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump in einem lesenswerten Text mit der Figur des exzentrischen Frauenmörders Moosbrugger aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930-43) verglichen hatte – »Trump and Moosbrugger are both amoral ciphers, pursuing self-aggrandizement in the absence of any substantial self« –, zieht Charles Simic nun Parallelen zwischen dem amtierenden US-Präsidenten Trump und Alfred Jarrys groteskem König Ubu aus dem gleichnamigen Theaterstück, das am 10. Dezember 1896 in Paris eine skandalbehaftete Premiere feierte. Simic schreibt:
Since Trump became president, every time I told myself this man is bonkers, I remembered Ubu, realizing how the story of his presidency and the cast of characters he has assembled in the White House would easily fit into Jarry’s play without a single word needing to be changed.
Machen wir die Probe aufs Exempel und blicken an den Anfang des Stücks:
Vater Ubu. Schoiße! / Mutter Ubu. Ach wie reizend, Vater Ubu; Ihr seid fürwahr ein rechter Lumpensack. / Vater Ubu. Daß ich Euch nicht mal erschlag, Mutter Ubu! / Mutter Ubu. Doch nicht mich, Vater Ubu; einen andern sollt ihr totmachen. / Vater Ubu. Bei meiner grünen Rotze, das versteh ich nicht.
Fast könnte man meinen, einer Pressekonferenz mit dem vermeintlich mächtigsten Mann der Welt beizuwohnen! »Obwohl es paradox erscheinen mag«, schrieb Oscar Wilde im Jahre 1889, »[…]
ist es darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.« Wenn Kunst und Leben ihre Positionen tauschten, geriete Trumps Präsidentschaft zu einem der größten Kunstwerke überhaupt; das Leben selbst versänke indes in absoluter Irrelevanz.
David Auerbach. »Donald Trump: Moosbrugger for President.« Crooked Timber, Jul. 26, 2016, http://crookedtimber.org/2016/07/26/donald-trump-moosbrugger-for-president/.
Charles Simic. »Year One: Our President Ubu.« NYRDaily, Nov. 6, 2017, http://www.nybooks.com/daily/2017/11/06/year-one-our-president-ubu/.
Alfred Jarry. König Ubu. Drama in fünf Aufzügen. Übersetzt und herausgegeben von Ulrich Bossier, Reclam, 1996, p. 5 [1.1.1-7]
.
Oscar Wilde. »Der Verfall der Lüge. Eine Betrachtung.« Essays II. Aus dem Englischen von Christine Hoeppener, Norbert Kohl, Christine Koschel, Hedda Soellner und Inge von Weidenbaum, Insel, 2000, pp. 9-44, hier p. 29. Sämtliche Werke in sieben Bänden, herausgegeben von Norbert Kohl, Bd. 7.
Geistesarbeiter
Aus einer Doppelrezension erfahre ich, daß Michel Foucault täglich zwölf Stunden lang in der Bibliothèque nationale de France gesessen haben soll. Er kann somit als aktuelles Beispiel der bereits Anfang des 18. Jahrhunderts attestierten »fragilen Professorengesundheit« aufgrund chronischer Immobilität herangezogen werden.
Bruce Robbins. »The Other Foucault. What led the French theorist of madness and sexuality to politics?« Rezension zu Foucault: The Birth of Power und Foucault’s Last Decade, von Stuart Elden. The Nation, Nov. 2, 2017, www.thenation.com/article/t…
Nico Schulte-Ebbert. »Mens sana in corpore sano.« denkkerker, 21. Nov. 2016, denkkerker.com/2016/11/2…
Das Ende der Geschichtsferien
Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, das sich am Ende der Sommerferien einstellte: einerseits ein Gefühl der Trauer und Melancholie ob der verlorenen Freizeit, andererseits eine überschwengliche Mischung aus Neugier und Vorfreude auf das, was kommen möge.
In diesem diffusen Transitstadium sieht der bulgarische Politologe Ivan Krastev die Bundesrepublik Deutschland, wenn er seinen Meinungsbeitrag für die New York Times mit dem Satz beginnen läßt: »Germans have enjoyed a long holiday from history, but it looks like their vacation is over.« Mit anderen Worten: Genug gefaulenzt, jetzt ist Schluß mit lustig! Das Ergebnis der Bundestagswahl hat das Land aus seinem lethargischen Dornröschenschlaf gerissen. Laut Krastev werde die sogenannte Flüchtlingskrise die tiefgreifendsten Auswirkungen auf die Europäische Union haben: »That crisis has, in its way, become Europe’s Sept. 11 in that it has fundamentally altered how citizens look at the world.« In Anlehnung an Shakespeares Richard III. könnte man sagen, daß Deutschlands, ja daß auch Europas glorreicher Sommer nun langsam, aber sicher in einen Winter des Mißvergnügens übergehen dürfte. Weder kann man sich seiner Verantwortung noch der Geschichte entziehen. Auf unabsehbare Zeit wird daher eine Urlaubssperre verhängt werden müssen.
Ivan Krastev. »Dual anxiety in Germany and Europe.« The New York Times International Edition, Oct. 5, 2017, pp. 1 & 14, hier p. 1.
William Shakespeare. »König Richard III.« Historien, herausgegeben von Günther Klotz, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin, Aufbau, 2009, pp. 789-905, hier p. 793 [1.1.1-2]
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Die Geburt des Denkkerkers
Ich muß feststellen – wenn auch nicht bestürzt, so doch immerhin betrübt –, daß der Begriff ›Denkkerker‹ nicht, wie von mir angenommen, auf den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard, sondern auf den Schweizer Autor Silvio Blatter zurückgeht. Dieser hatte den Begriff bereits 1978 – und damit acht Jahre vor Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall – in seinem Roman Zunehmendes Heimweh, dem ersten Teil seiner »Freiamt«-Trilogie, verwendet. Während Bernhard jedoch dem Denkkerker als Refugium eine durchaus positive Semantik verleiht, benutzt ihn Blatter hingegen kritisch als Symbol für die vom Katholizismus propagierte Lebensweise.
Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, herausgegeben von Hans Höller, Suhrkamp, 2004, p. 242. Thomas Bernhard Werke, herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 9.
Silvio Blatter. Zunehmendes Heimweh. Suhrkamp, 1978, p. 208.
Nico Schulte-Ebbert. Die Gewalt des Anderen. Aggression und Aggressivität bei Thomas Bernhard. Dissertation WWU Münster, 2012. Logos, 2015, Kap. 4.2.
Unbildnisse
Als ich vor einigen Tagen im Niobidensaal des Berliner Neuen Museums eine Büste Sokrates’ entdeckte, die mit fünf anderen griechischen Denkern und Dichtern vor dem exklusiven, achteckigen Nordkuppelsaal der Nofretete-Büste Spalier zu stehen schien, erinnerte ich mich an den F.A.Z.-Fragebogen, den Hans Blumenberg 1982 ausgefüllt hatte, und in welchem er unter anderem auf die Frage nach seiner »Lieblingsgestalt in der Geschichte« antwortete: »Sokrates, weil man von ihm wenig genug weiß, um sich alles denken zu können«. Ich fragte mich, wie realistisch, wie lebensecht diese Sokrates-Darstellung wohl sei, zumal es sich bei ihr um eine »[r]
ömische Kopie des 2. Jhs. n. Chr. nach griechischem Vorbild des 4. Jhs. v. Chr.« handelte. Doch ganz gleich, wie groß die Unähnlichkeit auch sein mag: man hätte es wohl kaum ertragen, nicht nur keine Schriften, sondern auch kein Bildnis dieses so herausragenden Philosophen zu besitzen.
Bildnis des athenischen Philosophen Sokrates (um 470-399 v. Chr.)
Apropos Schriften: Interessanterweise taucht der Name Sokrates noch zwei weitere Male in Blumenbergs Fragebogen auf, und zwar: »Ihre Helden in der Wirklichkeit?Sokrates, weil er nichts geschrieben hat / Ihre Heldinnen in der Geschichte?Yanthippe [sic!]
, da sie Sokrates ertrug, obwohl er nichts schrieb«. Man kann sich den Münsteraner Vielschreiber und Allesnotierer beim Beantworten dieser beiden Fragen ganz gut verschmitzt lächelnd an seinem Schreibtisch in Altenberge vorstellen.
Rüdiger Zill. »Umweg zu sich. Hans Blumenbergs Spiegel-Bild.« Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VII/1, Frühjahr 2013, pp. 81-90, hier p. 88.
Jahrestag der Jahrestage
In der F.A.S. stoße ich auf ein literarisches Jubiläum bloomsdayesker Couleur: Der Romanbeginn von Uwe Johnsons zwischen 1970 – bereits im Juli erwähnte Siegfried Unseld das »Echo«, das den ersten Band zu einem Publikumserfolg machen würde – und 1983 erschienenen, fast 2000 Seiten umfassenden Jahrestagen jährt sich am heutigen Montag zum fünfzigsten Male. »Das Buch«, so die F.A.S.,
hat 366 Tageseinträge – 1968 war ein Schaltjahr – und kann ein Jahr lang zum täglichen Lesebegleiter werden. Im Jubiläumsjahr würde diese Lektüreweise sogar mit einer besonderen Kongruenz belohnt werden. Denn auch der 21. August 2017 ist ein Montag.
Ich nehme diesen Hinweis sowie die damit verbundene Tageskongruenz als auch das 50. Jubiläum des Johnsonschen Jahrestage-Beginns zum Anlaß, mich endlich an dieses Mammutwerk heranzuwagen, und zwar Tag für Tag für Tag für Tag für…: »Aufklarendes Wetter in Nord-Viet Nam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi.«
Siegfried Unseld. Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Herausgegeben von Ulrike Anders, Raimund Fellinger, Katharina Karduck, Claus Kröger, Henning Marmulla und Wolfgang Schopf, Suhrkamp, 2010, p. 248. Siegfried Unseld Chronik, herausgegeben von Raimund Fellinger, Bd. 1.
Andreas Bernard. »Zurück zum Riverside Drive.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Aug. 2017, p. 41.
Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, p. 10.
Urknistern
Hört man sich das dröhnende, tinnitushafte Pochen des Urknalls auf der Homepage des Physikers John G. Cramer an, gewinnt man den Eindruck, es handelte sich dabei um Auszüge aus Pink Floyds Zabriskie Point Sessions. Jedenfalls ist der eigentliche Knall, der sich vor etwa 13,8 Milliarden Jahren ereignet haben soll, nicht zu hören, und selbst das Echo dieser Initialzündung mußte Cramer extrem verstärken, damit das menschliche Ohr die kosmische Frequenz wahrzunehmen vermag. Zudem ist der Begriff ›Urknall‹ strenggenommen irreführend, allerdings ist die Metapher immer schon ein wirksames Instrument gewesen, das Unbegreifliche begreifbar zu machen, zumal dieser Mechanismus häufig geradezu poetische Blüten trägt, wie man aktuell im Feuilleton der NZZ nachprüfen kann: »Was soll man von einer Schöpfung halten«, so heißt es dort,
die mit einem Knall beginnt? Ein Knistern hätte es doch auch getan, ein Rascheln vielleicht. Oder ein zartes Knarren. Es ginge anders zu in der Welt, wenn man von einem Urknistern sprechen könnte. Es wäre leiser in ihr. Schon aus Respekt davor, woher das alles kommt.
Natürlich hätte die Wissenschaft niemals ein Knistern, Rascheln oder Knarren akzeptiert; der klar definierte Knall ist weitaus weniger unheimlich und ungleich effektiver bei der Entzauberung des Universums.
John G. Cramer. »The Sound of the Big Bang.« University of Washington, 2003 & 2013, faculty.washington.edu/jcramer/B…
Paul Jandl. »Ruhe, bitte!« Neue Zürcher Zeitung. Auswahl für Deutschland, 12. Aug. 2017, p. 10.
Mammographien
Gleich am Anfang der neuen Volltext-Ausgabe springt mir ein Satz ins Auge, der typographisch hervorgehoben ist:
Niemand weiß, ob Adorno auf den Hohn der drei jungen Frauen mit Tränen reagierte.
In diesem Satz steckt zweierlei: Zunächst das schlichte, historische Ereignis, das am 22. April 1969 in Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität stattgefunden hat, und das Peter Sloterdijk im Vorwort seiner Kritik der zynischen Vernunft mit den Worten zusammenfaßt:
Eben war der Philosoph
[Adorno]
im Begriff, seine Vorlesung zu beginnen, als eine Gruppe von Demonstranten ihn am Betreten des Podiums hinderte. Dergleichen war im Jahr 1969 nichts Ungewöhnliches. An diesem Fall zwang etwas zu genauerem Hinsehen. Unter den Störern machten sich Studentinnen bemerkbar, die vor dem Denker im Protest ihre Brüste entblößten. Hier stand das nackte Fleisch, das ›Kritik‹ übte – dort der bitter enttäuschte Mann, ohne den kaum einer der Anwesenden erfahren hätte, was Kritik bedeutet – Zynismus in Aktion. Nicht nackte Gewalt war es, was den Philosophen stumm machte, sondern die Gewalt des Nackten.
Daneben eröffnet besagter Satz einen Möglichkeitsraum, er lädt zu einer Überlegung ein, einer Fiktion, einer Vorstellung, die das sogenannte ›Busenattentat‹ transzendiert und Adorno nach seiner Flucht vor Brüsten, Blumen und Bussis als gedemütigten, gebrochenen, weinenden Philosophen imaginiert.
Ich mußte bei diesem Szenario unweigerlich an den Kulturkritiker David Kepesh aus Philip Roths Roman Das sterbende Tier denken. Kepesh, 62 und Vertreter der ›männlichen Emanzipation‹, ist regelrecht besessen von seiner 24jährigen Studentin Consuela Castillo, genauer: ihre Brüste sind seine Obsession. »Und sie ist eine Frau«, so Kepesh, »mit einem großen Busen. Die oberen beiden Knöpfe der Seidenbluse sind geöffnet, so daß man sehen kann, daß sie ausladende, wunderschöne Brüste hat.« Anders als Adornos ›Busenattentäterinnen‹ wisse Consuela noch nicht genau, »wie sie sie [die Macht]
einsetzen soll, was sie damit anfangen soll und ob sie diese Macht überhaupt haben will.« Und anders als Adorno selbst flieht Kepesh nicht vor der Macht, will sagen: den ›Waffen einer Frau‹ – ganz im Gegenteil! Er erliegt dem »Chaos des Eros«, er erliegt den
herrlichsten Brüste
[n]
, die ich je gesehen habe, und ich bin, wie Sie wissen, 1930 geboren und habe eine Menge Brüste gesehen. Diese waren rund, voll, perfekt. Die Art von Brüsten, bei denen die Warzen wie Untertassen sind, nicht wie Zitzen. Große, blasse, rosigbraune Brustwarzen, so unerhört erregend.
Nun, vermutlich war auch der 65jährige Adorno erregt, jedoch auf gänzlich andere Weise. Wo sich allerdings der fiktive New Yorker Kulturkritiker und der imaginierte Frankfurter Philosoph treffen, ist das Weinen. In der Silvesternacht 1999/2000 erfährt Kepesh von Consuelas Brustkrebserkrankung: »Als ich das hörte, begann ich zu weinen, und wir umarmten uns noch einmal […]
.« Die Tränen, die aufgrund eines Verlustes vergossen werden – sei es der Verlust des Respekts, sei es der Verlust einer Brust oder gar des Lebens –, sind Zeichen der Enttäuschung und des Schmerzes, der Liebe und des Menschlichen, der Schwäche und der Stärke. Im 122. Abschnitt seiner Minima Moralia schreibt Adorno:
Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.
Die Mammographien der beiden Intellektuellen sind im doppelten Sinne attraktiv.
Gisela Trams. »Mit Helmut Kohl an Rilkes Grab.« Rezension zu Das blindgeweinte Jahrhundert, von Marcel Beyer. Volltext, Nr. 2/2017, pp. 4-6, hier p. 6.
Peter Sloterdijk. Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1, Suhrkamp, 1983, p. 27.
Philip Roth. Das sterbende Tier. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Hanser, 2003, pp. 11-2; 28; 36; 136.
Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, 2001, p. 365.
Gefühlskompostierung
Aus einer Besprechung anläßlich des 50. Jahrestages der Erstveröffentlichung von W. S. Merwins »possibly most iconic collection of poetry« The Lice erfahre ich, daß Merwin ihm zugesandte Manuskripte anderer Dichter – nachdem er diese gelesen und sich Notizen gemacht habe – zu einem Komposthaufen auf seinem hawaiianischen Grundstück getragen habe.
Michael Wiegers, Chefredakteur von Copper Canyon Press, wo The Lice nun neu erschienen ist, der dieses merkwürdige Ritual beobachtet hatte, erkannte, daß Merwin den Dichtern durch sein religiös-ökologisches Tun die letzte Ehre erwies: »These poets have contributed back to the soil, the land, the trees, making this home where he’s [Merwin]
written some of his most beautiful poems«, so Wiegers. –
Kreislauf des Lebens, Kreislauf des Papiers, Kreislauf der Gefühle und Ideen, aus denen neue Gedichte komponiert und wieder kompostiert werden.
Adrienne Raphel. »Reading a Dysfunctional World. Why Merwin’s The Lice is needed now more than ever.« Poetry Foundation, Jul. 24, 2017, https://www.poetryfoundation.org/articles/143711/reading-a-dysfunctional-world.