Ein Vehikel zum Filmen
Nach Kirby Dicks und Amy Ziering Kofmans faszinierendem Portrait Derrida (2002) scheint der 1958 in Ägypten geborenen und in Theaterwissenschaft promovierten Safaa Fathy mit Derrida, anderswo (eine Dokumentation, die schon 1999 gedreht wurde, doch erst im März 2012 auf DVD erschienen ist) eine neue Meditationsreise in das Leben und Denken des französischen Philosophen gelungen zu sein. Cord Riechelmann erwähnt in seiner Filmkritik den »äußerst sparsame[n]
Einsatz von Musik«, was eher auf eine traditionelle Dokumentation schließen läßt. Jedenfalls wurde Ryūichi Sakamotos Kunst diesmal nicht benötigt.
Cord Riechelmann. »Die Gewalt der Geduld.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Nov. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/auf-dvd-derrida-anderswo-die-gewalt-der-geduld-11941008.html.
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Physiognomien
John Jeremiah Sullivan, der gerade im Kulturzeit-Studio auf 3sat von Tina Mendelsohn interviewt wird, hat einen auffallend kleinen Mund, so wie Nietzsche und Glenn Gould auffallend kleine Ohren hatten. (Für einen Amerikaner ist er jedenfalls sehr schmallippig… und leise, um mal ein paar Stereotype zu gebrauchen.)
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Single Fantasy oder: Der Rest ist Anekdote. Gedanken zu The John Lennon Letters
Ich glaube, in einer Star Trek-Episode (und zwar in einer der Next Generation) habe ich mal gehört, daß man den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft, also deren Zivilisiertheit, daran ablesen könne, wie diese Gesellschaft mit ihren Toten umgehe. Vielleicht ist dies eine allgemeine soziologische Phrase, vielleicht geht sie auf Dostojewski oder Max Weber zurück, vielleicht ist auch Captain Picard mit seiner staatsmännischen Universalsicht ihr Urheber – ich weiß es nicht. Jedenfalls reicht eine solch aphoristische Definition kaum aus, wenn man sich die hypertrophen Totenkulte vor Augen führt, die in nahezu jeder Kultur beobachtet werden können: Sind Anhänger von Religionen mit an Wahnsinn grenzenden Heiligenverehrungen und obskuren Reliquien ›zivilisierter‹ als arme Atheisten, die ihre nächsten Verwandten nicht bestatten können, wollen oder gar dürfen?
Prominente sind die Heiligen der profanen Gesellschaft. Gerade verstorbene Musiker, aber auch vorzeitig und auf unnatürliche Weise ums Leben gekommene Filmstars sind vielfach auch Jahre nach ihrem Tod lebendiger, präsenter und vor allem lukrativer denn je. Die Vermarktung verstorbener Berühmtheiten ist in den letzten Jahrzehnten zu einem perversen Kult metastasiert. Jedes noch so kleine, gewöhnliche und unbedeutende Objekt aus dem mittelbaren Dunstkreis des Stars erzielt bei Auktionen Millionenbeträge. »Wow, gebrauchte Unterhosen, die Elvis 1977 bei einer Show getragen hat?! Da biete ich mit!« Fansein bedeutet zu einem gewissen Grad, gläubig zu sein, was wiederum bedeutet, vernünftige Entscheidungen auszublenden und vollständig im Begehren auf- und oftmals auch unterzugehen. Vor diesem Hintergrund würde ich mich als einen ›agnostischen Fan‹ bezeichnen, dem die Kunst, die Musik, das geschriebene Wort wichtiger ist, als die Instrumente des Künstlers – oder deren Unterhosen (was nicht heißt, daß ich es nicht auch übertreiben könnte; ein Blick ins Bücherregal bestätigt diese Leidenschaft nur zu gut).
An John Lennons 72. Geburtstag sendete das Fernsehmagazin Kulturzeit auf 3sat einen Bericht zu den John Lennon Letters, einem Briefkonvolut, das Hunter Davies, der 1968 die erste (und bisher einzige!) autorisierte Beatles-Biographie geschrieben hatte, zusammengestellt hat. Das Buch, dessen deutsche Übersetzung ebenfalls am 9. Oktober in die Läden kam und mit fast atlasähnlichen Maßen aufwartet, faszinierte mich auf Anhieb. Vielleicht lag es an dem bunten, geheimnisseaufdeckenden Kulturzeit-Beitrag oder schlichtweg an der Tatsache, daß mir Davies’ Beatles-Biographie Mitte der 1990er Jahre einen sehr plastischen Einstieg in die Droge der Sixties und das Leben der größten Band aller Zeiten verschafft hatte – kurzum: Ich wollte dieses Buch rezensieren!
Die Enttäuschung darüber, daß die Letters schon an einen anderen Rezensenten vergeben waren, hielt nur kurz. Ich bestellte gleich am nächsten Morgen die englische Originalausgabe (die im Gegensatz zur deutschen um fast die Hälfte günstiger ist!), die mir ein wenig kleiner und vom Cover her minimalistischer vorkam. Zudem besitzt das bei Weidenfeld & Nicolson in London erschienene Original keinen Untertitel; wer sich den bei Piper ausgedacht hat und ob Erinnerungen in Briefen vielleicht verkaufsfördernd ist, kann ich nicht beurteilen. Ein solches Vor- oder Vergehen kennt man ja von Filmen en masse! Warum etwa aus Eternal Sunshine of the Spotless Mind, einem Vers aus Alexander Popes »Eloisa to Abelard«, im Deutschen ein plattes Vergiss mein nicht! wird, kann mir keiner schlüssig erklären.
Bevor ich mich den Letters widme, möchte ich ein paar Anmerkungen über das Buch im allgemeinen machen, und damit meine ich das gedruckte. Denn nur ein gedrucktes, gebundenes Buch kann man haptisch und olfaktorisch wahrnehmen. The John Lennon Letters weisen unter ihrem schlichten weißen Schutzumschlag eine beige Leinenstruktur auf, ein Parkett-Relief, über das man minutenlang mit der Hand fahren kann wie über die Holzmaserung alter Tische. Wenn man das Buch aufschlägt und hineinschnuppert, überkommt es einen madeleinengleich; man sieht andere Bücher vor sich, die ähnlich rochen, man hört die dicken Seiten, die ein dumpfes Geräusch beim Umblättern erzeugen. (Ich wollte mich mal bei Wetten, dass…? bewerben und Verlage allein anhand ihres Geruchs identifizieren. Nach mehreren mißglückten Versuchen, nahm ich von diesem Vorhaben Abstand.) Ein Buch kommuniziert mit seinem Leser auf verschiedenen Ebenen und der Leser liest es nicht allein mit seinen Augen. Nein, das E-Book mag seine Vorteile haben, aber es hat keine auratischen Dimensionen. (Und erst das Wiedererinnern! Haben Sie schon einmal versucht, ohne die Hilfe der Suchfunktion in einem digitalen, sterilen Text eine Stelle wiederzufinden? Passagen, die uns beim Lesen eines gedruckten Buches besonders im Gedächtnis bleiben, kann man zumeist lokalisieren: »Das war so im unteren Drittel auf einer linken Seite.« Das klassische Buch gibt Orientierung. Der Hypertext wirft seine Leser unvorbereitet in ein Text-Labyrinth.)
Doch nun zu den Letters! Das Inhaltsverzeichnis mutet merkwürdig an: Hunter Davies sortiert die Lennon Letters in 23 thematische Teile (die mit ein paar Ausnahmen zugleich auch chronologisch aufgeführt sind) von den »Early Years, 1951-58« bis hin zu »Double Fantasy«, Lennons 1980 produziertes letztes Album, das nach einer Freesien-Art benannt ist, die dem Musiker in den »Bermuda Botanical Gardens« aufgefallenen war. Nach dem kurzen Vorwort Yoko Onos, das die haikuhafte Kürze und Qualität der oftmals nur mit einem Wort und einer lustigen Zeichnung versehenen Autographen Lennons hervorhebt, folgt eine Einführung Hunter Davies’. Hier erfährt der Leser gleich Essentielles: »So I [H. Davies]
had to track down as many letters, postcards, notes and lists and scraps as I could find. And yes, I have rather expanded the definition of the word ›letter‹.« Daß der Titel somit ein wenig irreführend ist, sieht man schon nach den ersten Seiten; vielleicht könnte man »Letters« etwas holprig mit »adressierte Schriftstücke« übersetzen – was Piper vermieden hat.
Davies, der gut zwei Jahre an diesem Projekt gearbeitet hat, geht dann kurz auf einige Schicksale der hier veröffentlichten Schriftstücke ein, eigentlich auf die Schicksale ihrer Besitzer – oder besser: ihrer ehemaligen Besitzer. Es kam, so liest man, nicht selten vor, daß gerade gewöhnliche Fans, die eine kurze Nachricht oder eine Zeichnung mit Autogramm erhalten hatten, diese aufgrund akuten Geldmangels Jahrzehnte später veräußern mußten, häufig unter Wert. Daß Lennon gerade zu Beatles-Zeiten zig tausende Briefe wöchentlich bekam, von denen nur die wenigsten geöffnet geschweige denn auch gelesen und beantwortet wurden oder besser gesagt: werden konnten, macht solche Schriftstücke umso wertvoller, unabhängig von ihrer jeweiligen künstlerischen, literarischen oder inhaltlichen Qualität. Auf dem Markt der Hardcore-Fans und Sammler wird alles zur Reliquie.
Ich erinnere mich noch an meinen Erdkunde-Unterricht, es muß kurz vor der Oberstufe gewesen sein. Im Themengebiet »Tropen und Subtropen« lernten wir den Begriff shifting cultivation kennen. Jeder, der diesen einfach mit »Wanderfeldbau« oder »Brandrodungsfeldbau« übersetzte, wurde vom Lehrer getadelt: »Nein! Nein! BRANDRODUNGSWANDERFELDBAU!« Man sieht: es ist bis heute hängen geblieben. Eigenartigerweise mußte ich an shifting cultivation denken, als ich die Letters las. Die Beatles saßen – wie Lennon es selbst einmal treffend formuliert hatte – im Auge des Hurrikans und tosten über Länder hinweg. Einige Musiker haben sich noch Jahrzehnte später beschwert, daß die Beatles nichts mehr für andere übriggelassen hätten; alles hätten sie vorweggenommen, alles hätten sie (neu-)erfunden, alles hätten sie abgegrast, gerodet, verschlungen. Diese Ansicht ist natürlich übertrieben, doch der Brandrodungswanderfeldbau Liverpoolscher Provenienz hat die Welt verändert und aus seiner fruchtbaren Asche entsteht nicht nur immer wieder neue Musik; auch Spurenelemente des Originals tauchen als kleine Zeitkapseln auf, sei es in Form von Bootlegs (die dann auch, wie im Fall von Let It Be…Naked oder der vier CDs umfassenden Lennon Anthology, zu offiziellen Veröffentlichungen werden können), sei es in Form von Lebensbeschreibungen (Philip Normans Lennon-Biographie sorgte vor einigen Jahren für Aufsehen), sei es in Form von Ringo Starrs Postcards from the Boys oder eben den Letters, wie sie Hunter Davies nun vorlegt.
Davies, 1936 im schottischen Johnstone, Renfrewshire, geboren, veröffentlicht insgesamt 285 ›Reliquien‹ als Zeugen der shifting cultivation, 285 jeweils kurz kommentierte, transkribierte Sammlerstücke. Wie groß dabei die Masse der Autographen ist, die Davies nicht publiziert hat, bleibt ungewiß. Es muß jedenfalls eine ungeheure Menge sein, denn Lennon, so Davies, »always saw a blank piece of paper, however small, as a challenge.« Herausgefordert ist auch der Leser. Manchmal kann selbst Davies Lennons Handschrift nicht entziffern; er fügt dann ein »[?]
« ein. Bei einer Notiz, Letter 115, erscheint dies merkwürdig, steht auf ihr doch in Großbuchstaben »PRIMAL SCREAM«. Die drei darunter geschriebenen Worte kann Davies nur mit einem Fragezeichen wiedergeben, wo ich deutlich zwei von ihnen entziffern kann: »ARTHUR JANOV RU[?]
«, eben der Arthur Janov, bei dem sich Lennon und seine Frau Yoko Ono 1970 in Urschrei-Therapie begaben. Davies hat nach seiner kurzen einleitenden Lennon-Biographie, die in Hamburg 1961 endet und die sich wie das Script von Nowhere Boy liest, eine editorische Vorbemerkung eingefügt. Sie schließt mit den Worten: »If you have any corrections, or can add any further information about any of the letters or recipients, or, more importantly, if you have a Lennon letter or copy which is not in the book, please email me at Johnlennonletters@hotmail.co.uk[.]
Many thanks.« Dieses Angebot werde ich nutzen, obgleich ich weiß, daß Mr Davies sicherlich von aller Welt mit E-Mails überschüttet wird und ich darüber hinaus bestimmt nicht der erste oder einzige sein werde, der ein paar der Lennonschen Glyphen identifiziert zu haben glaubt. Doch der Gedanke, mit jemandem kommunizieren zu können, der in direktem Kontakt zu den Beatles und ihrem Umfeld stand, ist ein durchaus verlockender. Wäre ich kein ›agnostischer Fan‹, ich würde ihn um ein Statement samt Autogramm bitten! (Mit einer Antwort rechne ich nicht.)
Nun, die Handschrift – eine absolute Katastrophe, ähnlich Lennons häufig mit »excuse typing« versehenen Schreibmaschinenversuchen! Es gibt Schriftstücke, auf denen das Gekritzel durchaus lesbar ist. Doch der Großteil wirkt, als wolle der Verfasser seine Nachrichten mit einem Geheimcode verschlüsseln, was für die Jahre 1972-76 gar nicht so dumm gewesen wäre, wurde Lennon doch nach seiner Übersiedlung nach New York City tagtäglich vom FBI überwacht und abgehört! Für Nixon war der Ex-Beatle eine persona non grata, jemand, der mit revolutionären, linken Gedanken das Volk vergiftet. Einen erschreckenden Einblick in dieses paranoide Verhalten gibt Jon Wieners 1999 erschienene Pionierstudie Gimme Some Truth. The John Lennon FBI Files. Weiterführende Informationen bietet die Seite The John Lennon FBI files an. – Ist eigentlich schon jemand auf die Idee gekommen, daraus ein Theaterstück oder ein Musical zu machen? Es müßte als eine Mischung aus Kafka, Beckett und natürlich Lennon konzipiert werden, ein puristisches Stück mit, sagen wir mal, drei oder vier Personen und einem Papagei (denn dessen Äußerungen hat das FBI nachweislich auch protokolliert!).
Das Absurde liegt auch den Lennon Letters zugrunde, obschon sie ab 1968 ausführlicher und in gewisser Weise gehaltvoller, ab 1971 dann ernsthafter und politischer wurden. Die meisten von ihnen, gerade diejenigen an den ehemaligen Pressesprecher der Beatles, Derek Taylor, denen Hunter Davies ein eigenes Kapitel gewidmet hat, lesen sich allerdings, wie aus Finnegans Wake herausgerissen. Selbst mich stellten die Wortspiele und Wortverstümmelungen auf eine harte Geduldsprobe. Hier hätten ein paar Beispiele gereicht (zumal man solche kreativen Albereien ja bestens in Lennons Buchveröffentlichungen In His Own Write und A Spaniard in the Works nachlesen und genießen kann), was ebenso für die meines Erachtens völlig unwichtigen Notizen an Lennons Angestellte im Dakota Building gilt, die sich über gut zwanzig Seiten erstrecken: »[…]
SESAME OIL / TOMATOES / BERRIES / YOGHURT […]
« (Letter 255). Das mag für Anthropologen oder Kulturwissenschaftler, die das Eßverhalten prominenter Musiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchen, sicherlich interessant sein; ich hätte diese instructions gekürzt. Und hier sind wir wieder voll drin in der Heiligenverehrung und der Zivilisiertheit: Unsere Gesellschaft versteigert und veröffentlicht Einkaufslisten ihrer Toten!
In der Dokumentation Derrida, die Kirby Dick und Amy Ziering Kofman 2002 mit viel Feingefühl und Verständnis gedreht und mit einem kongenialen Soundtrack Ryūichi Sakamotos hypnotisch konturiert haben, gibt es eine Szene, in der der Weißkopfseeadler Derrida – ich glaube, während einer Konferenz an der New York University zum Thema »Biographie« – folgendes äußert: »As you know the traditional philosophy excludes biography, considers biography as something external to philosophy. You remember Heidegger’s statement about Aristotle—Heidegger once was asked I think ›What was the life of Aristotle?‹ What could we answer to the question ›what was Aristotle’s life?‹ Well the answer is very simple, ›Aristotle was a philosopher‹, and the answer holds in one sentence: ›He was born, he thought, and he died.‹ And all the rest is pure anecdote.« Kannte Lennon Heideggers Bonmot? Letter 105 zeigt einen am 21. Mai 1969 ausgefüllten Fragebogen des International Who’s Who. Im Feld »Short Biographical Note« steht: »BORN 1940 / LIVED / MET YOKO ONO AND MARRIED.« Ob nun der Rest Schweigen oder Anekdote ist – die Leerstellen sind es, die ein Leben interessant und einzigartig machen.
Wer nun, so wie ich, denkt, John Lennons Leerstellen durch diese Briefsammlung zu erleben, Lennon selbst zu sehen, wie er wirklich war, was er dachte und fühlte, wer also vielleicht auch nach Skandalen lechzt, nach Offenbarungen, Geheimnissen, die gelüftet werden (etwa ob es vielleicht doch eine intime Beziehung zu Brian Epstein gegeben hat), und wer sich nach den unzähligen biographischen Sekundärquellen endlich einen unverstellten Blick auf die Person hinter der Brille verspricht, wird in weiten Teilen dieses Brief- und Notizkonvoluts enttäuscht sein. Lennon zelebriert auch hier größtenteils sein Image, er versteckt sich hinter Wortspielen, platten Witzen und oft auch für den britisch-englischen Muttersprachler kaum zu dechiffrierenden Anspielungen (wie Hunter Davies an einigen Stellen etwas resigniert zugibt).
Doch es gibt Ausnahmen: Die beiden Briefe an Linda und Paul McCartney aus dem Jahr 1971 gehören dazu, die mit ihrer brutalen Ehrlichkeit unmittelbar nach der Trennung der Beatles noch heute berühren, oder – und diese seien allen Lesern wärmstens empfohlen – Lennons Briefe an die Familie, seine Verwandten, seine Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Hier zeigt sich ein unverstellter John, kein Star, kein Beatle, keine Marke; hier schreibt jemand überraschend normale Texte, erkundigt sich nach überraschend normalen Angelegenheiten, entpuppt sich als normaler Mensch mit Heimweh nach England und Schottland (»daydream about ›home‹«, Letter 192). Das mag sicherlich für den einen oder anderen Hardcore-Fan weltbildzerstörend sein – ja, auch ein John Lennon atmete, aß und ging aufs Klo! – doch fernab allen mythendestruierenden Verlangens betonen gerade diese klaren Texte eine andere Komponente seiner Persönlichkeit – seine eigentliche: »I’m just about the same as whenever we last saw each other…only older!« (Letter 195)
Lesen Sie also die Briefe an die Familie! Hunter Davies hat sie nicht ohne Grund in einem eigenen Kapitel versammelt: »Part seventeen: Family Matters, 1975«. Ich hätte mir wahrlich mehr solche Briefe gewünscht. Doch vor allem – und dies empfinde ich als größtes Manko dieser Zusammenstellung – wäre es wünschenswert gewesen, auch die Briefe der jeweiligen Adressaten abzudrucken. Audiatur et altera pars, heißt es im römischen Recht. Die puren Lennon Letters bleiben so bei aller Witzigkeit, Aggressivität, Verletzlichkeit und, ja, auch bei aller Banalität letztendlich merkwürdig steril und eindimensional. Ein Blick hinter den Vorhang kann so nur bedingt stattfinden; wirklich Neues erfährt man hier trotz aller Anekdoten leider nicht.
The John Lennon Letters. Edited and with an Introduction by Hunter Davies. London: Weidenfeld & Nicolson, 2012. 392 Seiten. ISBN 978 0 297 86634 3.
(Die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel: The John Lennon Letters. Erinnerungen in Briefen. Hrsg. Hunter Davies. Übers. Werner Roller und Helmut Dierlamm. München: Piper, 2012. 416 Seiten. ISBN 978 3 492 05523 9.)
Verdimmt noch mal!
Nachdem wir nun vollends in der Post-Glühbirnen-Ära leben (müssen!), in der vor gar nicht langer Zeit auch die einst so gepriesene Energiesparlampe durch Quecksilberbelastung untragbar geworden ist (vielleicht reagiert die frischgebackene Friedensnobelpreisträgerin EU ja darauf), habe ich meine Hoffnungen in die LED-Leuchtmittel gesteckt. Die Technik scheint hierbei besser zu funktionieren als die Orthographie, mit der sie großspurig beworben wird. Vielleicht sollten mehr Germanisten eingestellt werden.
90 % Lektoratsersparnis
Das Foto entstand in einem handelsüblichen Supermarkt Ihres Vertrauens.
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Büren
Sonntäglicher Ausflug zum Mauritius-Gymnasium Büren, das Anfang des 18. Jahrhunderts als Jesuitenkolleg von Gottfried Laurenz Pictorius (der unter anderem für das Wasserschloß Nordkirchen verantwortlich zeichnet) und unter Beteiligung von Johann Conrad Schlaun (der eben jenes Wasserschloß vollendete) im Barock-Stil (unverwechselbare Nischen und Blenden) erbaut wurde.
Moritz
Mauritius-Gymnasium
[Ursprünglich (und mit 25 Photos) gepostet auf _Google+_]
Hamburg Days
Jürgen Vollmers zweisprachige Erinnerungen an die Hamburger Anfangszeit der Beatles sind mit hervorragenden Photos aus dem »Top Ten Club« ornamentiert. Daß das schmale Bändchen, das ich für einen Spottpreis antiquarisch bestellt hatte, gestern, am 50. Jahrestag der ersten Beatles-Singleveröffentlichung, eintrudelte, ist ein passender Zufall.
(Was ich bisher nicht wußte: Das Buch-Cover, das John Lennon 1975 als Cover seines Albums Rock’n’Roll benutzte, zeigt nicht etwa – wie ich dachte – verschwommene Hamburger Passanten, sondern seine Bandkollegen. Wer genau die drei Schemen sind – die Beatles waren damals ja noch zu fünft –, bleibt allerdings unklar. Es könnten Paul, George und Pete sein; Stuart war bestimmt bei Astrid…)
[Es handelt sich, laut Jürgen Vollmer, um Paul, George und Stuart, in »verhältnismäßig lange[r] Belichtungszeit von einer Sekunde« (18).]
The Beatles in Hamburg
Jürgen Vollmer. The Beatles in Hamburg. München: Schirmer/Mosel, 2004.
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
»To-day«
Obwohl einige Gedanken ›radikal‹ und ›erzkonservativ‹ anmuten, gehe ich doch im Kern mit Roland Reuß’ Sicht auf eine zunehmend digitalisierte Welt konform, in der Menschen zu Produkten, Bücher zu Medien und Bibliotheken zu Serviceunternehmen werden.
»›Online‹-Sein«, so Reuß, »bedeutet perforierte Aufmerksamkeit.« Hans Blumenberg schreibt in einer Vignette über das Zugrundegehen:
Es ist ein bescheidener Anspruch, einer Sache auf den Grund gehen zu wollen; es bedeutet nur, man könne sich mit ihrer Oberfläche nicht begnügen.
Vielleicht ist es in einer schnellebigen, oberflächlichen, stets mit Ablenkungen aufwartenden (virtuellen) Welt unmöglich geworden, in ein Thema, ein Konzept, ein Buch einzutauchen, sich dort aufzuhalten, es zu durchmessen und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Jedenfalls scheint es heute schwieriger denn je zu sein.
Ende der Hypnose
(Nebeneffekt der Lektüre: Man bekommt den Wunsch, Dantes Göttliche Komödie sowie alles von John Ruskin zu lesen!)
Roland Reuß. Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch. Frankfurt a. M. und Basel: Stroemfeld, 2012.
Hans Blumenberg. »Grund und Boden: Zugrundegehen, auf den Grund gehen, auf dem Boden stehen.« Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, pp. 97-100.
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Herbert Lom
Man konnte Mitleid mit ihm haben: Jacques Clouseau trieb seinen Vorgesetzten Charles Dreyfus in den Pink Panther-Filmen mehr und mehr in den Wahnsinn. An seinem zuckenden Auge, dem »Clouseau-Detektor«, konnte man den Grad der Verrücktheit ablesen, bis es schließlich mit ihm und einem ganzen Schloß im Nichts verpuffte. Gestern ist Herbert Lom im Alter von 95 Jahren gestorben. Seinen Filmpartner Peter Sellers hat er um 32 Jahre überlebt.
Andreas Kilb. »Clouseaus Lieblingsfeind. Zum Tod von Herbert Lom.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Sep. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/zum-tod-von-herbert-lom-clouseaus-lieblingsfeind-11907346.html.
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
4514
Man kann dem US-Photographen Noah Kalina eine gewisse narzißtische Selbstdisziplin nicht absprechen. In seinem schon 2006 veröffentlichten Video Everyday zeigt er das eigene Altern in Zeitraffer. Nun hat er sein Projekt aktualisiert: Vom 11. Januar 2000 (Kalina war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt) bis zum 30. Juni 2012 (kurz vor seinem 32. Geburtstag) porträtierte sich der Photograph jeden Tag selbst und fügte diese 4514 Einzelaufnahmen zu einem gut achtminütigen Video zusammen. Ist hier alles eitel?
Noah takes a photo of himself every day for 12.5 years 12,5 Jahre in 4514 Bildern
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Ursula
Thomas Kapielski hätte sich den gesamten ersten Absatz seiner Rezension sparen können, hätte er die »datierten Notizen« Peter Sloterdijks gründlicher gelesen:
Am 19. Mai 2008, also ein Jahr vor diesem »ominösen« Ursula-Eintrag aus New York, steht dort auf Seite 27, notiert in Coventry:
Rufe Ursula noch vom Hotel aus an, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, was sicherlich gut aufgenommen wurde. Für diesmal war die berechtigte Furcht, einen vergeßlichen Bruder zu haben, wenn nicht widerlegt, so doch gemildert.
Sloterdijk wird zu dieser Rezension sicherlich etwas Pointiertes in sein Notizheft geschrieben haben.
Thomas Kapielski. »Kann man sich Hegel beim Fernsehen vorstellen?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Aug. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/sloterdijks-notizbuecher-kann-man-sich-hegel-beim-fernsehen-vorstellen-11853492.html
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Der Name der Rose
Ein paar weihrauchgeschwängerte Eindrücke von den Kreuzgangspielen im mittelfränkischen Feuchtwangen. Am gestrigen Abend wurde Umberto Ecos Der Name der Rose aufgeführt. (Leider war das Photographieren und Filmen während der Aufführung untersagt.) Eine spannende Geschichte mit überzeugenden Schauspielern in romanischer (Original-)Kulisse eines ehemaligen Benediktinerklosters. Über 500 Zuschauer waren begeistert – auch Kristy Husz.
Das Plakat
Die Kulisse
Der Mönch
[Ursprünglich (und mit 17 Photos) gepostet auf _Google+_]
»Bitte keine Besuche« oder: »Folge nicht mir, folge dir!« Hermann Hesse zum 50. Todestag
Wenn man in dieser Woche an einem Zeitschriftenregal vorbeischlendert, so wird man eines Mannes mit Strohhut gewahr, der dem Vorbeischlendernden vom Titelblatt des Spiegel aus direkt in die Augen schaut. Es ist eine merkwürdig kolorierte Version einer Fotografie, die das Hamburger Nachrichtenmagazin bereits im Jahre 1958 zierte. Doch nicht allein die Farbe macht den Unterschied: Das aktuelle Titelblatt zeigt den Schriftsteller Hermann Hesse – denn um eben jenen »Störenfried«, so der Schriftzug, handelt es sich dabei – mit erhobenem Mittelfinger. Darunter die Appositionen (in Großbuchstaben!): »SINNSUCHER, DICHTER, ANARCHIST«. Ein verstörendes, wenn nicht gar provozierendes Bild.
Doch so sehr die Differenz von friedlicher Mimik und aggressiver Gestik auch irritieren mag: Sie trifft den Menschen Hesse, der sich nicht festlegen läßt, der von den einen vergöttert, von den anderen verachtet wird. Hermann Hesse bezieht Stellung – und bezieht sie zugleich nicht. Er heiratet dreimal – und bleibt doch ein ewiger Alleingänger. Er feiert das Leben – und denkt doch stets an Suizid. Er verteufelt den Pietismus – und kommt doch nie vom Glauben los. Er ist ein Seher, der zeit seines Lebens unter Augen- und Kopfschmerzen leidet – wie auch Friedrich Nietzsche. (Seine dritte Ehefrau Ninon liest ihm ab 1929 fast 1.500 Bücher vor!)
Mit dem von ihm bewunderten Philosophen aus Röcken teilt Hesse auch das Asketische, Einsame, Einzelgängerische, das ebenso wie das Doppelgängermotiv sein Leben und Schreiben charakterisiert. Die Doppelstruktur von Gut und Böse, Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich – sprich: diese Doppelhelix als evolutionär-genetischer Impetus durchzieht das Werk des bis heute polarisierenden Schriftstellers von der ersten bis zur letzten Seite.
Eng mit diesem gnostischen Denken verbunden ist Hesses radikales Distanzschaffen, worin er Hans Blumenberg oder – ganz extrem – Thomas Pynchon gleicht. Schon früh fühlt er sich als Fremdkörper in seiner Familie, als ein Anderer und Außenseiter, der als Brandstifter und potentieller Amokläufer gar in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird. Sein Biograph Gunnar Decker bezeichnet ihn gleich an drei Stellen seiner in diesem Jahr bei Hanser erschienenen, sehr lesenswerten Biographie als »Berührungsneurotiker«, der sein Leben strikt nach seinem eigenen Rhythmus ausrichtet und »Unberührbarkeitsrituale« pflegt. Diese Abwehrmechanismen gehen so weit, daß Hesse selbst seine eigene Familie und seine Kinder nicht erträgt. Der Wein und das Alleinsein bleiben wichtiger als menschliche Beziehungen.
Hier zeigt sich in extremo seine Aversion gegen jegliche Form von Vereinen, Bünden, Gruppen oder Mitgliedschaften, was ihm oft Anfeindungen und – gerade während des Ersten Weltkrieges und in den Jahren nach 1933 – den Ruf eines Nestbeschmutzers bis hin zum Vaterlandshasser einbringt. So verwundert es nicht, daß Hesse auch Preisen und Ehrungen ablehnend gegenübersteht. Als ihm nach bemerkenswertem Einsatz Thomas Manns in Stockholm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen wird, nimmt er diesen nicht persönlich in Empfang.
Stockholm – Hesse verachtet die Metropolen! Als einsamer Steppenwolf liebt er das Ländliche, das seiner Imagination Raum gibt. Ohnehin reist der einst begeisterte und leidenschaftliche Wanderer (auch hierin ähnelt er etwa Nietzsche oder Thomas Bernhard) mit zunehmendem Alter immer weniger, vertieft sich immer mehr ins innere Erkunden, das er mit dem weniger wichtigen Äußeren kontrastiert. (Zuletzt besucht der Schweizer Hesse seine Heimat Deutschland im Jahre 1936.)
Viele Photos und vereinzelte Filmaufnahmen zeigen Hesse als stoischen Asketen bei der Gartenarbeit. Er schneidet Rosen oder sitzt einfach am Feuer, zündelt, verbrennt Reisig und starrt gebannt in die Flammen. Das Feuer ist für ihn Symbol des Lebens, Wasser ist stets Medium des Todes. Im Garten findet Hesse, der Mitentdecker Kafkas, die Ruhe zur Meditation. Gunnar Decker schreibt:
So ist der Garten nicht nur ein Sinnbild des menschlichen Lebens, für Hesse wird er das Modell seiner Arbeit als Autor, eine Schule des Sehens und des Säens, des glücklichen Gleichgewichts von vita activa und vita contemplativa.
Aus diesem Gleichgewicht heraus entsteht mit großem Fleiß und strenger Disziplin ein Werk, das 20 Bände umfaßt, dazu kommen noch ein Dutzend Briefbände, Hunderte Zeichnungen und Aquarelle. Als Hermann Hesse, dem seine Leukämie-Diagnose nicht mitgeteilt wird – mit Goethe teilt der Hypochonder »die Abwehr gegen Krankheit und Tod« (Decker) –, am 9. August 1962 morgens zwischen 7 und 9 Uhr in Montagnola an einem Hirnschlag stirbt, hinterläßt er der Welt obendrein ein Nachlaß-Konvolut von 44.000 Briefen.
Wir werden auch 50 Jahre nach seinem Tod noch viel von und über Hermann Hesse erfahren, nicht zuletzt dank eines von ihm verschnürten, ominösen Päckchens, das sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, und das nicht vor dem Jahre 2017 geöffnet werden darf – Hesses Art der Flaschenpost in und für die Zukunft!
Übersetzung
»Damn it – don’t translate what I wrote, translate what I meant to write.« Ein lesenswertes Interview mit der Übersetzerin Eva Hesse über Sprache, Begegnungen mit Ezra Pound und Katzen als Lehrer:
Schließlich gab es auch noch meinen Kater Pussy, der ist auf vielen berühmten Leuten gesessen. Er hat sich breitgemacht wie ein Fladen, von ihm habe ich gelernt, was ›besitzergreifend‹ heißt.
»Warum kommen Sie nicht von Pound los? Im Gespräch mit Eva Hesse.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Aug. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/im-gespraech-mit-eva-hesse-warum-kommen-sie-nicht-von-pound-los-11842691.html
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Per pedes
Ein Sonntagsausflug mit Kristy Husz zum Schloß Nordkirchen, dem »Westfälischen Versailles«. Einziger Wermutstropfen: Vom Bahnhof Capelle fährt sonntags kein Bus. So mußten wir die gut sechs Kilometer zum Schloß per pedes und in sengender Hitze bewältigen – hin und zurück!
Das Ziel
Der Weg
Das Schloß
[Ursprünglich (und mit 39 Photos) gepostet auf _Google+_]
Später Erfolg
76 Jahre nachdem der New Yorker F. Scott Fitzgeralds Erzählung »Thank You For The Light« abgelehnt hatte, haben die Enkel des Schriftstellers den bislang unveröffentlichten Text wiedergefunden und erneut beim New Yorker eingereicht – diesmal mit Erfolg!
F. Scott Fitzgerald. »Thank You For The Light.« The New Yorker, Aug. 6, 2012, https://www.newyorker.com/magazine/2012/08/06/thank-you-for-the-light
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Außenseiter
Seit einigen Wochen schon lese ich mit großem Gewinn in Hans Mayers zuerst 1975 erschienenem und 2007 aus Anlaß Mayers 100. Geburtstag wiederaufgelegtem opus magnum Außenseiter. Ich habe das Buch im April zufällig (!) bei Zweitausendeins in Münster entdeckt – von € 15 auf € 7,95 heruntergesetzt. Da mich die Figur des Fremden, des Anderen, des Außenseiters schon immer fasziniert hat, habe ich es ohne groß zu überlegen einfach mitgenommen. Ich hatte vorher noch nie von Hans Mayer (1907-2001) gehört. Er war Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Hannover und Tübingen.
Schon nach den ersten Seiten wurde mir klar, daß hier ein breitgebildeter, großer Stilist am Werk ist, den ich mit Hans Blumenberg vergleichen möchte. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« Bäng! Das sitzt! Seine These verifiziert Mayer auf den kommenden 464 Seiten (mit Anhang und Personenregister sind es 508) anhand von existentiellen Außenseiterfiguren, von starken Frauen, Homosexuellen und Juden aus der Literaturgeschichte. Man könnte sagen, daß Mayer hier einen großen Überblick über abendländische Hauptwerke der Literatur schlägt, und wie er dies macht, ist keine Sekunde lang ermüdend!
Er behandelt Jeanne d’Arc bei Schiller, Brecht, Shaw und Wischnewski, George Eliot und George Sand, Dürrenmatt und Pinter, Marlowe, Shakespeare, Winckelmann, Heine, Platen, Andersen, Verlaine, Rimbaud, Ludwig von Bayern, Tschaikowski, Wilde, Gide, Klaus Mann, Sarte und Genet, Shylock, Heine, Dickens, Proust, Joyce… Beim Tippen fällt mir erst so richtig auf, was alles in diesem unscheinbaren Buch steckt! Eine wahre Fundgrube des Wissens!
Auch wenn ich momentan erst auf Seite 247 bin – ich könnte keine bessere Empfehlung aussprechen! (Ist es ein Zufall (!), daß es sich wieder um ein Suhrkamp-Buch – noch dazu um ein gebundenes – handelt?) Der Außenseiter dient Mayer dazu, breitgefächert Anekdoten zu erzählen, essayhaft ein Kompendium der Literaturgeschichte zu schreiben, das eigentlich auf jede Literaturliste für Geisteswissenschaftler gehört.
Hans Mayers Außenseiter zum 100. Geburtstag des Autors
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Schlendern
Bei gefühlten 35° C auf der Gasselstiege in Münster.
Die Gasselstiege in Münster (2012)
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
Instrumental at its best!
Ich habe Tony R. Clef schon vor einigen Jahren auf YouTube entdeckt und war auf Anhieb von seinen Arrangements begeistert. Trotz einer weltweiten Fan-Gemeinde ereilte den heute 53jährigen die Krönung wohl im letzten Jahr, als er den von Paul McCartney ausgerufenen Cover-Wettbewerb des Songs »Maybe I’m Amazed« gewann. Es lohnt sich sehr, sich durch Clefs Videos zu klicken. Als ein Beispiel seines Könnens folgend seine Version von David Bowies »Life on Mars?« aus dem Jahre 2007:
Life on Mars? by Tony R. Clef (2007)
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]
»Ich habe diesen Mann geliebt«. Das längste Drama Thomas Bernhards
Am Abend des 18. Juli 2012 lasen in der »Akademie Franz Hitze Haus« in Münster die Freiburger Theaterurgesteine Gerd Heinz und Helmut Grieser aus dem 2009 erschienenen Briefwechsel zwischen Thomas Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld.
Akademie Franz Hitze Haus in Münster
Mit verteilten Rollen (Grieser als Bernhard, Heinz als Unseld) konnten sie das Publikum auf Anhieb fesseln und es einerseits von Bernhards teils unverschämten Forderungen, andererseits von Unselds schier unmenschlicher Geduld überzeugen. Gerd Heinz schilderte die Zusammenkünfte von Autor und Verleger in den fast drei Jahrzehnten ihrer Zusammenarbeit als ein sich wiederholendes dreiaktiges Stück: 1. Akt: Verlegerbeschimpfung, 2. Akt: Klärung des Finanziellen (Ratifizierung von Verträgen , Umgang mit Darlehen, Gewährung von Vorschüssen), 3. Akt: Gemeinsames Essen und Trinken.
Helmut Grieser
Seit Februar 2011, dem 80. Geburtstag Thomas Bernhards, sind Heinz und Grieser mit ihrer szenischen Lesung auf Tour. Trotz des riesigen Konvoluts von mehr als 500 Briefen, die zwischen dem Autor und seinem Verleger in den Jahren 1961 bis 1988 kursierten, überzeugte die Auswahl der vorgelesenen Briefe und ließ – gerade auch durch kommentierende Einschübe der Vortragenden – einen roten Pfaden auch für den mit Thomas Bernhard nicht vertrauten Hörer erkennen.
Die Veranstaltung neigte sich nach über anderthalb Stunden ihrem Ende entgegen, als Gerd Heinz vom sogenannten »Heldenplatz«-Skandal berichtete, bei dem er 1988 in Wien live vor Ort war (und sogar die Parallelinszenierung leitete): Am Abend der Uraufführung stand ein großes Polizeiaufgebot zwischen Burgtheater, Theaterbesuchern und Demonstranten, die riesige Misthaufen angekarrt hatten, zwischen denen das Premierenpublikum in feinster Abendgarderobe herumhüpfen mußte. Das Publikum im Münsteraner Franz Hitze Haus reagierte einmal mehr mit herzhaftem Lachen.
Gerd Heinz
»Selbst das Genie wird noch einmal größenwahnsinnig, wenn es ums Geld geht.« So heißt es in Thomas Bernhards »Die Macht der Gewohnheit«. Dieser Größenwahnsinn wurde in all seinen Facetten an diesem Abend greifbar.
Der Proto-Beatle
Am Dienstagnachmittag schlenderte ich mit Kristy Husz am »Antiquariat Michael Solder« – bekannt durch die Fernsehserie Wilsberg – vorbei, als mir im Schaufenster eine bronzene Dante-Büste auffiel. Ein ebenfalls am Schaufenster stehender Herr entgegnete auf meine Vermutung, daß es sich bei der Büste um den italienischen Dichter handelte: »Das ist doch Paul McCartney!« Als ich ihn darauf hinwies, daß McCartneys Nase viel kleiner sei, und daß es sich schon eher um John Lennon handeln könnte, wiederholte er: »Nein, das ist Paul McCartney!« Ich kam ihm insofern entgegen, als daß ich Dantes Stirntuch mit einem Hippie-Accessoire assoziierte, das – wenn die Büste bunt bemalt wäre – sicherlich den Union Jack zeigen würde. Außerdem zog ich eine Sgt.-Pepper-Uniform in Erwägung, die man ebenso sicherlich sehen könnte, wenn die Büste einen Körper hätte. Der Herr lächelte und schlich ohne ein Wort von dannen.
Dante, der Proto-Beatle
[Ursprünglich gepostet auf _Google+_]