Das Lächerliche und das Erhabene
Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard, 1968)
Der Tod ist das Erhabene par excellence; vor ihm wirkt alles lächerlich, irrelevant und klein. Im VI. Programm seiner Vorschule der Ästhetik stellt Jean Paul das Lächerliche als den »Erbfeind des Erhabenen« dar. Im Gegensatz zu Kant und dessen Differenzierung mathematisch/dynamisch versteht Jean Paul das Erhabene als etwas sinnlich Faßbares und definiert es als das »angewandte Unendliche«. Diesem »unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.« Als etwas unendlich Kleines, als eine Mischung aus Sinnlichem und Geistigem ist das Lächerliche die »ideale Kleinheit«, die Thomas Bernhard für sein Anschreiben gegen den Tod nutzt, sie in seinen ›Denkkerker‹ hineinzieht, um sie zu sezieren und sichtbar zu machen. Diese Visualisierung geschieht durch eine Sprache, die ohne Zweifel ›erhaben‹ genannt werden kann.
»Wiener Rede zur Überreichung des österreichischen Staatspreises an Thomas Bernhard.« Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Suhrkamp, 2011, pp. 69-70, hier p. 70.
Jean Paul. »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit.« Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Herausgegeben von Norbert Miller. Hanser, 1963. Lizenzausgabe. 6., korrigierte Aufl., WBG, 1995, pp. 7-514, hier pp. 105-6; 109. Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band.
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»Everyone’s got to be somewhere« – George Harrison zum 10. Todestag
An diesem 29. November jährt sich der Todestag George Harrisons zum zehnten Mal. Was kann – in Anbetracht der schier endlosen Fülle an Literatur, an Musik, an Filmen und Dokumentationen, die über ihn, sein Werk und Leben und letztlich auch über die Beatles als Ganzes, als Phänomen veröffentlicht wurde (und noch immer wird) – noch gesagt werden?
Zweifelsohne war George Harrison ein bedeutender Musiker, ein Gitarrist, der – einmal vom übermächtigen Songwriter-Duo Lennon/McCartney emanzipiert – seinen unverwechselbaren, mit indischen Klängen ornamentierten Stil prägen und seiner eigenen religiös-humanistischen Botschaft ungeachtet aller Moden und Meinungen treu bleiben konnte. Doch er war weit mehr als das: er war ein Wohltäter, ein Motorsportnarr, ein Philosoph mit intelligentem Witz, er war Ehemann, Vater und Freund unzähliger Menschen. Viele, die ihn gut und lange kannten, aber auch solche, die ihm nur kurz begegnet waren, sprechen von ihm wie von einem Heiligen, einem Weisen, der jedoch alles andere als distanziert oder gar abgehoben und verrückt war. Er war ein Mann des Volkes, ohne Berührungsängste oder Star-Allüren, er versammelte gerne Freunde um sich und begrub sie nahezu unter einer gigantischen Schicht aus Großzügigkeit und Liebe. Innerlich ist er sein Leben lang der einfache Junge aus Liverpool geblieben, der in rasender Geschwindigkeit »to the toppermost of the poppermost« emporgestiegen war, und der in gut zehn Jahren – man muß sich vergegenwärtigen, daß Harrison bei der offiziellen Auflösung der Beatles am 10. April 1970 gerade einmal 27 Jahre alt war! – Erfahrungen und Erlebnisse mehrerer Leben gemacht hatte.
George Harrison war jedoch eines auch: ein ewiger Gärtner – und zwar im umfassenden, auch im metaphorischen Sinne. So ist es kein Wunder, daß er seine zuerst 1980 erschienene, als Dialog mit Derek Taylor konzipierte Autobiographie I Me Mine »to gardeners everywhere« gewidmet hat. In den riesigen Parkanlagen seines Domizils »Friar Park« in Henley-on-Thames fand er Ruhe, Erdung und Inspiration. Hier war er der Mensch George, nicht der Ex-Beatle, nicht der Promi. In I Me Mine sagt er:
I’m really quite simple. I don’t want to be in the business full-time, because I’m a gardener. I plant flowers and watch them grow. I don’t go out to clubs and partying. I stay at home and watch the river flow.
Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, schrieb Elton John einen Song namens »Empty Garden (Hey Hey Johnny)«. Der Garten steht hier zwar für den New Yorker »Madison Square Garden«, in welchem Lennon 1974 ein Versprechen eingelöst hatte und bei einem Elton-John-Konzert aufgetreten war, doch können die Verse dieses Songs ebensogut auf George Harrison gemünzt sein: »He must have been a gardener that cared a lot / Who weeded out the tears and grew a good crop«. Lennons Tod traf auch Harrison schwer. In »All Those Years Ago«, seinem mit Paul McCartney, Ringo Starr und George Martin eingespielten Tribute-Song an den Freund, singt er: »Living with good and bad / I always look up to you / Now we’re left cold and sad / By someone the devil’s best friend / Someone who offended all«.
Man ist versucht, diese Worte an Lennon auch auf Harrison anzuwenden: Selbst nach zehn Jahren sind Familie, Freunde und Fans auf der ganzen Welt immer noch »left cold and sad«, doch ist diese Traurigkeit mit Blick auf Harrisons Lebensphilosophie, auf seine religiösen und spirituellen Überzeugungen vollkommen unbegründet. Man muß sich selbst diese schon stoische Einstellung zum Tod – der niemals das Ende ist, auch wenn »all things must pass« – in den dunklen Stunden vor Augen führen, man muß sich George Harrison als einen zufriedenen Menschen vorstellen, der – wo immer er auch sein mag (irgendwo muß er ja sein, oder mit den Worten John Lennons: »Wherever you are / You are here«) – weiterexistiert. In seiner Rede anläßlich der Aufnahme Harrisons in die »Hollywood Bowl Hall of Fame« gab Eric Idle folgende Anekdote zum Besten:
I was on an island somewhere when a man came up to him and said: ›George Harrison, oh my God, what are you doing here?‹ – and he said: ›Well, everyone’s got to be somewhere.‹
(Wer sich ein Bild von George Harrisons Humor machen möchte, dem seien Klaus Voormanns Memoiren »Warum spielst du Imagine nicht auf dem weißen Klavier, John«. Erinnerungen an die Beatles und viele andere Freunde wärmstens empfohlen.)
Am ersten Todestag Harrisons kamen unter der Leitung Eric Claptons seine engsten Musikerfreunde in der Londoner »Royal Albert Hall« zusammen, um beim Concert For George – eine Anspielung und Reverenz auf Harrisons 1971 initiiertes Benefizkonzert Concert For Bangladesh – ihres Freundes zu gedenken. Obgleich der gesamte Abend, nicht zuletzt auch durch die hervorragende Doppel-DVD, ein unvergeßlicher war, sei an dieser Stelle auf das sehr bewegende Finale hingewiesen: Joe Browns Version des Isham-Jones-und-Gus-Kahn-Klassikers »I’ll See You In My Dreams« aus dem Jahre 1924.
Wenige Monate später, im März 2003, veröffentlichte Ringo Starr auf seinem zwölften Studio-Album Ringo Rama seinen Song für Harrison »Never Without You« (bei dem Eric Clapton die Gitarren-Soli übernahm) und stellte sich damit in eine Reihe mit seinen Beatles-Kollegen George und Paul, die in den Jahren 1981 und 1982 jeweils Tribute-Songs für John Lennon verfaßten: das bereits genannte »All Those Years Ago« und »Here Today«.
Zum 10. Todestag George Harrisons erscheinen das dreieinhalbstündige Biopic (das, etwas unglücklich gewählt, denselben Titel trägt wie ein Harrison-Album aus dem Jahre 1973) George Harrison: Living In The Material World von Martin Scorsese sowie ein gleichnamiges, 400 Seiten starkes Buch voller privater Fotos und persönlicher Erinnerungen von Weggefährten. George Harrison ist immer noch in aller Munde – und auf den Titelseiten der Zeitungen und Musik-Magazine. In I Me Mine beschreibt er diese Prominenz mit gemischten Gefühlen: »There was more good than evil in being a Beatle but it was awful being on the front page of everyone’s life, every day. What an intrusion into our lives.«
So gärtnert George Harrison wahrscheinlich noch ewig weiter: »A gardener like that one, no one can replace«. Er, der als ›stiller Beatle‹ in die Geschichte einging, verließ sie als ruhiger Philosoph und ist immer noch präsent: »And your song will play on without you / And this world won’t forget about you…«
Erfolgszahlen
Sibylle Lewitscharoff macht (Hans) Blumenberg populär. Wie hätte Hans Blumenberg reagiert? In »Mihi ipsi scripsi« schreibt er:
Sind 50 Leser eine ›kleine Gemeinde‹ des Autors? Sind 500 Käufer eine ›bemerkenswerte Klientel‹, die auch fürs Künftige hoffen läßt? Sind 5000 abgesetzte Exemplare genug, um von einem ›schönen Erfolg‹ zu sprechen? Oder sind erst 50 000 der Einstieg in ein ›Publikum‹, das sogar dem Verleger mehr als gleichgültig zu werden beginnt? 500 000 in 25 Sprachen wären zweifelsfrei ein ›Welterfolg‹? Ich lasse dahingestellt, wo präziser die Schwellenwerte liegen mögen – irgendwo liegen sie.
Blumenberg sah sich – wie Nietzsche, von dem sein Text handelt – mit eher mäßigen Verkaufszahlen konfrontiert, die allenfalls einen ›schönen Erfolg‹ erkennen ließen; Lewitscharoff dürfte sich hingegen über das wachsende ›Publikum‹ freuen.
Hans Blumenberg. »Mihi ipsi scripsi.« Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Reclam, 1998, pp. 67-79, hier p. 67-8.
PaschenLiteratur. »Sibylle Lewitscharoff liest aus ›Blumenberg‹.« YouTube, 11. Nov. 2011, https://www.youtube.com/watch?v=H3RH8nxlLJk
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I Me Mine
I’m currently reading the so-called ›autobiography‹ I Me Mine by George Harrison (originally published in 1980) as I came across the following ›anthropological phenomenology‹:
I met Kissinger and Ford. Ford was very friendly. Kissinger looked like an Arab, talked like a German and was tanned all over, like Clark Gable. He was a bit like Charlie Chaplin, like a Rutle. He fitted into that silly cartoon world we live in as do Edward Heath and Harold Wilson and the Duke of Edinburgh, whom I also met. Anyway, this is disgressing.
George Harrison. I Me Mine. Chronicle Books, 2007, p. 67.
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Umbrella Man
Heute vor 48 Jahren wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Es war ein sonniger Tag. Dennoch steht – deutlich erkennbar – ein Mann mit geöffnetem Regenschirm direkt an der Stelle, wo den Präsidenten die tödlichen Schüsse ereilen. Ist dieser mysteriöse »Umbrella Man« vielleicht der Attentäter? Steht er mit den Attentätern in Verbindung? Ist er ein Beobachter aus der Zukunft? Oder will er sich nur vor der Sonne schützen? Derartige Fragen beflügeln Verschwörungstheorien aller Couleur. Doch letztlich sollte man sich auf »Ockhams Rasiermesser« besinnen…
Errol Morris. »The Umbrella Man.« The New York Times, Nov. 22, 2011, https://www.nytimes.com/video/opinion/100000001183275/the-umbrella-man.html
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Rock in Polen
Andrzej Stasiuk ließ sich für die Rockmusik einsperren. Er gewährt einen interessanten Blick hinter den Eisernen Vorhang und legt zugleich einen autobiographisch-nostalgischen Bericht über die Kraft der Musik als Alternativwelt, als Illusion und Privatreligion im kommunistischen Polen der 1970er- und 1980er-Jahre vor.
Andrzej Stasiuk. »Die flimmernde Materie der Welt.« Neue Zürcher Zeitung, 19. Nov. 2011, https://www.nzz.ch/die_flimmernde_materie_der_welt-1.13356445
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Mit Liszt und Tücke
Welche Liszt-Biographie malt das bunteste und authentischste Bild des Virtuosen? Für alle Unentschlossenen, die im Jubiläumsjahr in all den Neuerscheinungen den Überblick verloren haben, stellt Michael Stallknecht die wichtigsten vor – und hält sich mit Kritik nicht zurück. Die Liszt-Biographie des Glenn-Gould-Experten Michael Stegemann hebt Stallknecht als gelungen heraus und nennt sie »[d]ie Standardbiographie der kommenden Jahre [...]
, weil [sie]
bei aller Nähe die Fakten klar ordnet und durchdenkt.« Doch versäumt es Stallknecht keinesfalls die brillante, schon vor zwei Jahren erschienene, fast 1000 Seiten starke Liszt-Biographie des französischen Musikwissenschaftlers Serge Gut zu unterschlagen. Für jeden Geschmack (und jeden Anspruch!) dürfte der Liszt-Büchermarkt in diesem Herbst gewappnet sein.
Michael Stallknecht. »Zwischen Trinker und Genie.« Süddeutsche Zeitung, 14. Nov. 2011, https://www.sueddeutsche.de/kultur/liszt-biographien-zum-zwischen-trinker-und-genie-1.1188246
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Free Will
Is free will a matter of definition? Is it an illusion, a fiction? How would ›the death of free will‹ change our world, our moral and legal concepts? How can inductive – or deductive, or perhaps even ›abductive‹ – inferring explain the way free will is working? Saying free will is an illusion is »like inferring from discoveries in organic chemistry that life is an illusion just because living organisms are made up of non-living stuff«, Eddy Nahmias writes in his discussion of that ›big issue‹. He argues that »neuroscience does not kill free will«, perhaps because it’s not (yet) able to do so: Against the background of Charles Sanders Peirce’s ›Theory of Cognition‹ and its so called »Four Incapacities Claimed for Man«, human beings have »no conception of the absolutely incognizable«, and I think free will is such an incognizable entity. Would the death of free will be the death of God?
Eddy Nahmias. »Is Neuroscience the Death of Free Will?« The New York Times, Nov. 13, 2011, https://opinionator.blogs.nytimes.com/2011/11/13/is-neuroscience-the-death-of-free-will/
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Into the Abyss
Werner Herzog’s documentary film Into the Abyss (in selected cities in the U.S. from this day, in Europe on March 23, 2012) shows human beings as monsters and monsters as human beings. It deals with God (we all know the subtext: »Thou shalt not kill«), with the manifold aspects of violence, and with death penalty or the question of »live and let die«. It’s possible Herzog had Nietzsche’s aphorism 146 from Jenseits von Gut und Böse in his mind before or while filming in Texas: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« That is: »He who fights with monsters should be careful lest he thereby become a monster. And if thou gaze long into an abyss, the abyss will also gaze into thee.«
Lorrie Moore. »Werner Herzog on Death Row.« The New York Review of Books, Nov. 10, 2011, https://www.nybooks.com/daily/2011/11/10/werner-herzog-death-row/
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American Idol
Nietzsche war nie in Amerika, doch Amerika war bei Nietzsche: Er ›vergötterte‹ Emerson, den er seit 1862 in Übersetzung las. Diese Vereinigung, »one of the most significant acts of transatlantic cross-fertilization in Western intellectual history«, ließ Emersons Warnung konkret werden: »Beware when the great God lets loose a thinker on this planet.« Dieser Denker sollte Nietzsche sein, wie Nietzsche selbst mit diesem Denker Schopenhauer identifiziert hatte. Das Buch American Nietzsche: A History of an Icon and His Ideas von Jennifer Ratner-Rosenhagen, das am 6. Dezember erscheinen soll, verspricht, eine interessante Darstellung der Rezeption Nietzsches in den Vereinigten Staaten zu sein.
Ross Posnock. »American Idol: On Nietzsche in America.« The Nation, Nov. 1, 2011, https://www.thenation.com/article/american-idol-nietzsche-america/
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Nachdenklichkeit
There is a memorial tablet at Hans Blumenberg’s birth place (Hüxstraße 17 in Lübeck) with the following words written on it: »Geburtshaus von Hans Blumenberg, Philosoph und Schriftsteller, *3. Juli 1920 – † 28. März 1996. Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.« That is: »Thoughtfulness means: it is not as obvious as it was before.«
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Zettelkasten
Als ich eben das Nachwort zu Hans Blumenbergs Quellen (Hg. Ulrich v. Bülow u. Dorit Krusche. DLA Marbach, 2009) las, mußte ich über folgende Randbemerkung schmunzeln:
Seinen ersten Zettelkasten legte Blumenberg vermutlich bereits Anfang der vierziger Jahre an, in einer Zeit, in der er wegen seiner jüdischen Herkunft Verfolgungen und Benachteiligungen ausgesetzt war. Für diese Datierung spricht nicht nur der Zustand der frühen Karteikarten, sondern auch eine seiner Randbemerkungen in Niklas Luhmanns Erfahrungsbericht ›Kommunikation mit Zettelkästen‹ (in: N. L., ›Universität als Milieu‹, Bielefeld, 1992). Gegen dessen Erklärung, er arbeite seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Zettelkasten, setzt Blumenberg 1981 handschriftlich die Zahl ›40!‹. (91)
In den insgesamt 55 Jahren bis zu seinem Tode schuf Blumenberg ein Archiv aus 30.000 Karten! Blumenberg – nein! die Herausgeber seiner Nachlaß-Fragmente sind es, die mehr und mehr zum modernen Quintus Fixlein avancieren, indem sie sein Leben (und Denken!) aus Zettelkästen, aus Schubern und Mappen ziehen. Es bleibt zu hoffen, daß sie im Sinne des so peniblen Philosophen mit Feingefühl, Kommentaren und in historisch-kritischer Manier diese Mammutaufgabe bewältigen.
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Fragte er, dachte ich: Über die Schwierigkeiten, Spuren der Wahrheit zu lesen
Interviews mit Thomas Bernhard sind für Leser und – denkt man etwa an die von Krista Fleischmann gefilmten Gespräche Monologe auf Mallorca oder Die Ursache bin ich selbst – für Zuschauer besonders amüsant und sorgen für Kurzweil, setzt sich doch in ihnen und durch sie einer der sprachmächtigsten und bedeutendsten Autoren deutscher Sprache so gekonnt, verschmitzt und sympathisch in Szene, als würden wir ihn schon immer zu unseren besten Freunden, wenigstens aber zu unseren vertrauten Bekannten rechnen. Er ist der »Übertreibungskünstler«, der ohne mit der Wimper zu zucken über Gott und die Welt grantelt und schimpft, gleichzeitig mit Anekdoten und Gedankenspielen sein lustiges Potential zur Schau stellt.
Doch wer waren die Menschen, die dem zurückgezogen lebenden Dichter so nah kamen, denen er sich so offen präsentierte? Nun, viele waren es nicht. Es gab nur eine Handvoll Auserkorener, die sich mit Bernhard entweder in privater Atmosphäre auf seinem Ohlsdorfer Hof trafen oder ihn eher öffentlich im Wiener Café Bräunerhof befragten. Viele dieser Interviews sind zu Beginn des Jahres – teilweise erstmals, teilweise als Wiederabdruck – zusammen mit Reden, Leserbriefen und Feuilletons in Der Wahrheit auf der Spur im Suhrkamp-Verlag erschienen.
Diese Wahrheit, der der Leser auf der Spur ist, verstreut sich allerdings hin und wieder wie in den indirekten, zitathaften Berichten Bernhardscher Erzähler. Es gibt Wiederholungen, Variationen, Modulationen. Hat man schon Mühe, die feinen Nuancen zwischen Ironie und Ernst in den Äußerungen des österreichischen Schriftstellers herauszuhören, so stellen sich die Interviewer oder die diese Interviews Herausgebenden in beste Bernhard-Tradition und verwischen die Spuren zur Wahrheit.
In Der Wahrheit auf der Spur stößt man auf den Seiten 244 bis 264 auf ein Interview, das Bernhard am 15. Juli 1986 mit Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof in Wien geführt hat (so im Anhang nachzulesen auf Seite 339). Nun kommen dem im Bernhard-Kosmos Bewanderten Passagen daraus merkwürdig bekannt vor. In Kurt Hofmanns Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard (dtv, 4. Aufl. 2004) äußert sich der Schriftsteller auf den Seiten 70-71 wie folgt: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und jeder Weg ist richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt fünf Milliarden Menschen und fünf Milliarden richtige Wege.« In Der Wahrheit auf der Spur sagt Bernhard: »Jeder Mensch hat seinen Weg, und für denjenigen ist jeder Weg richtig. Und es gibt, glaube ich, jetzt viereinhalb Milliarden Menschen und viereinhalb Milliarden richtige Wege.« (Seite 257) Im Anhang von Der Wahrheit auf der Spur erfährt man über die Publikationsgeschichte dieses Interviews, daß es zunächst 1987 in französischer Übersetzung erschienen ist, der deutsche Erstdruck erst im Herbst 2006 erfolgte (Seite 339).
Wie kann es sein, so könnte man als wahrheitssuchender Spurenleser fragen, daß sich die Zahl der Menschen und damit auch der richtigen Wege um eine halbe Milliarde vergrößert hat? Ist etwa das Bevölkerungswachstum stillschweigend in das Interview eingebaut worden? Der Hinweis auf das französische »Original« ist hierbei wenig hilfreich: »cinq milliards« versus »quatre et demi milliards« sind klar unterscheidbare Ausdrücke und sollten dem Übersetzer wenig Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus gibt es eine weitere Stolperfalle auf der Spur zur Wahrheit: Ist dieses Interview nun von Werner Wögerbauer im Café Bräunerhof oder aber von Kurt Hofmann »in Ohlsdorf und Ottnang« (so steht es in der Vorbemerkung seines Buches auf Seite 7) geführt worden?
Die Antwort ist eine eher profane, auch wenn der Weg zur selbigen große Mühe bereitet hat, denn das dem Wahrheitssucher entgegenschlagende Schweigen diverser Personen und Institutionen ist das größte. Dennoch konnte es zu einem mehr oder minder angenehmen »Rauschen der Sprache« durchbrochen werden. Werner Wögerbauer, derzeit Professor für deutsche Literatur in Nantes, brachte Ordnung in das Stimmengewirr: Die deutsche Erstveröffentlichung dieses seines (!) Interviews erschien im Herbst 2006 in der Zeitschrift Kultur & Gespenster. Darin ist eine Nachbemerkung Wögerbauers zu finden, die zuerst 2002 im französischen Neuabdruck des Interviews publiziert worden ist. Wögerbauer schreibt dort auf S. 189: »Ich erinnere mich noch gut der plötzlichen Aufmerksamkeit eines Richters nebst Gerichtsschreiberin während einer Anhörung im Wiener Handelsgericht, wo ich 1990 einen taktlosen Verleger [des Löcker-Verlages]
wegen Plagiats und anderer Hintergehungen belangte. (Er hatte sich des Interviewtextes – des ›meinigen‹ – bedient, um ein Buch mit zerstückelten Interviews anzureichern, das kurz nach Bernhards Tod veröffentlicht wurde.)«
Wögerbauer meint hier natürlich besagtes Kurt-Hofmann-Buch. Warum nun dtv diese Sammlung vor diesem fragwürdigen Hintergrund immer noch herausgibt – denn nach dem Vergleich durfte der Band zwar vom Löcker-Verlag nicht wieder aufgelegt werden, bereits geschlossene Lizenzverträge waren davon jedoch nicht berührt (wie Wögerbauer per E-Mail mitteilte) –, kann auch Wögerbauer nicht beantworten. So liegt nun also das Plagiat nicht beim Suhrkamp-Verlag und dessen Neuerscheinung Der Wahrheit auf der Spur, sondern vielmehr (vielleicht eher indirekt) bei dtv, der die Rechte vom Löcker-Verlag erworben hatte und noch immer diese höchst fragwürdige Kompilation Gespräche mit Thomas Bernhard herausgibt.
So hat Kurt Hofmann die Weltbevölkerung einfach um eine halbe Milliarde Menschen erhöht, weil sie eben in den Jahren, die seit dem originalen Wögerbauer-Interview vergangen waren, schlicht und einfach um eine halbe Milliarde gewachsen ist! Er hat Bernhard seine zeitlich angepaßten und vermeintlich korrigierten Worte in den Mund gelegt. (Konsequenterweise sollte es dann in der 5. Auflage auch »sieben Milliarden« heißen!) Natürlich sind derartige Abweichungen und Abwandlungen nichts Welterschütterndes; Bernhard selbst hätte sich wohl bestätigt gefühlt mit seinem Bonmot vom »Wahrheitsgehalt der Lüge«, welches in seiner als autobiographisch apostrophierten Schrift Der Keller. Eine Entziehung fällt. Vielleicht zeigen diese Stolpersteine, die verstreut auf den Spuren zur Wahrheit liegen und die einen zum Nach- und Überdenken, zum Gehen in die »entgegengesetzte Richtung« veranlassen, daß selbst die Interviews ihren Beitrag zur Stilisierung Bernhards als auch zur Konstituierung mehrerer Spuren und mehrerer Wahrheiten leisten.
Näher, mein Bob, zu dir
Plötzlich stoppte das Techno-Gedudel: In den späten neunziger Jahren hörten die Schüler Kristy Husz und Nico Schulte-Ebbert einen Bob-Dylan-Song im Radio, der ihr Leben verändern sollte. Zum 70. Geburtstag der Folk-Legende erinnern sich die beiden an ihre ersten Jahre mit »His Bobness« - und ein verwirrendes Konzerterlebnis. Weiterlesen auf SPIEGEL ONLINE.
Der Aufbruch ins Nirgendwo, oder: »Red is the colour that will make me blue«
Eine subjektive Synopsis der Filmbiografie »Nowhere Boy«
Text von Kristy Husz und Nico Schulte-Ebbert
Am Anfang: Ein Akkord. Der junge John (offensichtlich, denn die Ähnlichkeit Aaron Johnsons mit Lennon ist verblüffend) sprintet durch den neoklassizistischen Portikus der Liverpooler St. George’s Hall, Schreie verfolgen ihn (läuft er vor kreischenden, hysterischen Fans fort?), doch niemand ist zu sehen, er ist ganz allein (wo ist er wirklich?), er rennt und lacht und schaut sich um, scheint Spaß zu haben, er verliert das Gleichgewicht, strauchelt, stürzt – und wacht auf. Der Eingangsakkord des Films ist der Eingangsakkord von »A Hard Day’s Night«. In den folgenden 98 Minuten wird man Zeuge schwerer Tage und Nächte, verlustreicher, traumatischer Tage und Nächte, die zu Tagesnächten verschmelzen. »Nowhere Boy« erzählt die Geschichte des heranwachsenden John Lennon und legt den Fokus auf die zweite Hälfte der fünfziger Jahre.
Es der Jahrestag des legendären »rooftop concert«, an dem die Eisenbahn zügig zwischen den Fabrikschloten und grauen Wolkenbergen einer alten Arbeiterstadt hindurchschnurrte, in einem trostlosen Bahnhofsviertel Halt machte und wir der Tristesse des Alltags wie den garstigen Sturmböen in einem kleinen, urigen, samtrot gepolsterten Lichtspielhaus zu entfliehen suchten. Es war die perfekte Kulisse für ein Drama über verdrängte Lebenslügen, spießig anmutende, aber immerhin vor der grimmigen Härte einer typischen »working-class town« beschützende Vorort-Idyllen und leidenschaftliche, rubinrot getönte Rock’n’Roll-Träume. Die Farbe des Rock’n’Roll funkelt uns allerorten entgegen, ergießt sich über Johns Gitarre, ziert Fingernägel, verführerische Kussmünder und kesse Kleider, leuchtet von Barhockern, Plattenspielern und Julia Lennons feurigem Haar, und die Botschaft lautet nicht nur, wie Julia wispert, Sex, sondern vor allem: Ungebundenheit. Eine verheißungsvolle Zukunft. »Why couldn’t God make me Elvis?« – »Because he was saving you for John Lennon.« Doch zurück zu den Anfängen.
Der erste große Verlust, den John hautnah miterlebt, ist der Tod seines Onkels George, einem vāterlichen Freund, der herausfällt aus dem kalten, konservativen Erwachsenenbild. Er schenkt John sein erstes Instrument: Eine Mundharmonika, und hilft ihm dabei, einen Radiolautsprecher in seinem Zimmer zu installieren. Mit ihm kann John lachen, Späße machen und der tristen Welt für kurze Zeit entfliehen. George ist der erfrischende, ungezwungene Widerpart seiner Frau, Johns Tante Mimi, hervorragend verkörpert von Kristin Scott Thomas. Als George plötzlich stirbt, ist es an Mimi, sich allein um den Jugendlichen zu kümmern. Sie muss Stärke beweisen und zeigt sie auch, indem sie ihre Trauer und Tränen unterdrückt. John ist davon schockiert, akzeptiert ihr Verhalten jedoch.
Nach Georges Beerdigung sucht und findet John Kontakt zu seiner Mutter Julia, gespielt von Ann-Marie Duff, die nur einen Fußmarsch entfernt mit ihrer neuen Familie wohnt. Julia ist sofort Feuer und Flamme für ihren »wiedergefunden« Sohn (»You are my dream!«), was auf Gegenseitigkeit beruht. Gemein sam unternehmen sie Ausflüge nach Blackpool, und John kommt mit dem Rock’n’Roll hautnah in Berührung: Julia tanzt und singt mit ihm und bringt ihm das Banjo-Spielen bei. Sein Üben gibt der Film meisterhaft wieder: Während John mal hier, mal dort sitzend sich dem Instrument und den neuen Klängen widmet, in der Musik förmlich aufgeht, verschwinden um ihn herum Zeit und Raum; die äußere Welt läuft in Zeitraffer an ihm vorbei, während John seinen eigenen Rhythmus, seine Bestimmung gefunden hat. Die Ungezwungenheit und Freiheit, die er in Julias Nähe empfindet und ausleben kann, führt dazu, dass er kurzzeitig bei Tante Mimi auszieht, sicherlich auch bedingt durch den Schulverweis, den er zwar postalisch abfangen, an dessen Tatsache er selbst aber nichts ändern kann.
Bei aller Ablehnung, Kälte und Gängelung durch Tante Mimi kauft sie John dennoch seine erste Gitarre, später, zum Gebutstag, schenkt sie ihm eine zweite. Dieser Geburtstag ist der psychologische Höhepunkt des Films. Auf der Party, die in Julias Haus stattfindet, kommt es zur Anklage des Sohnes: »Mother, you left me, but I never left you!«. Nachdem John wütend und angetrunken zurück zu Mimi eilt, kommt es in deren »Mendips« (251 Menlove Avenue) genannten Doppelhaushälfte zur Offenlegung der Geschehnisse. Julia taucht auf und Mimi erzählt John die ganze Geschichte seiner »Adoption«. Es scheint, als würden die stereotypen Rollen der beiden Schwestern vertauscht.
Sicherlich liegt ein zweiter Höhepunkt des Films darin, mitzuerleben, wie John die »Quarrymen« gründet (übrigens auf der Schultoilette) und mit diesen in Woolton einen öffentlichen Auftritt hat. Im Anschluss daran kommt es zur legendären ersten Begegnung mit dem jungen, schmächtigen Paul McCartney (dargestellt von Thomas Brodie Sangster, der für den Film das linkshändige Gitarrenspiel erlernte), der den rauen, zwei Jahre älteren John mit seiner Gitarrentechnik und Textkenntnis beeindruckt. Kurze Zeit später betritt George Harrison die Bühne: Paul stellt ihn John im Bus vor, wo er nach kurzem Vorspielen in die Skiffleband aufgenommen wird.
Gerade als sowohl die so verschieden temperierten Schwestern als auch Mutter und Sohn wieder zueinander gefunden haben, wird Julia am helllichten Tage überfahren und stirbt. Johns »Hello Little Girl«, das er Paul in dessen Haus vorspielt, endet abrupt mit dem Aufprall des Körpers auf die Motorhaube. Die Sonne verschwindet hinter den Häusern. Julias lebloses Gesicht blickt für Sekunden ins Nichts. Dann setzt der Song ein: »So I hope there’ll come a day/When you’ll say/›Mmh, you‹re my little girl’«. Beim Beerdigungskaffee rastet John aus, als Paul leise auf dem Banjo spielt: »What is this – fucking group practise?!« Er streckt seinen Freund Pete Shotton mit einem Kopfstoß nieder und rennt wütend auf die Straße. Dort verpasst er den ihm gefolgten Paul einen kräftigen Schlag ins Gesicht, sodass dieser blutend zu Boden fällt. Was jetzt folgt, könnte als dritter oder symbolischer Höhepunkt bezeichnet werden: John hilft Paul auf und entschuldigt sich mehrmals. Die beiden umarmen sich, halten sich fest: John und Paul vereint die Tatsache, keine Mutter mehr zu haben, nur noch sich selbst und die Musik.
Mit einem kleinen Geldbetrag, den Julia ihrem Sohn hinterlassen hat, mieten die Quarrymen ein Aufnahmestudio und nehmen »In Spite Of All The Danger« auf. John, Paul und George stehen zentral am Mikrofon; die anderen Mitglieder der Band befinden sich außerhalb des »inner circle«, außerhalb des Lichtkegels.
In der nächsten, der abschließenden Szene verabschiedet sich John von Mimi. Er fährt nach Hamburg. Mimi fragt ihn: »And is this with the new group, oh, what are they called again?« John erwidert: »Do you care?« Mimi: »Oh, they all sound the same to me.« Kein einziges Mal soll der Name der Band fallen, mit der John später Geschichte schreiben wird. Aber um sie geht es ohnehin nicht (und wer es als Manko empfindet, dass im ganzen Film keiner ihrer Songs zu hören ist, der hat nicht begriffen, wie anachronistisch dies wäre). Es geht um einen einsamen Jungen und rebellischen Teenager,der mittlerweile zum harten, entschlossenen »angry young man« mit Elvis-Tolle, Buddy-Holy-Brllengestell und Röhrenjeans gereift ist und der gelernt hat, seinen Zorn, seinen weichen, unter all den Kindheitstraumata begrabenen Kern, seine Angst vor dem Verlassenwerden nicht mehr nur in Gedichten und Geschichten, sondern – auf Pauls Zuraten – auch mit Hilfe der Musik zu offenbaren.
Letztlich hat dieser »Nowhere Boy« seinen Freden mit Mimi und der Vergangenheit gemacht, ja, vielleicht auch mit der Zukunft. Als Mimi auf einem Formular unterschreiben soll, das John für seinen Reisepass benötigt, und nicht weiß, ob sie nun zu »parents« oder »guardian« zählt, sagt John: »Both.« Sie umarmen sich erstmals. Nachdem Mimi ihn zum wiederholten Mal daran erinnert, seine Brille aufzusetzen (was schon als Running Gag des Films bezeichnet werden könnte), verspricht ihr John, sie anzurufen, sobald er in Hamburg sei.
Das Drama endet mit Johns Song »Mother« und dem Hinweis: »John called Mimi as soon as he arrived in Hamburg… and every week thereafter for the rest of his life.«
Wer darüber hinaus erfahren möchte, wie John und die anderen über das Sprungbrett Hamburg zum Abenteuer ihres Lebens aufbrechen, der setze seine Reise in die Musikgeschichte nahtlos mit dem kleinen Neunziger-Jahre-Filmjuwel Backbeat fort, so, wie wir es auch getan haben…
Ursprünglich erschienen in: Semesterspiegel. Zeitung der Studierenden in Münster, Nr. 393, April 2011, pp. 32-3.
Fragmentpüffe
Als ich kürzlich in Nietzsches Nachgelassene Fragmente 1882-1884 las, stieß ich auf folgenden Satz:
So ist Verstehen ursprünglich eine Leidempfindung und Anerkennen einer fremden Macht. Schnell, leicht verstehen wird aber sehr rathsam (um möglichst wenig Püffe zu bekommen).
Püffe? Natürlich dachte ich sofort an Knüffe, an kleine Hiebe in die Seite. Aber Püffe? Eine Internet-Recherche konnte glücklicherweise viel Licht ins Dunkel bringen:
Offensichtlich kann zunächst zwischen zwei »Haupt-Püffen« unterschieden werden: dem »Knuff-Puff« (also dem Puff im engeren bzw. im oben schon vermuteten Sinne) und dem »Puff-Puff«, also dem klassischen und in dieser Bedeutung oftmals pejorativ verwendeten »Bordell-Puff«. Beim ersten handelt es sich um einen leichten, harmlosen Schlag; letzterer wird als »Gebäude, in dem (meist) Frauen sexuelle Dienstleistungen anbieten« verstanden. Dabei ist die unterschiedliche Bildung des Plurals zu beachten: der Knuff-Puff wird entweder mit einfacher e-Endung markiert (»Puffe«) oder aber – wie Nietzsche dies tut – per Umlaut gebildet: »Püffe«. Der Bordell-Puff-Plural lautet hingegen »Puffs«. Interessanterweise gehen beide Puffe/Püffe/Puffs auf Onomatopoesie zurück: der Knuff-Puff leitet sich »aus dem Geräusch, welches ein Stoß verursacht« her, der Bordell-Puff »stammt vermutlich vom Geräusch des Würfelfallens.« Würfelfallen? Ja, denn hier tritt ein dritter Puff zutage: »ein Brettspiel, welches heute unter den Namen Tricktrack bekannt ist, aus dem sich Backgammon entwickelte«! (Dieser Puff besitzt übrigens keinen Plural.) Nun zurück zum Bordell-Puff: »Aus Wendungen wie ›mit einer Dame Puff spielen‹ oder ›zum Puff(spiel) gehen‹ entstand im 18. Jahrhundert die Bezeichnung für das Freudenhaus«.
Doch nicht genug der Püffe! Der Begriff fand zudem Einzug in die Biologie, wo er die »Anschwellung eines Abschnittes eines Chromosoms« bezeichnet (und zwar mit s-Plural). »Solche Regionen bezeichnet man als Puff, besonders große Puffs bezeichnet man als Balbiani-Ring, nach ihrem Entdecker Édouard-Gérard Balbiani (1823-1899).« Die wenigsten wissen wahrscheinlich, daß der »Nucleolus […] strukturell einem besonders großen Puff« entspricht, der zugleich auch ein »spezieller Puff« ist. Letztlich findet man in fast jedem Haushalt einen Puff, nämlich einen sog. »Wäschepuff«, was ein »niedriger beinloser Hocker, der verschmutzte Wäsche aufnehmen kann«, ist.
Nietzsches Fragmente erweisen sich so als »Wörterpuffs« der Etymologie, als »Gedankenpüffe« philosophischen Nachdenkens! Und wer weiß welch mannigfaltige Verbalentdeckungen man machen kann, würde man »Puff« auch als Affix in Betracht ziehen, wie es beispielsweise in »Auspuff« realisiert ist.
›E‹piphanien oder: Der große Meaulneskin›e‹
Menschen sind wie Buchstaben: sie erscheinen, nehmen Gestalt an, verkümmern, werden mißachtet und verschwinden schließlich in den Annalen des Kollektivgedächtnisses. Manche sind unaussprechlich; man weiß nicht, wie man ihnen gerecht wird. Sie sind Symbole: sie fallen zusammen, fallen mit anderen, mit ihren Gegenstücken zusammen und trennen sich wieder. Bei manchen ist man sich unsicher, woher sie überhaupt kommen …
Der Begriff ›Moleskin‹ bezeichnet ein robustes Textil, in dem der englische Arbeiter häufig erschien. Vielleicht war auch der Bauernfilzhut, den Augustin Meaulnes bei seiner ersten Erscheinung trug, mit eben jenem magischen Stoffe überzogen. Diese frühe Verbindung, die dem aufmerksamen Denkenden in sein ungetrübtes Auge fällt, ereignet sich am Ausklang des 19. Jahrhunderts: »An einem Novembertag des Jahres 189… kam er zu uns.« (Henri Alain-Fournier, Der große Meaulnes)
Ähnlich der imposanten und mit dem Zauber des Mysteriums umgebenen Gestalt des 17jährigen Schülers erscheint ein Vokal aus den Tiefen der linguistischen Kreativität: ›Moleskine‹, ein Begriff, dessen Herkunft und Aussprache nicht weniger Kopfzerbrechen verursacht als das seltsam-romantische Herumirren des großen ›Fährtensuchers‹.
Ein französischer Buchbinder aus Tours wagt es, in dreister Impertinenz, nicht nur die englische ›Maulwurfshaut‹ mitsamt ihrer Bezeichnung zu importieren, sondern auch, ihr ein ›e‹ anzufügen, um die nasale Endung zu umgehen und annäherungsweise der französischen Zunge einen britischen Schlag beizubringen. Dieser phonologische Kniff stellt jedoch keineswegs einen Angriff auf beziehungsweise eine Abschottung von der Metaphysik dar, wie sie im ›a‹ der ›différance‹ zum Ausdruck kommt; er führt zwei Liebende zusammen. Wie Augustin Meaulnes Yvonne de Galais verzweifelt zu finden versucht, sie schließlich findet und sie ihm schicksalhaft entrissen wird, so fügt sich auch das ›e‹ an ›Moleskin‹ an, eine Verbindung, über die man in Platons Symposion liest: »Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn beständig jeder seine andere Hälfte.«
Epiphanien der Hälften – das plötzliche Erscheinen von Symbolen, die etwas Bleibendes schaffen: flüchtige Notizen auf Papier und ein Kind, das ohne leibliche Eltern aufwächst. Man stellt sich Chatwin vor, der mit einem Koffer voller Moleskines beladen die Welt bereist, und gleichzeitig sieht man den großen Meaulnes, »wie er nachts seine Tochter in seinen Mantel hüllt[e]
, um mit ihr zu neuen Abenteuern aufzubrechen.«
Blog-Eintrag
Die Schwierigkeit eines Blog-Eintrags schält sich oftmals in den frühen Morgenstunden als eine unüberwindbare Masse geistiger Beschwerden heraus. In ungünstigen Fällen hält dieses niederdrückende Gefühl bis mittags an; die Bemitleidenswerten unter uns müssen damit gar bis abends zurechtkommen. Hat man sich entschlossen, seine Seele zu befreien und all die Kreativität, die sich in geballter Form im Kopf befindet, herauszulassen, aus den Fingern, den flinken, in die Tastatur einfließen zu lassen, die Welt am eigenen Genie teilnehmen zu lassen, dann braucht es Überwindung, einen Impuls, der, einem Trieb ähnlich, ungezügelt und unzensiert, das Rad zu drehen vermag. Setzen wir uns also an den Tisch, den schreibenden, und schlagen, nicht ganz willkürlich, aber umso dreister, Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes auf Seite 544 auf. Dort finden wir folgenden wahren Satz: »Das Werkzeug fast der gesamten höheren Mathematik, die Differential- und Integralrechnung, erfanden Newton und Leibniz unabhängig voneinander.« Dem ist nichts hinzuzufügen. Wir schließen das Buch, schauen verträumt aus dem Fenster, lassen den Kopf ein wenig zur linken Seite fallen. Wahrlich, das ist die Essenz eines Blog-Eintrags.
Robert Cray, Geschichtenerzähler
Die Geschichte, die uns Robert Cray in einer Mischung aus Blues, Soul und Reggae erzählen möchte (»Have a seat and I’ll tell you a tale«), kommt auf den ersten Blick als ein unterhaltsamer Zeitvertreib daher, als Kurzweil, doch sie ist es mitnichten:
Mit seiner eindringlichen, ins Falsett entgleitenden Stimme, die ansonsten posaunig-mahnend tönt, klagt Cray das Fehlverhalten eines Mannes namens Johnny an, »who turned out to be a cheater«. Johnny, ein Egoist und Angeber (»All the money and the clothes / And the cars that he drove just kept his ego fed«), betrügt seine Frau mit »number two«, läßt sie mit den Kindern und dem Haushalt alleine. Doch nicht nur Johnny steht im Fokus von Crays Anklage: mit ihm bezichtigt er indirekt die Gesellschaft, die Bewohner der Stadt, des Fehlverhaltens, da sie von Johnnys »playboy-thing« wußten und es insgeheim tolerierten: »Everyone in town knew he always made the rounds / Not a word was said / To his friends he was king / Cause he thought of everything / Except his number one«. Doch letztlich kommt alles raus: die Geliebte findet seine Telefonnummer. Das Gerücht geht um, die beiden Frauen hätten die ganze Nacht miteinander gesprochen, »[t]
hey had to teach him a lesson / They had to make things right«. Der »arme Johnny« wird schließlich mit vereinten Kräften geschnappt (»he got caught in a trap and it snapped«) und niedergemacht: »Once from the left, then from the right / They took him down late that night«. Cray zelebriert diese Aktion genüßlich, indem er sie dreimal im Refrain wiederholt.
Dabei zeigt sich die 2007er »Crossroads«-Version seines erstmals 2005 auf dem Album Twenty erschienenen »Poor Johnny« authentischer als das Original, da sie an den entscheidenden dramatischen Stellen im Refrain ein erhöhtes Tempo annimmt, an anderen verzögernd wirkt, welches die Brisanz der Handlung Johnnys unterstreicht. Ohnehin wird der Song nicht nur durch Crays hypnotisches Gitarrenspiel und seine unverwechselbare Stimme geprägt; gerade der äußerst präzise und rudimentäre Schlagzeugeinsatz Tony Braunagels, der puristisch-stakkatohafte Bass Richard Cousins‘ sowie der an Bach erinnernde Basso continuo des Keyboards von Jim Pugh erschaffen eine absolut faszinierende Atmosphäre aus Schmerz, Spannung und Anklage. Als krönender Abschluß erklingt – gleichsam als eine Art Nachruf auf Johnny (»shame on you, buddy!«) – Frédéric Chopins »Marche funèbre« (Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35, dritter Satz), was sicherlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist.