Privatbibliothek

»Es gibt«, sagt Werner Oechslin, »kein überholtes und daher wertloses Wissen. Das ist ein Vorurteil der Moderne, ein falscher Fortschrittsglaube.« Oechslin und seine beeindruckende Privatbibliothek scheinen aus der Zeit gefallen zu sein, doch sie sind vielmehr Felsen im aufbrausenden Meer der Orientierungslosigkeit.


Urs Hafner. »Ein Kosmos der Gelehrsamkeit.« Neue Zürcher Zeitung, 20. Jan. 2012, https://www.nzz.ch/ein_kosmos_der_gelehrsamkeit-1.14423808

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Cui bono?

Wem nützt Literatur? Hat sie einen therapeutischen Effekt? Fühlen wir uns weniger allein? Lenkt sie uns von unserer Sterblichkeit ab oder werden wir ihrer vielmehr bewußt? Garth Risk Hallberg geht diesen Fragen in seinem Essay »Why Write Novels at All?« nach.


Garth Risk Hallberg. »Why Write Novels at All?« The New York Times Magazine, Jan 13, 2012, https://www.nytimes.com/2012/01/15/magazine/why-write-novels-at-all.html

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Parasit

William S. Burroughs sagte einst: »Every man has inside himself a parasitic being who is acting not at all to his advantage.« Yony Leyser versucht in seinem assoziativ montierten Biopic A Man Within dem Parasiten des Beat-Poeten nachzuspüren.


Gerrit Bartels. »Der Schmerzdichter.« Der Tagesspiegel, 12. Jan. 2012, https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-schmerzdichter/6056710.html

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Curiositas

Die Gier nach Neuem galt lange Zeit als Motor wissenschaftlicher Erkenntnis, als treibende Kraft, Grenzen zu überschreiten und das ›unentdeckte Land‹ zu vermessen. Doch was ist aus der Neugierde geworden? Gibt es in der heutigen Wissenschaft noch einen Platz für sie oder zählt nurmehr noch das persönliche Netzwerk als Karriereprinzip? Peter-André Alt macht sich stark für die curiositas, den Zufall als Erkenntnisprinzip sowie für Beharrlichkeit und Ausdauer beim wissenschaftlichen Arbeiten.


Peter-André Alt. »Ist der Kandidat denn auch gut vernetzt?« Frankfurter Allgemeine Zeitung_, 10. Jan. 2012, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/motive-der-forschung-ist-der-kandidat-denn-auch-gut-vernetzt-11600466.html

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Lathe biosas

In der heutigen F.A.Z. ist ein über zwei Seiten reichender Artikel Henning Ritters abgedruckt, der sich als biographische Skizze Hans Blumenbergs lesen läßt, und der den Münsteraner Philosophen in gewissem Sinne doppelt ›sichtbar‹ werden läßt. Ritter beschreibt den Kontakt des (unvorbereiteten) Lesers mit dem umfassend gebildeten Philosophen als eine ›erhabene‹ Begegnung, wie man sie in der Natur oder auch vor Kunstwerken erfährt. Die Schriften Blumenbergs (er-)fordern daher einen »intellektuelle[n] Abenteurer« als Leser, der sich einerseits vom Autor leiten läßt, der sich andererseits auch mit großer Kraft einen Weg durch die zugewachsenen Pfade freischlagen muß.

Neben der Frage nach der Leserschaft, der imaginierten und der tatsächlichen, die dem Autor ein großes Echo und damit Motivation zum Weiterschreiben gab, stellt Ritter Blumenbergs »starkes literarisches Interesse« in den Fokus seines Artikels. Sein Stil kann als philosophische Prosa charakterisiert werden. Indem Blumenberg sich bei seinen Deutungen unzähliger literarischer Beispiele bedient, stärkt er die Literatur »in ihrem Anspruch auf Mitspracherecht nachdrücklich«. Wie etwa Lévi-Strauss den Mythos als neben der Wissenschaft ebenbürtige Art und Weise der Daseinsbeschreibung und -erklärung definiert, sieht Blumenberg die Literatur als weites Feld menschlicher Erfahrungen: »Die dichterische Phantasie«, erklärt Ritter, »schafft nicht bloß Ornamente des Verstehens, sondern gibt gleichberechtigte Einsätze.« Dieses Projekt fordere eine »Literarisierung der Philosophie«, wie sie etwa schon der ›Dichterphilosoph‹ Paul Valéry umsetzte, dem Blumenberg nach Ritters Einschätzung »die bis heute bedeutendsten Studien in deutscher Sprache gewidmet« habe. Blumenbergs comédie intellectuelle wird schließlich von einer Metaphorologie begründet, die als »implizite Polemik gegen die Herrschaft des Begriffs« aufgefaßt werden kann.

Nach seiner Emeritierung endeten die umfangreichen Monographien und Blumenberg konzentrierte sich auf kürze Texte wie Fabeln, Anekdoten oder Glossen, wodurch er sich von der Philosophie in ihrer »akademischen, zunftmäßigen Form emanzipier[te]«. Sichtbarkeit und Biographie – zwei Phänomene, denen sich Blumenberg stets entzog. Zuletzt waren seine Schriften, seine Artikel und Bücher, die einzigen Lebenszeichen, so daß man ihn durchaus als einen deutschen Thomas Pynchon bezeichnen könne.

Die eingangs erwähnte doppelte Sichtbarkeit wird folgendermaßen etabliert: Dem überaus lesenswerten ›biographischen‹ Artikel Henning Ritters sind zwei Photographien Blumenbergs beigefügt. Das bekannte und einzige vom Philosophen freigegebene ist auf der zweiten Seite abgedruckt; ein neues, ›unbekanntes‹ Bild ist dem Ritterschen Text vorangestellt, ja es erstreckt sich über dessen fünf Spalten. »Aus Scheu vor jeder aufdringlichen Sichtbarkeit seiner Person«, so liest man unter der stark körnigen Photographie, »sorgte Hans Blumenberg dafür, dass es keine Fotos von ihm gab, ein einziges kam zu Lebzeiten davon. Nun ist diese zweite Aufnahme des Philosophen aufgetaucht.« Eine etwas übertriebene Darstellung, ziert dieses Bild doch – wenn auch seitenverkehrt – das Cover von Denis Trierweilers im August 2010 bei PUF erschienenem Hans Blumenberg: Anthropologie philosophique.


Henning Ritter. »Vom Wunder, die Sterne zu sehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Jan. 2012, p. Z 1-2.

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Publish or perish?

Jürgen Kaube macht in der heutigen F.A.Z. auf eine Untersuchung des amerikanischen Anglisten Mark Bauerlein aufmerksam, die in erschreckender Weise darlegt, daß die Geisteswissenschaften ein Produktionssystem erzeugt haben, das Geschriebenes in hohem Maße erzeugt, während zugleich die Abnehmer, die Leser, fehlen. Man sollte sich daher Schopenhauers Wort zu Herzen nehmen, nach dem man nur dann schreiben sollte, wenn man etwas zu sagen habe.


Jürgen Kaube. »Eine Industrie ohne Abnehmer.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Jan. 2012, N5.

Mark Bauerlein. »The Research Bust.« The Chronicle of Higher Education, Dec. 4, 2011, https://www.chronicle.com/article/The-Research-Bust/129930/

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P. G. Wodehouse

P. G. Wodehouse – ein Schriftsteller, dessen »musical comedies without music« aus dem Rahmen fallen. Fritz Senn, der Doyen der Joyce-Forschung, lobt die Neuübersetzungen Thomas Schlachters. Der Leser wird seine Freude an der »Edition Epoca« haben.


»›Die Kunst der köstlichen Eleganz.‹« Neue Zürcher Zeitung, 31. Dez. 2011, https://www.nzz.ch/die_kunst_der_koestlichen_eleganz-1.14005986

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Strobogrammatik

Kurz vor Jahresende sei dem »strobogrammatischen« Jahr 1961 gedacht, ein »Upside-Down-Year«, das sich erst 6009 wiederholen wird.


awy. »Das verkehrte Jahr.« Neue Zürcher Zeitung, 29. Dez. 2011, https://www.nzz.ch/das_verkehrte_jahr_1961_upside_down_year-1.13976682

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Echtzeitbücher

Echtzeitbücher? Ist das nicht ein Oxymoron? Müssen Bücher ›schnell‹ sein, müssen sie mit der Aktualität von Twitter oder Facebook mithalten, ja können sie das überhaupt? Führt nicht ein schnell geschriebenes, schnell redigiertes, schnell publiziertes Buch zwangsläufig zum Verlust von Tiefe, Qualität und ›Reife‹, also zu all denjenigen Eigenschaften, die das Medium Buch auszeichnen? Suhrkamps neue »digital«-edition versucht, ein Bindeglied zwischen langsamem Analogen und schnellem Digitalen zu sein. Damit scheint ein ›warmes Medium‹ anvisiert zu werden, also die Erstellung eines Hybriden, das aus dem – um mit Marshall McLuhan zu sprechen – ›heißen Buch‹ und dem ›kalten Internet‹ bestehen soll.


Kilian Trotier. »Kurz, aber bitte mit Schmackes.« Die Zeit, 15. Dez. 2011, https://www.zeit.de/2011/51/Wiese-Suhrkamp

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Kisses for Oscar

»The roses in her garden fade away / Not one left for her grave« – that’s what The Zombies sang in their song A Rose for Emily, released in 1968. As for Oscar Wilde you have to say: »The kisses on his gravestone fade away«, because a newly installed glass barrier avoids lip marks of admirers that destroy the writer’s memorial. How long will that wall be transparent?


John Tagliabue. »Walling Off Oscar Wilde’s Tomb From Admirers’ Kisses.« The New York Times, Dec. 15, 2011, https://www.nytimes.com/2011/12/16/world/europe/oscar-wildes-tomb-sealed-from-admirers-kisses.html

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Kinozeit

Am Nikolaustag haben einige Namenstag, andere Geburtstag, doch viele (oder fast alle) werden beschenkt. So ist dieser 6. Dezember nicht nur ein faszinierendes Datum für Kinder; auch für Erwachsene (oder solche, die von sich sagen, sie wären erwachsen) ist dieser Tag von einer magischen Aura umgeben. Obgleich sich an solchen Feiertagen Gott und die Welt in den Städten tummelt, war ein Abstecher ins Kino eine zwar riskante, aber letztlich absolut lohnenswerte Überraschung. Was wurde gespielt? Die neunzehnte, sehr authentische Verfilmung Jane Eyres. Absolut sehenswert!


Verena Lueken. »Geschichtsunterricht in Frauenschauer.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Nov. 2011, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/video-filmkritik-geschichtsunterricht-in-frauenschauer-11545421.html

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Das Lächerliche und das Erhabene

Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard, 1968)

Der Tod ist das Erhabene par excellence; vor ihm wirkt alles lächerlich, irrelevant und klein. Im VI. Programm seiner Vorschule der Ästhetik stellt Jean Paul das Lächerliche als den »Erbfeind des Erhabenen« dar. Im Gegensatz zu Kant und dessen Differenzierung mathematisch/dynamisch versteht Jean Paul das Erhabene als etwas sinnlich Faßbares und definiert es als das »angewandte Unendliche«. Diesem »unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.« Als etwas unendlich Kleines, als eine Mischung aus Sinnlichem und Geistigem ist das Lächerliche die »ideale Kleinheit«, die Thomas Bernhard für sein Anschreiben gegen den Tod nutzt, sie in seinen ›Denkkerker‹ hineinzieht, um sie zu sezieren und sichtbar zu machen. Diese Visualisierung geschieht durch eine Sprache, die ohne Zweifel ›erhaben‹ genannt werden kann.


»Wiener Rede zur Überreichung des österreichischen Staatspreises an Thomas Bernhard.« Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Suhrkamp, 2011, pp. 69-70, hier p. 70.

Jean Paul. »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit.« Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Herausgegeben von Norbert Miller. Hanser, 1963. Lizenzausgabe. 6., korrigierte Aufl., WBG, 1995, pp. 7-514, hier pp. 105-6; 109. Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band.

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»Everyone’s got to be somewhere« – George Harrison zum 10. Todestag

An diesem 29. November jährt sich der Todestag George Harrisons zum zehnten Mal. Was kann – in Anbetracht der schier endlosen Fülle an Literatur, an Musik, an Filmen und Dokumentationen, die über ihn, sein Werk und Leben und letztlich auch über die Beatles als Ganzes, als Phänomen veröffentlicht wurde (und noch immer wird) – noch gesagt werden?

Zweifelsohne war George Harrison ein bedeutender Musiker, ein Gitarrist, der – einmal vom übermächtigen Songwriter-Duo Lennon/McCartney emanzipiert – seinen unverwechselbaren, mit indischen Klängen ornamentierten Stil prägen und seiner eigenen religiös-humanistischen Botschaft ungeachtet aller Moden und Meinungen treu bleiben konnte. Doch er war weit mehr als das: er war ein Wohltäter, ein Motorsportnarr, ein Philosoph mit intelligentem Witz, er war Ehemann, Vater und Freund unzähliger Menschen. Viele, die ihn gut und lange kannten, aber auch solche, die ihm nur kurz begegnet waren, sprechen von ihm wie von einem Heiligen, einem Weisen, der jedoch alles andere als distanziert oder gar abgehoben und verrückt war. Er war ein Mann des Volkes, ohne Berührungsängste oder Star-Allüren, er versammelte gerne Freunde um sich und begrub sie nahezu unter einer gigantischen Schicht aus Großzügigkeit und Liebe. Innerlich ist er sein Leben lang der einfache Junge aus Liverpool geblieben, der in rasender Geschwindigkeit »to the toppermost of the poppermost« emporgestiegen war, und der in gut zehn Jahren – man muß sich vergegenwärtigen, daß Harrison bei der offiziellen Auflösung der Beatles am 10. April 1970 gerade einmal 27 Jahre alt war! – Erfahrungen und Erlebnisse mehrerer Leben gemacht hatte.

George Harrison war jedoch eines auch: ein ewiger Gärtner – und zwar im umfassenden, auch im metaphorischen Sinne. So ist es kein Wunder, daß er seine zuerst 1980 erschienene, als Dialog mit Derek Taylor konzipierte Autobiographie I Me Mine »to gardeners everywhere« gewidmet hat. In den riesigen Parkanlagen seines Domizils »Friar Park« in Henley-on-Thames fand er Ruhe, Erdung und Inspiration. Hier war er der Mensch George, nicht der Ex-Beatle, nicht der Promi. In I Me Mine sagt er:

I’m really quite simple. I don’t want to be in the business full-time, because I’m a gardener. I plant flowers and watch them grow. I don’t go out to clubs and partying. I stay at home and watch the river flow.

Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, schrieb Elton John einen Song namens »Empty Garden (Hey Hey Johnny)«. Der Garten steht hier zwar für den New Yorker »Madison Square Garden«, in welchem Lennon 1974 ein Versprechen eingelöst hatte und bei einem Elton-John-Konzert aufgetreten war, doch können die Verse dieses Songs ebensogut auf George Harrison gemünzt sein: »He must have been a gardener that cared a lot / Who weeded out the tears and grew a good crop«. Lennons Tod traf auch Harrison schwer. In »All Those Years Ago«, seinem mit Paul McCartney, Ringo Starr und George Martin eingespielten Tribute-Song an den Freund, singt er: »Living with good and bad / I always look up to you / Now we’re left cold and sad / By someone the devil’s best friend / Someone who offended all«.

Man ist versucht, diese Worte an Lennon auch auf Harrison anzuwenden: Selbst nach zehn Jahren sind Familie, Freunde und Fans auf der ganzen Welt immer noch »left cold and sad«, doch ist diese Traurigkeit mit Blick auf Harrisons Lebensphilosophie, auf seine religiösen und spirituellen Überzeugungen vollkommen unbegründet. Man muß sich selbst diese schon stoische Einstellung zum Tod – der niemals das Ende ist, auch wenn »all things must pass« – in den dunklen Stunden vor Augen führen, man muß sich George Harrison als einen zufriedenen Menschen vorstellen, der – wo immer er auch sein mag (irgendwo muß er ja sein, oder mit den Worten John Lennons: »Wherever you are / You are here«) – weiterexistiert. In seiner Rede anläßlich der Aufnahme Harrisons in die »Hollywood Bowl Hall of Fame« gab Eric Idle folgende Anekdote zum Besten:

I was on an island somewhere when a man came up to him and said: ›George Harrison, oh my God, what are you doing here?‹ – and he said: ›Well, everyone’s got to be somewhere.‹

(Wer sich ein Bild von George Harrisons Humor machen möchte, dem seien Klaus Voormanns Memoiren »Warum spielst du Imagine nicht auf dem weißen Klavier, John«. Erinnerungen an die Beatles und viele andere Freunde wärmstens empfohlen.)

Am ersten Todestag Harrisons kamen unter der Leitung Eric Claptons seine engsten Musikerfreunde in der Londoner »Royal Albert Hall« zusammen, um beim Concert For George – eine Anspielung und Reverenz auf Harrisons 1971 initiiertes Benefizkonzert Concert For Bangladesh – ihres Freundes zu gedenken. Obgleich der gesamte Abend, nicht zuletzt auch durch die hervorragende Doppel-DVD, ein unvergeßlicher war, sei an dieser Stelle auf das sehr bewegende Finale hingewiesen: Joe Browns Version des Isham-Jones-und-Gus-Kahn-Klassikers »I’ll See You In My Dreams« aus dem Jahre 1924.

Wenige Monate später, im März 2003, veröffentlichte Ringo Starr auf seinem zwölften Studio-Album Ringo Rama seinen Song für Harrison »Never Without You« (bei dem Eric Clapton die Gitarren-Soli übernahm) und stellte sich damit in eine Reihe mit seinen Beatles-Kollegen George und Paul, die in den Jahren 1981 und 1982 jeweils Tribute-Songs für John Lennon verfaßten: das bereits genannte »All Those Years Ago« und »Here Today«.

Zum 10. Todestag George Harrisons erscheinen das dreieinhalbstündige Biopic (das, etwas unglücklich gewählt, denselben Titel trägt wie ein Harrison-Album aus dem Jahre 1973) George Harrison: Living In The Material World von Martin Scorsese sowie ein gleichnamiges, 400 Seiten starkes Buch voller privater Fotos und persönlicher Erinnerungen von Weggefährten. George Harrison ist immer noch in aller Munde – und auf den Titelseiten der Zeitungen und Musik-Magazine. In I Me Mine beschreibt er diese Prominenz mit gemischten Gefühlen: »There was more good than evil in being a Beatle but it was awful being on the front page of everyone’s life, every day. What an intrusion into our lives.«

So gärtnert George Harrison wahrscheinlich noch ewig weiter: »A gardener like that one, no one can replace«. Er, der als ›stiller Beatle‹ in die Geschichte einging, verließ sie als ruhiger Philosoph und ist immer noch präsent: »And your song will play on without you / And this world won’t forget about you…«


Erfolgszahlen

Sibylle Lewitscharoff macht (Hans) Blumenberg populär. Wie hätte Hans Blumenberg reagiert? In »Mihi ipsi scripsi« schreibt er:

Sind 50 Leser eine ›kleine Gemeinde‹ des Autors? Sind 500 Käufer eine ›bemerkenswerte Klientel‹, die auch fürs Künftige hoffen läßt? Sind 5000 abgesetzte Exemplare genug, um von einem ›schönen Erfolg‹ zu sprechen? Oder sind erst 50 000 der Einstieg in ein ›Publikum‹, das sogar dem Verleger mehr als gleichgültig zu werden beginnt? 500 000 in 25 Sprachen wären zweifelsfrei ein ›Welterfolg‹? Ich lasse dahingestellt, wo präziser die Schwellenwerte liegen mögen – irgendwo liegen sie.

Blumenberg sah sich – wie Nietzsche, von dem sein Text handelt – mit eher mäßigen Verkaufszahlen konfrontiert, die allenfalls einen ›schönen Erfolg‹ erkennen ließen; Lewitscharoff dürfte sich hingegen über das wachsende ›Publikum‹ freuen.


Hans Blumenberg. »Mihi ipsi scripsi.« Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Reclam, 1998, pp. 67-79, hier p. 67-8.

PaschenLiteratur. »Sibylle Lewitscharoff liest aus ›Blumenberg‹.« YouTube, 11. Nov. 2011, https://www.youtube.com/watch?v=H3RH8nxlLJk

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I Me Mine

I’m currently reading the so-called ›autobiography‹ I Me Mine by George Harrison (originally published in 1980) as I came across the following ›anthropological phenomenology‹:

I met Kissinger and Ford. Ford was very friendly. Kissinger looked like an Arab, talked like a German and was tanned all over, like Clark Gable. He was a bit like Charlie Chaplin, like a Rutle. He fitted into that silly cartoon world we live in as do Edward Heath and Harold Wilson and the Duke of Edinburgh, whom I also met. Anyway, this is disgressing.


George Harrison. I Me Mine. Chronicle Books, 2007, p. 67.

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Umbrella Man

Heute vor 48 Jahren wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Es war ein sonniger Tag. Dennoch steht – deutlich erkennbar – ein Mann mit geöffnetem Regenschirm direkt an der Stelle, wo den Präsidenten die tödlichen Schüsse ereilen. Ist dieser mysteriöse »Umbrella Man« vielleicht der Attentäter? Steht er mit den Attentätern in Verbindung? Ist er ein Beobachter aus der Zukunft? Oder will er sich nur vor der Sonne schützen? Derartige Fragen beflügeln Verschwörungstheorien aller Couleur. Doch letztlich sollte man sich auf »Ockhams Rasiermesser« besinnen…


Errol Morris. »The Umbrella Man.« The New York Times, Nov. 22, 2011, https://www.nytimes.com/video/opinion/100000001183275/the-umbrella-man.html

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Rock in Polen

Andrzej Stasiuk ließ sich für die Rockmusik einsperren. Er gewährt einen interessanten Blick hinter den Eisernen Vorhang und legt zugleich einen autobiographisch-nostalgischen Bericht über die Kraft der Musik als Alternativwelt, als Illusion und Privatreligion im kommunistischen Polen der 1970er- und 1980er-Jahre vor.


Andrzej Stasiuk. »Die flimmernde Materie der Welt.« Neue Zürcher Zeitung, 19. Nov. 2011, https://www.nzz.ch/die_flimmernde_materie_der_welt-1.13356445

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Mit Liszt und Tücke

Welche Liszt-Biographie malt das bunteste und authentischste Bild des Virtuosen? Für alle Unentschlossenen, die im Jubiläumsjahr in all den Neuerscheinungen den Überblick verloren haben, stellt Michael Stallknecht die wichtigsten vor – und hält sich mit Kritik nicht zurück. Die Liszt-Biographie des Glenn-Gould-Experten Michael Stegemann hebt Stallknecht als gelungen heraus und nennt sie »[d]ie Standardbiographie der kommenden Jahre [...], weil [sie] bei aller Nähe die Fakten klar ordnet und durchdenkt.« Doch versäumt es Stallknecht keinesfalls die brillante, schon vor zwei Jahren erschienene, fast 1000 Seiten starke Liszt-Biographie des französischen Musikwissenschaftlers Serge Gut zu unterschlagen. Für jeden Geschmack (und jeden Anspruch!) dürfte der Liszt-Büchermarkt in diesem Herbst gewappnet sein.


Michael Stallknecht. »Zwischen Trinker und Genie.« Süddeutsche Zeitung, 14. Nov. 2011, https://www.sueddeutsche.de/kultur/liszt-biographien-zum-zwischen-trinker-und-genie-1.1188246

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Free Will

Is free will a matter of definition? Is it an illusion, a fiction? How would ›the death of free will‹ change our world, our moral and legal concepts? How can inductive – or deductive, or perhaps even ›abductive‹ – inferring explain the way free will is working? Saying free will is an illusion is »like inferring from discoveries in organic chemistry that life is an illusion just because living organisms are made up of non-living stuff«, Eddy Nahmias writes in his discussion of that ›big issue‹. He argues that »neuroscience does not kill free will«, perhaps because it’s not (yet) able to do so: Against the background of Charles Sanders Peirce’s ›Theory of Cognition‹ and its so called »Four Incapacities Claimed for Man«, human beings have »no conception of the absolutely incognizable«, and I think free will is such an incognizable entity. Would the death of free will be the death of God?


Eddy Nahmias. »Is Neuroscience the Death of Free Will?« The New York Times, Nov. 13, 2011, https://opinionator.blogs.nytimes.com/2011/11/13/is-neuroscience-the-death-of-free-will/

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Into the Abyss

Werner Herzog’s documentary film Into the Abyss (in selected cities in the U.S. from this day, in Europe on March 23, 2012) shows human beings as monsters and monsters as human beings. It deals with God (we all know the subtext: »Thou shalt not kill«), with the manifold aspects of violence, and with death penalty or the question of »live and let die«. It’s possible Herzog had Nietzsche’s aphorism 146 from Jenseits von Gut und Böse in his mind before or while filming in Texas: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« That is: »He who fights with monsters should be careful lest he thereby become a monster. And if thou gaze long into an abyss, the abyss will also gaze into thee.«


Lorrie Moore. »Werner Herzog on Death Row.« The New York Review of Books, Nov. 10, 2011, https://www.nybooks.com/daily/2011/11/10/werner-herzog-death-row/

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