›E‹piphanien oder: Der große Meaulneskin›e‹

Menschen sind wie Buchstaben: sie erscheinen, nehmen Gestalt an, verkümmern, werden mißachtet und verschwinden schließlich in den Annalen des Kollektivgedächtnisses. Manche sind unaussprechlich; man weiß nicht, wie man ihnen gerecht wird. Sie sind Symbole: sie fallen zusammen, fallen mit anderen, mit ihren Gegenstücken zusammen und trennen sich wieder. Bei manchen ist man sich unsicher, woher sie überhaupt kommen …

Der Begriff ›Moleskin‹ bezeichnet ein robustes Textil, in dem der englische Arbeiter häufig erschien. Vielleicht war auch der Bauernfilzhut, den Augustin Meaulnes bei seiner ersten Erscheinung trug, mit eben jenem magischen Stoffe überzogen. Diese frühe Verbindung, die dem aufmerksamen Denkenden in sein ungetrübtes Auge fällt, ereignet sich am Ausklang des 19. Jahrhunderts: »An einem Novembertag des Jahres 189… kam er zu uns.« (Henri Alain-Fournier, Der große Meaulnes)

Ähnlich der imposanten und mit dem Zauber des Mysteriums umgebenen Gestalt des 17jährigen Schülers erscheint ein Vokal aus den Tiefen der linguistischen Kreativität: ›Moleskine‹, ein Begriff, dessen Herkunft und Aussprache nicht weniger Kopfzerbrechen verursacht als das seltsam-romantische Herumirren des großen ›Fährtensuchers‹.

Ein französischer Buchbinder aus Tours wagt es, in dreister Impertinenz, nicht nur die englische ›Maulwurfshaut‹ mitsamt ihrer Bezeichnung zu importieren, sondern auch, ihr ein ›e‹ anzufügen, um die nasale Endung zu umgehen und annäherungsweise der französischen Zunge einen britischen Schlag beizubringen. Dieser phonologische Kniff stellt jedoch keineswegs einen Angriff auf beziehungsweise eine Abschottung von der Metaphysik dar, wie sie im ›a‹ der ›différance‹ zum Ausdruck kommt; er führt zwei Liebende zusammen. Wie Augustin Meaulnes Yvonne de Galais verzweifelt zu finden versucht, sie schließlich findet und sie ihm schicksalhaft entrissen wird, so fügt sich auch das ›e‹ an ›Moleskin‹ an, eine Verbindung, über die man in Platons Symposion liest: »Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn beständig jeder seine andere Hälfte.«

Epiphanien der Hälften – das plötzliche Erscheinen von Symbolen, die etwas Bleibendes schaffen: flüchtige Notizen auf Papier und ein Kind, das ohne leibliche Eltern aufwächst. Man stellt sich Chatwin vor, der mit einem Koffer voller Moleskines beladen die Welt bereist, und gleichzeitig sieht man den großen Meaulnes, »wie er nachts seine Tochter in seinen Mantel hüllt[e], um mit ihr zu neuen Abenteuern aufzubrechen.«


Blog-Eintrag

Die Schwierigkeit eines Blog-Eintrags schält sich oftmals in den frühen Morgenstunden als eine unüberwindbare Masse geistiger Beschwerden heraus. In ungünstigen Fällen hält dieses niederdrückende Gefühl bis mittags an; die Bemitleidenswerten unter uns müssen damit gar bis abends zurechtkommen. Hat man sich entschlossen, seine Seele zu befreien und all die Kreativität, die sich in geballter Form im Kopf befindet, herauszulassen, aus den Fingern, den flinken, in die Tastatur einfließen zu lassen, die Welt am eigenen Genie teilnehmen zu lassen, dann braucht es Überwindung, einen Impuls, der, einem Trieb ähnlich, ungezügelt und unzensiert, das Rad zu drehen vermag. Setzen wir uns also an den Tisch, den schreibenden, und schlagen, nicht ganz willkürlich, aber umso dreister, Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes auf Seite 544 auf. Dort finden wir folgenden wahren Satz: »Das Werkzeug fast der gesamten höheren Mathematik, die Differential- und Integralrechnung, erfanden Newton und Leibniz unabhängig voneinander.« Dem ist nichts hinzuzufügen. Wir schließen das Buch, schauen verträumt aus dem Fenster, lassen den Kopf ein wenig zur linken Seite fallen. Wahrlich, das ist die Essenz eines Blog-Eintrags.


Robert Cray, Geschichtenerzähler

Die Geschichte, die uns Robert Cray in einer Mischung aus Blues, Soul und Reggae erzählen möchte (»Have a seat and I’ll tell you a tale«), kommt auf den ersten Blick als ein unterhaltsamer Zeitvertreib daher, als Kurzweil, doch sie ist es mitnichten:

Mit seiner eindringlichen, ins Falsett entgleitenden Stimme, die ansonsten posaunig-mahnend tönt, klagt Cray das Fehlverhalten eines Mannes namens Johnny an, »who turned out to be a cheater«. Johnny, ein Egoist und Angeber (»All the money and the clothes / And the cars that he drove just kept his ego fed«), betrügt seine Frau mit »number two«, läßt sie mit den Kindern und dem Haushalt alleine. Doch nicht nur Johnny steht im Fokus von Crays Anklage: mit ihm bezichtigt er indirekt die Gesellschaft, die Bewohner der Stadt, des Fehlverhaltens, da sie von Johnnys »playboy-thing« wußten und es insgeheim tolerierten: »Everyone in town knew he always made the rounds / Not a word was said / To his friends he was king / Cause he thought of everything / Except his number one«. Doch letztlich kommt alles raus: die Geliebte findet seine Telefonnummer. Das Gerücht geht um, die beiden Frauen hätten die ganze Nacht miteinander gesprochen, »[t]hey had to teach him a lesson / They had to make things right«. Der »arme Johnny« wird schließlich mit vereinten Kräften geschnappt (»he got caught in a trap and it snapped«) und niedergemacht: »Once from the left, then from the right / They took him down late that night«. Cray zelebriert diese Aktion genüßlich, indem er sie dreimal im Refrain wiederholt.

Dabei zeigt sich die 2007er »Crossroads«-Version seines erstmals 2005 auf dem Album Twenty erschienenen »Poor Johnny« authentischer als das Original, da sie an den entscheidenden dramatischen Stellen im Refrain ein erhöhtes Tempo annimmt, an anderen verzögernd wirkt, welches die Brisanz der Handlung Johnnys unterstreicht. Ohnehin wird der Song nicht nur durch Crays hypnotisches Gitarrenspiel und seine unverwechselbare Stimme geprägt; gerade der äußerst präzise und rudimentäre Schlagzeugeinsatz Tony Braunagels, der puristisch-stakkatohafte Bass Richard Cousins‘ sowie der an Bach erinnernde Basso continuo des Keyboards von Jim Pugh erschaffen eine absolut faszinierende Atmosphäre aus Schmerz, Spannung und Anklage. Als krönender Abschluß erklingt – gleichsam als eine Art Nachruf auf Johnny (»shame on you, buddy!«) – Frédéric Chopins »Marche funèbre« (Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35, dritter Satz), was sicherlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist.

The Robert Cray Band “Poor Johnny” Crossroads (2007)