Die Geburt des Denkkerkers

Ich muß feststellen – wenn auch nicht bestürzt, so doch immerhin betrübt –, daß der Begriff ›Denkkerker‹ nicht, wie von mir angenommen, auf den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard, sondern auf den Schweizer Autor Silvio Blatter zurückgeht. Dieser hatte den Begriff bereits 1978 – und damit acht Jahre vor Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall – in seinem Roman Zunehmendes Heimweh, dem ersten Teil seiner »Freiamt«-Trilogie, verwendet. Während Bernhard jedoch dem Denkkerker als Refugium eine durchaus positive Semantik verleiht, benutzt ihn Blatter hingegen kritisch als Symbol für die vom Katholizismus propagierte Lebensweise.


Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, herausgegeben von Hans Höller, Suhrkamp, 2004, p. 242. Thomas Bernhard Werke, herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 9.

Silvio Blatter. Zunehmendes Heimweh. Suhrkamp, 1978, p. 208.

Nico Schulte-Ebbert. Die Gewalt des Anderen. Aggression und Aggressivität bei Thomas Bernhard. Dissertation WWU Münster, 2012. Logos, 2015, Kap. 4.2.


Jahrestag der Jahrestage

In der F.A.S. stoße ich auf ein literarisches Jubiläum bloomsdayesker Couleur: Der Romanbeginn von Uwe Johnsons zwischen 1970 – bereits im Juli erwähnte Siegfried Unseld das »Echo«, das den ersten Band zu einem Publikumserfolg machen würde – und 1983 erschienenen, fast 2000 Seiten umfassenden Jahrestagen jährt sich am heutigen Montag zum fünfzigsten Male. »Das Buch«, so die F.A.S.,

hat 366 Tageseinträge – 1968 war ein Schaltjahr – und kann ein Jahr lang zum täglichen Lesebegleiter werden. Im Jubiläumsjahr würde diese Lektüreweise sogar mit einer besonderen Kongruenz belohnt werden. Denn auch der 21. August 2017 ist ein Montag.

Ich nehme diesen Hinweis sowie die damit verbundene Tageskongruenz als auch das 50. Jubiläum des Johnsonschen Jahrestage-Beginns zum Anlaß, mich endlich an dieses Mammutwerk heranzuwagen, und zwar Tag für Tag für Tag für Tag für…: »Aufklarendes Wetter in Nord-Viet Nam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi.«


Siegfried Unseld. Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Herausgegeben von Ulrike Anders, Raimund Fellinger, Katharina Karduck, Claus Kröger, Henning Marmulla und Wolfgang Schopf, Suhrkamp, 2010, p. 248. Siegfried Unseld Chronik, herausgegeben von Raimund Fellinger, Bd. 1.

Andreas Bernard. »Zurück zum Riverside Drive.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Aug. 2017, p. 41.

Uwe Johnson. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp, 2000, p. 10.


Mammographien

Gleich am Anfang der neuen Volltext-Ausgabe springt mir ein Satz ins Auge, der typographisch hervorgehoben ist:

Niemand weiß, ob Adorno auf den Hohn der drei jungen Frauen mit Tränen reagierte.

In diesem Satz steckt zweierlei: Zunächst das schlichte, historische Ereignis, das am 22. April 1969 in Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität stattgefunden hat, und das Peter Sloterdijk im Vorwort seiner Kritik der zynischen Vernunft mit den Worten zusammenfaßt:

Eben war der Philosoph [Adorno] im Begriff, seine Vorlesung zu beginnen, als eine Gruppe von Demonstranten ihn am Betreten des Podiums hinderte. Dergleichen war im Jahr 1969 nichts Ungewöhnliches. An diesem Fall zwang etwas zu genauerem Hinsehen. Unter den Störern machten sich Studentinnen bemerkbar, die vor dem Denker im Protest ihre Brüste entblößten. Hier stand das nackte Fleisch, das ›Kritik‹ übte – dort der bitter enttäuschte Mann, ohne den kaum einer der Anwesenden erfahren hätte, was Kritik bedeutet – Zynismus in Aktion. Nicht nackte Gewalt war es, was den Philosophen stumm machte, sondern die Gewalt des Nackten.

Daneben eröffnet besagter Satz einen Möglichkeitsraum, er lädt zu einer Überlegung ein, einer Fiktion, einer Vorstellung, die das sogenannte ›Busenattentat‹ transzendiert und Adorno nach seiner Flucht vor Brüsten, Blumen und Bussis als gedemütigten, gebrochenen, weinenden Philosophen imaginiert.

Ich mußte bei diesem Szenario unweigerlich an den Kulturkritiker David Kepesh aus Philip Roths Roman Das sterbende Tier denken. Kepesh, 62 und Vertreter der ›männlichen Emanzipation‹, ist regelrecht besessen von seiner 24jährigen Studentin Consuela Castillo, genauer: ihre Brüste sind seine Obsession. »Und sie ist eine Frau«, so Kepesh, »mit einem großen Busen. Die oberen beiden Knöpfe der Seidenbluse sind geöffnet, so daß man sehen kann, daß sie ausladende, wunderschöne Brüste hat.« Anders als Adornos ›Busenattentäterinnen‹ wisse Consuela noch nicht genau, »wie sie sie [die Macht] einsetzen soll, was sie damit anfangen soll und ob sie diese Macht überhaupt haben will.« Und anders als Adorno selbst flieht Kepesh nicht vor der Macht, will sagen: den ›Waffen einer Frau‹ – ganz im Gegenteil! Er erliegt dem »Chaos des Eros«, er erliegt den

herrlichsten Brüste[n], die ich je gesehen habe, und ich bin, wie Sie wissen, 1930 geboren und habe eine Menge Brüste gesehen. Diese waren rund, voll, perfekt. Die Art von Brüsten, bei denen die Warzen wie Untertassen sind, nicht wie Zitzen. Große, blasse, rosigbraune Brustwarzen, so unerhört erregend.

Nun, vermutlich war auch der 65jährige Adorno erregt, jedoch auf gänzlich andere Weise. Wo sich allerdings der fiktive New Yorker Kulturkritiker und der imaginierte Frankfurter Philosoph treffen, ist das Weinen. In der Silvesternacht 1999/2000 erfährt Kepesh von Consuelas Brustkrebserkrankung: »Als ich das hörte, begann ich zu weinen, und wir umarmten uns noch einmal […].« Die Tränen, die aufgrund eines Verlustes vergossen werden – sei es der Verlust des Respekts, sei es der Verlust einer Brust oder gar des Lebens –, sind Zeichen der Enttäuschung und des Schmerzes, der Liebe und des Menschlichen, der Schwäche und der Stärke. Im 122. Abschnitt seiner Minima Moralia schreibt Adorno:

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.

Die Mammographien der beiden Intellektuellen sind im doppelten Sinne attraktiv.


Gisela Trams. »Mit Helmut Kohl an Rilkes Grab.« Rezension zu Das blindgeweinte Jahrhundert, von Marcel Beyer. Volltext, Nr. 2/2017, pp. 4-6, hier p. 6.

Peter Sloterdijk. Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1, Suhrkamp, 1983, p. 27.

Philip Roth. Das sterbende Tier. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Hanser, 2003, pp. 11-2; 28; 36; 136.

Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, 2001, p. 365.


Gefühlskompostierung

Aus einer Besprechung anläßlich des 50. Jahrestages der Erstveröffentlichung von W. S. Merwins »possibly most iconic collection of poetry« The Lice erfahre ich, daß Merwin ihm zugesandte Manuskripte anderer Dichter – nachdem er diese gelesen und sich Notizen gemacht habe – zu einem Komposthaufen auf seinem hawaiianischen Grundstück getragen habe.

Michael Wiegers, Chefredakteur von Copper Canyon Press, wo The Lice nun neu erschienen ist, der dieses merkwürdige Ritual beobachtet hatte, erkannte, daß Merwin den Dichtern durch sein religiös-ökologisches Tun die letzte Ehre erwies: »These poets have contributed back to the soil, the land, the trees, making this home where he’s [Merwin] written some of his most beautiful poems«, so Wiegers. –

Kreislauf des Lebens, Kreislauf des Papiers, Kreislauf der Gefühle und Ideen, aus denen neue Gedichte komponiert und wieder kompostiert werden.


Adrienne Raphel. »Reading a Dysfunctional World. Why Merwin’s The Lice is needed now more than ever.« Poetry Foundation, Jul. 24, 2017, https://www.poetryfoundation.org/articles/143711/reading-a-dysfunctional-world.


Der geheiligte Tag

Daß der am gestrigen 16. Juni von Aficionados moderner Literatur weltweit gefeierte 113. Bloomsday beinahe zwei Tage früher stattgefunden hätte, wissen viele Ulysses-Jünger nicht. Im ersten Brief des 22jährigen James Joyce an Nora Barnacle, datiert auf den 15. Juni 1904, heißt es:

I may be blind. I looked for a long time at a head of reddish-brown hair and decided it was not yours. I went home quite dejected. I would like to make an appointment but it might not suit you. I hope you will be kind enough to make one with me – if you have not forgotten me!

Den Hintergrund liefert der Kommentar zum Brief:

Sie [Nora] kam nicht zur vereinbarten Zeit [ebenjenem 14. Juni] und ihr [Noras und James’] erster gemeinsamer Spaziergang fand am folgenden Abend statt, dem 16. Juni.

Richard Ellmann erklärt:

An diesem 16. Juni trat er [Joyce] mit seiner Umwelt in Beziehung und ließ die Einsamkeit, die er seit dem Tod seiner Mutter verspürt hatte, hinter sich zurück. Später sagte er ihr [Nora] dann: ›Du hast mich zum Mann gemacht.‹ Der 16. Juni war der geheiligte Tag, der Stephen Dedalus, den rebellischen Jüngling, von Leopold Bloom, dem nachgiebigen Gatten, trennte.

So liegt den Feierlichkeiten zum Bloomsday – der wohl erste fand am 16. Juni 1929 unter dem Namen Déjeuner Ulysse im Hôtel Léopold in Les Vaux-de-Cernay, einem kleinen Dorf hinter Versailles, statt – eine Initiation zugrunde, die jedoch vom strahlenden, mehrdeutigen, detailreichen Plot des Ulysses gänzlich in den Schatten gestellt wird. Allerdings muß man weder um die biographischen Hintergründe dieses Datums wissen, noch ist die Lektüre des Romans eine Notwendigkeit, denn:

Yes, many people read Ulysses (as Monroe apparently did), but, as our Bloomsday celebrations show, one need not penetrate the mystery in order to recognize, and partake of, its prestige,

so Jonathan Goldman. Es bleibt dennoch zu hoffen, daß der Bloomsday viele Teilnehmer zum Lesen dieses ungeheuren Liebesbeweises motivieren wird.


Richard Ellmann. James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe, Suhrkamp, 1996, p. 248; p. XII. [Faksimile des Briefes]; p. 906.

James Joyce. Briefe an Nora. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Fritz Senn. 3. Aufl., Suhrkamp, 1996, p. 135.

Jonathan Goldman. »Bloomsday Explained.« The Paris Review, Jun. 13, 2014, https://www.theparisreview.org/blog/2014/06/13/bloomsday-explained/.


SCHREI!

Matthew James Seidel bezeichnet Dostojewski als »one of the few writers who can scream in print«, eine Charakterisierung, die das ambivalente, in den Geisteswissenschaften rege diskutierte Verhältnis von Stimme und Schrift, Laut und Buchstabe, Phonem und Graphem elegant und poetisch zu glätten vermag. (»Eine Stimme ohne différance«, so Derrida, »eine Stimme ohne Schrift ist absolut lebendig und absolut tot zugleich.«)

Unweigerlich stelle ich mir Dostojewski in der umstrittenen und geradezu kultisch-geprägten Primal Therapy des US-amerikanischen Psychologen Arthur Janov vor, deren Vollzug John Lennon zu seinem ersten Solo-Album, John Lennon/Plastic Ono Band (1970), inspiriert hat. Ob die Urschrei-Therapie den russischen Schriftsteller-Psychologen zu anderen, noch tieferen Texten geführt hätte, als es etwa das Trauma der Scheinhinrichtung vom 22. Dezember 1849 oder die vierjährige Verbannung in ein sibirisches Arbeitslager getan hat?


Matthew James Seidel. »At the Firing Squad: The Radical Works of a Young Dostoevsky.« The Millions, May 3, 2017, www.themillions.com/2017/05/f…

Jacques Derrida. Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp, 2003, p. 138.


Memento Goethe! Remember love!

Clärchen sieht es ganz klar: Nur die unsichere Liebe ist die wahre Liebe.

Freudvoll

und leidvoll,

gedankenvoll sein,

Langen und bangen

in schwebender Pein,

Himmelhoch jauchzend

zum Tode betrübt,

Glücklich allein

ist die Seele die liebt.


Johann Wolfgang Goethe. »Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen.« Italien und Weimar. 1786-1790. Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. Hanser, 1990. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 246-329, hier p. 286. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 3.1.


Gesäßtorturen

Ich entdecke bei Musil das mir unbekannte Bild des »ungesattelten Igel[s]« und ziehe sogleich eine botanische Parallele zu Echinocactus grusonii, der im Volksmund ›Schwiergermutterstuhl‹ genannt wird. Weder möchte man auf jenem »nachhause reiten« noch auf diesem Platz nehmen.


Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 99. Gesamtausgabe Band 2, herausgegeben von Walter Fanta.


Abgenützte Köpfe

Von allen Prognosen, die auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technologie für das Jahr 2017 ausgesprochen worden sind – von selbstfahrenden Automobilen (welch schöne Tautologie!) über Quantencomputer bis zu privat finanzierten Fahrten zum Mond –, gefällt mir eine Vorhersage besonders gut:

Prof Sergio Canavero, an Italian neuroscientist, is also preparing to carry out the first human head transplant within a year. Valery Spiridonov, 31, a Russian who suffers from Werdnig-Hoffmann disease, a muscle-wasting condition, is to be the first patient.

Kopftransplantationen könnten 50 Jahre nach der ersten geglückten Herztransplantation ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hatte schon 1986 mit dem Gedanken gespielt, Köpfe so einfach zu wechseln wie Hosen. In einem seiner Dramolette läßt er die Figur Peymann sagen:

Schade daß man sich nicht auch ohne weiteres / einen neuen Kopf kaufen kann Bernhard / ich ginge jetzt im Augenblick gern mit Ihnen in einen Laden / und kaufte mir einen neuen Kopf / das ganze Leben laufen wir doch immer nur / mit einem abgetragenen ich will sagen mit einem abgenutzten Kopf herum / mit einem schäbig gewordenen Kopf Bernhard / alle Leute haben einen schäbigen Kopf auf / alle Köpfe die wir sehen sind abgenützte Köpfe / ich selbst habe natürlich einen völlig abgenützten Kopf / kaum haben wir einen Kopf / haben wir auch schon einen abgenützten / die Welt hat nur lauter abgenützte Köpfe / Das wäre doch eine tolle Sache Bernhard / wenn wir jetzt in ein Geschäft gehen könnten / und könnten uns neue Köpfe kaufen / und Sie trügen dann einen neuen / und ich trüge Ihren alten abgenützten in der Plastiktasche / und ich trüge auch einen neuen / und Sie trügen meinen alten Kopf in der Plastiktasche / und wir gingen mit neuen Köpfen auf dem Hals / in die Zauberflöte essen / und hätten unsere alten Köpfe in den Plastiktaschen

Schon heute hätte die Gewißheit, stets einen kühlen Kopf bei sich zu tragen, etwas ungemein Beruhigendes.


Sarah Knapton. »Science and technology predictions for 2017.« The Telegraph, Dec. 30, 2016, www.telegraph.co.uk/news/pred…

Thomas Bernhard. »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.« Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette, Suhrkamp, 1993, pp. 26-52.


Männliches No & weibliches Yes

Ich erfahre aus einer Besprechung des vierten und letzten Bandes der Beckett-Korrespondenz, daß der kürzeste in dieser Publikation abgedruckte Brief aus lediglich einem Wort bestehe: »No«, was Becketts Antwort auf eine Bitte um Erlaubnis, Eh Joe – das erste Stück, das der irische Schriftsteller fürs Fernsehen geschrieben hatte (1966) – mit männlicher statt weiblicher Sprecherstimme zu adaptieren, war.

Becketts präzise Haltung, ja sein männliches »No« ist nicht weniger mißverständlich und endgültig als das weibliche »Yes«, mit dem Molly Bloom Joyces Ulysses abschließt, ein »Yes«, über das Jacques Derrida tatsächlich eine gut fünfzigseitige Betrachtung angestellt hat! Als Joyce am »Penelope«-Kapitel schrieb, erklärte er seinem Freund Frank Budgen in einem Brief vom 16. August 1921 Mollys lexematische Körper-Topographie mit den Worten:

›Sie dreht sich wie der mächtige Erdball, langsam, sicher und gleichmäßig rund und rundherum, ihre vier Kardinalpunkte sind die weiblichen Brüste, Arsch, Uterus und Fotze, ausgedrückt durch die Wörter becausebottom (in allen Bedeutungen: Boden, Gesäß, Boden des Glases, Grund der See, Grund seines Herzens), womanyes.‹


David Wheatley. »Black diamonds of pessimism.« Rezension zu The Letters of Samuel Beckett, Volume Four: 1966-1989, herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. The Times Literary Supplement, Jan. 18, 2017, www.the-tls.co.uk/articles/…

Jacques Derrida. »Ulysses Gramophone. Hear Say Yes in Joyce.« Acts of Literature, herausgegeben von Derek Attridge, Routledge, 1992, pp. 253-309.

Frank Budgen. James Joyce und die Entstehung des ›Ulysses‹. Aus dem Englischen von Werner Morlang, Suhrkamp, 1982, p. 300.


Fontaneplag

Es ist still geworden um die Plagiatorenjäger. Die mediale Aufmerksamkeit, die ihnen noch vor wenigen Monaten mit den causae zu Guttenberg, Schavan oder von der Leyen zuteil geworden ist, scheint gänzlich den Themen Flüchtlingskrise, Populismus und Brexit gewichen zu sein. Da kommt einem der kurze Hinweis aus dem Jahre 1954 auf einen berühmten Abschreiber gerade recht:

Theodor Fontane, seines Zeichens Schriftsteller, kein Politiker, soll sich in seinem 1878 erschienenen Roman Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 großzügig aus anderen Quellen bedient haben. Arno Schmidt urteilt:

[D]er Kenner älterer Literatur stößt auf Schritt und Tritt erbittert auf Geschichten und Novellen, die er längst bei Krug von Nidda oder Fouqué vorher gelesen hat !

Ja, Fontane solle gar das gesamte Kapitel »Von Kajarnak, dem Grönländer« schamlos abgeschrieben haben, und zwar bei David Cranz’ bereits 1765 erschienener Historie von Grönland enthaltend Die Beschreibung des Landes und der Einwohner etc. insbesondere die Geschichte der dortigen Mission der Evangelischen Brüder zu Neu=Herrnhut und Lichtenfels, genauer: die Seiten 490 bis 531. Schmidt schließt sarkastisch: »[…] mit Grönländern läßt sich ein Berliner scheinbar besser nicht ein !«

Man möchte ergänzen: Die heutige, mit akademischen Meriten dekorierte Prominenz möge den Ehrgeiz und die Mittel der Plagiatorenjäger nicht unterschätzen!


Arno Schmidt. »Fontane und der Eskimo.« Essays und Aufsätze 1, herausgegeben von der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, 1995, pp. 156-9. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches, Studienausgabe Bd. 3.


Dichtung und Mammon

Nachdem im Dezember 1909 – beinahe 78 Jahre nach Goethes Tod – das Manuskript von Wilhelm Meisters theatralische Sendung in Zürich aufgetaucht war, entwickelte sich ein spannender Publikationskampf zwischen den Verlagen, den schließlich Goethes Hausverlag Cotta für sich entscheiden konnte. Der Germanist Philip Ajouri schreibt:

Der Wert des Originals, das nur eine Abschrift war, ging also für die Rechteinhaber und die Besitzer der Handschrift in die Zehntausende. Das ist besonders bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Jahr 1912 nur ein gutes Prozent der Bevölkerung über 6.000 Mark im Jahr verdiente.

Blickt man auf das Jahreseinkommen der gegenwärtigen Spitzenverdiener, so stellt man fest, daß das obere Prozent der deutschen Steuerzahler mehr als 150.000 Euro verdient. Ich überlasse es dem Leser, den Wert der Goethe-Abschrift auf heutiges Niveau umzurechnen.


Philip Ajouri. »Der Erstdruck von Goethes Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Ökonomisches und symbolisches Kapital in einem Verlegerwettstreit um 1900.« Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Band LX 2016, pp. 383-98.

Patrick Bernau. »Deutschlands Spitzenverdiener schwächeln.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Jan. 2016, www.faz.net/aktuell/w…


Romandosis

Der Begriff »Bibliotherapie« wurde vor 100 Jahren geprägt und läßt an die Kafkasche Axt erinnern, die das gefrorene Meer in uns aufspaltet. Allerdings darf man – auch aus bibliotherapeutischer Sicht – nicht vergessen, daß Bücher auch den gegenteiligen Effekt haben sollten: die aufgewühlte See zu beruhigen, uns in Eisberge zu verwandeln.


James McWilliams. »Books Should Send Us Into Therapy: On The Paradox of Bibliotherapy.« The Millions, Nov. 2, 2016, www.themillions.com/2016/11/b…

Franz Kafka. »An Oskar Pollak, 27. Januar 1904.« Briefe 1902-1924, Fischer Taschenbuch, 1975, pp. 27-8. Gesammelte Werke in acht Bänden, herausgegeben von Max Brod.


Walden revisited

Ich lese in einer Rezension zweier Neuerscheinungen zum Thema medialer, genauer: digitaler Ablenkung eine Passage, die mir das Schmunzeln im Gesicht gefrieren läßt:

Picture Thoreau now, on his obligation-shedding saunter through the Massachusetts woods. There are unanswered emails from the morning’s business a twitchy finger away. Facebook notifications fall upon him like leaves. The babbling brook is not only lovely, but demands to be shared via Instagram, once the correct filter (›Walden,‹ natch) has been applied. Perhaps a quick glance at the Health app to track his steps, or a browse of the TripAdvisor reviews of Walden Pond (›serene and peaceful‹). There may be Pokémon Go baubles to collect—the app may have even compelled his walk in the first place.


Tom Vanderbilt. »The Perils of Peak Attention.« Rezension zu The Attention Merchants, von Tim Wu sowie Wasting Time on the Internet, von Kenneth Goldsmith. New Republic, Oct. 17, 2016, newrepublic.com/article/1…


In Menschenleder

Ich entnehme einem Text in Lapham’s Quarterly, daß anthropodermische Bücher im 19. Jahrhundert keine Seltenheit gewesen seien. Das am schwierigsten aufzutreibende und in Menschenhaut gebundene Buch – falls es denn wirklich existiere – sei Marquis de Sades Justine et Juliette – »bound in a woman’s skin or French erotica with a visible human nipple on the cover«.

Nie waren abstrakte Schrift und konkreter Körper enger miteinander verbunden, nie waren fiktiver Text und physisches Gewebe deutlicher aneinander gebunden!


Megan Rosenbloom. »A Book by Its Cover: The strange history of books bound in human skin.« Lapham’s Quarterly, Oct. 19, 2016, laphamsquarterly.org/roundtabl…


Modus scribendi

Finde in einer Rezension in der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext die sehr harschen Worte:

Die germanistische Sucht nach sogenanntem Realismus hat den Irrealis kurzweg weggeschluckt und unverdaut dann ausgeschissen.

In der Möglichkeit des grammatischen Exkrements findet sich die Tatsache einer fruchtbaren Sprachhygiene.


Alban Nikolai Herbst. »Gehirn und Herz liegen Wand an Wand.« Rezension zu Der König von Europa, von Jan Kjærstad. Volltext, Nr. 3/2016, pp. 60-1.


Arbeit am Mythos

Die Diskussion um Biotechnologie und Künstliche Intelligenz erweist sich mit Blick auf die alten Griechen als Schnee von gestern:

Medea’s ram and lamb are the ancestors of Dolly, the first genetically engineered sheep, which emerged from a cloning experiment in 1997.

Der Kampf gegen Sterblichkeit, Verfall und Alter verlagert sich vom Epos zum Ethos.

Adrienne Mayor. »Bio-techne.« Aeon, May 16, 2016, aeon.co/essays/re…


Lektürezeit

Der investigative Journalist Luke Harding schätzt, daß ein einzelner Leser gut 27 Jahre für die Bewältigung der sogenannten Panama Papers benötigen würde – das größte Epos moderner Kleptokratie, das die Welt je gesehen hat!


Alan Rusbridger. »Panama: The Hidden Trillions« The New York Review of Books, Oct. 27, 2016, vol. LXIII, no. 16, pp. 33-5.


»And I’m just like that bird«

Sowohl Edo Reents als auch Heinrich Detering stellen in der heutigen F.A.Z. die Oralität des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan als ein wichtiges Charakteristikum seines Werkes heraus. So findet man im Text des ersten die Passage:

In gewisser Weise setzt sie [das Nobelpreiskomitee?] die Literatur, die in ihren Anfängen und für lange Zeit ja mündlich war, nun wieder in ihr Recht, indem sie jemanden prämiert, der kaum Bücher vorzulegen hat, der lieber zu seiner lyra singt, also lautlich in Erscheinung tritt.

In Deterings Artikel heißt es:

Es ist die Sehnsucht, aus einer avancierten und hochdifferenzierten Schriftkultur heraus einen neuen Anschluss zu finden an die Ursprünge einer Poesie, in der Wort und Klang, Kunstwerk und Aufführung noch eine ungeschiedene Einheit gewesen waren.

So ist diese Auszeichnung weniger eine progressive oder politische Entscheidung, sondern vielmehr eine Erinnerung an die Wiege der Literatur in der Flüchtigkeit und Eindringlichkeit der Stimme, back to the roots quasi. Paradoxerweise ist Dylan verstummt; bis dato gibt es keinerlei Reaktion seinerseits auf den Nobelpreis. Und gerade deshalb möchte ich, an Mörike angelehnt, den Reents durch den Titel seines Textes eingeführt hat, schließen: ›Dylan, ja du bist’s! / Dich haben wir vernommen!‹


Edo Reents. »Er ist’s!« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.

Heinrich Detering. »Des alten Knaben Wunderhorn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.


Schwarze Briefe und diamantene Himmel

In der Zeit lese ich ein paar dort vorabgedruckte Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz. »Sensationell neu ist daran«, so heißt es im einführenden Text, »die ungeschminkte Selbstauskunft über die politische Gesinnung.« In der Tat positioniert sich Heidegger in seinen Briefen als leidenschaftlicher Hitler-Bewunderer und Antisemit. Da kommt die Mitteilung der Schwedischen Akademie in Stockholm, die mich während der Lektüre erreicht, wie gerufen: Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den (jüdischen) Musiker Bob Dylan.


Alexander Cammann und Adam Soboczynski. »Der Fall Heidegger.« Die Zeit, 13. Okt. 2016, p. 45.