Semantik
PPA, Teil 2
In den Sieben-Uhr-Nachrichten des Rundfunksenders WDR 3 hörte ich an diesem sonnigen Sonntagmorgen Außergewöhnliches, oder besser gesagt: Außerordentliches:
In Köln beginnt um 11 Uhr die große Parade zum ›Christopher Street Day‹. Rund 60.000 Teilnehmende haben sich für den CSD angemeldet. Das sind ungefähr sechsmal mehr als beim Rosenmontagszug.
Ich fragte mich, wie das möglich sein kann: Wie kann es bereits 60.000 Teilnehmende geben, wenn die Veranstaltung noch gar nicht begonnen hat? Handelt es sich bei diesen Teilnehmenden nicht bis 11 Uhr vielmehr um 60.000 Angemeldete – oder mit zeitgeistig präziser Verrenkung: um ›Angemeldetseiende‹?
Natürlich eignen sich Partizipialsubstantive als Signal für ›Gendersensibilität‹ im medialen Soziolekt besonders gut vor dem Hintergrund einer solchen Großveranstaltung, denn: »Der diesjährige ›Cologne Pride‹«, so WDR aktuell weiter, »fordert uneingeschränkte gesellschaftliche Anerkennung für queere Menschen«.
Das ist löblich, begrüßenswert und wichtig. Anerkennung für grammatische und semantische Funktionen wird indes weniger prominent zelebriert: Es gibt keine Teilnehmenden einer noch nicht stattfindenden Veranstaltung, ganz gleich welche sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität sie besitzen mögen. Die Teilnehmenden partizipieren nicht, und das klingt doch recht diskriminierend und ausgrenzend.
Pathologie des Begriffs
Damian Thompson vertritt in seinem mit vielen Beispielen gespickten Artikel über den Alkoholkonsum großer Komponisten die Ansicht, daß man den Begriff alcoholism nicht auf historische Personen anwenden könne, da er einerseits erst 1849 geprägt, andererseits nicht hinreichend definiert worden sei. Diese beinahe radikalkonstruktivistische Sicht mag bei der sicherlich dürftigen und teils auf Anekdoten beruhenden Quellenlage durchaus nachvollziehbar sein. Von Bach etwa sei nur bekannt, daß dieser im Jahre 1713 während einer zweiwöchigen Reise nach Halle eine Bierrechnung über acht Gallonen (plus jede Menge Brandy) hätte begleichen müssen; daraus Rückschlüsse auf Alkoholismus zu ziehen, wäre wahrlich absurd! Wer weiß, wie sich die Semantik entwickeln wird? Ob zukünftige Forscher Ernest Hemingway, Dylan Thomas oder Charles Bukowksi noch als Alkoholiker bezeichnen werden?
Damian Thompson. »A surprising number of great composers were fond of the bottle – but can you hear it?« The Spectator, Dec., 10, 2016, http://www.spectator.co.uk/2016/12/a-surprising-number-of-great-composers-were-fond-of-the-bottle-but-can-you-hear-it/.
Empfohlene Variante
Soeben wurde ich in meiner vor einigen Jahren vollzogenen Rückkehr zur sogenannten ›alten Rechtschreibung‹ bestärkt. In Sherwood Andersons Erzählungsreigen Winesburg, Ohio (Frankfurt a. M.: Schöffling & Co., 2012) las ich folgenden Satz: »Vor dem Käfig stehen bleibende Kinder sind fasziniert, Männer wenden sich angewidert ab, und Frauen verweilen kurz und versuchen sich vielleicht zu entsinnen, welcher ihrer männlichen Bekannten wohl eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Viech hat.« (125) Der Übersetzer, Mirko Bonné, hätte sich besser nach der empfohlenen Variante »stehenbleiben« (also der alten Rechtschreibung dieses Verbs!) richten sollen, denn dadurch wäre ein Stocken und Zögern und Nachdenken beim Lesen verhindert worden: Da sind also bleibende Kinder, die vor dem Käfig stehen und fasziniert sind? Nein, da stehen bleibende Kinder! Nein, die Kinder sind vor dem Käfig ›stehengeblieben‹ und sind fasziniert! Mich fasziniert diese Getrenntschreibung garnicht, Pardon: gar nicht.
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Fragmentpüffe
Als ich kürzlich in Nietzsches Nachgelassene Fragmente 1882-1884 las, stieß ich auf folgenden Satz: »So ist Verstehen ursprünglich eine Leidempfindung und Anerkennen einer fremden Macht. Schnell, leicht verstehen wird aber sehr rathsam (um möglichst wenig Püffe zu bekommen)«.
Püffe? Natürlich dachte ich sofort an Knüffe, an kleine Hiebe in die Seite. Aber Püffe? Eine Internet-Recherche konnte glücklicherweise viel Licht ins Dunkel bringen:
Offensichtlich kann zunächst zwischen zwei »Haupt-Püffen« unterschieden werden: dem »Knuff-Puff« (also dem Puff im engeren bzw. im oben schon vermuteten Sinne) und dem »Puff-Puff«, also dem klassischen und in dieser Bedeutung oftmals pejorativ verwendeten »Bordell-Puff«. Beim ersten handelt es sich um einen leichten, harmlosen Schlag; letzterer wird als »Gebäude, in dem (meist) Frauen sexuelle Dienstleistungen anbieten« verstanden. Dabei ist die unterschiedliche Bildung des Plurals zu beachten: der Knuff-Puff wird entweder mit einfacher e-Endung markiert (»Puffe«) oder aber – wie Nietzsche dies tut – per Umlaut gebildet: »Püffe«. Der Bordell-Puff-Plural lautet hingegen »Puffs«. Interessanterweise gehen beide Puffe/Püffe/Puffs auf Onomatopoesie zurück: der Knuff-Puff leitet sich »aus dem Geräusch, welches ein Stoß verursacht« her, der Bordell-Puff »stammt vermutlich vom Geräusch des Würfelfallens.« Würfelfallen? Ja, denn hier tritt ein dritter Puff zutage: »ein Brettspiel, welches heute unter den Namen Tricktrack bekannt ist, aus dem sich Backgammon entwickelte«! (Dieser Puff besitzt übrigens keinen Plural.) Nun zurück zum Bordell-Puff: »Aus Wendungen wie ›mit einer Dame Puff spielen‹ oder ›zum Puff(spiel) gehen‹ entstand im 18. Jahrhundert die Bezeichnung für das Freudenhaus«.
Doch nicht genug der Püffe! Der Begriff fand zudem Einzug in die Biologie, wo er die »Anschwellung eines Abschnittes eines Chromosoms« bezeichnet (und zwar mit s-Plural). »Solche Regionen bezeichnet man als Puff, besonders große Puffs bezeichnet man als Balbiani-Ring, nach ihrem Entdecker Édouard-Gérard Balbiani (1823-1899).« Die wenigsten wissen wahrscheinlich, daß der »Nucleolus […] strukturell einem besonders großen Puff« entspricht, der zugleich auch ein »spezieller Puff« ist. Letztlich findet man in fast jedem Haushalt einen Puff, nämlich einen sog. »Wäschepuff«, was ein »niedriger beinloser Hocker, der verschmutzte Wäsche aufnehmen kann«, ist.
Nietzsches Fragmente erweisen sich so als »Wörterpuffs« der Etymologie, als »Gedankenpüffe« philosophischen Nachdenkens! Und wer weiß welch mannigfaltige Verbalentdeckungen man machen kann, würde man »Puff« auch als Affix in Betracht ziehen, wie es beispielsweise in »Auspuff« realisiert ist.