Zeitüberfluß

Ein besonders humorvolles Beispiel, in einer Situation, in der mehr Zeit zur Verfügung steht, als gedacht, mit einem Mehr oder Zuviel an Zeit umzugehen, gibt der vorgestern im Alter von 61 Jahren an Leukämie verstorbene kanadische Stand-Up-Comedian Norm Macdonald. Er war berühmt dafür, mäandernde und verwirrende Geschichten mit teils abstrusen, kitschigen oder auch bitterbösen Pointen zu erzählen. Einen solch labyrinthartigen Witz über eine Motte in der Praxis eines Podologen breitete er im August 2009 in der Tonight Show mit Conan O’Brien aus.

Bei einer Vorstellung seines Buches Based on a True Story: Not a Memoir im September 2016 verriet Macdonald, wie es zu diesem ausufernd-kafkaesken Witz gekommen sei: Als Gast bei Conan O’Brien sei Macdonald von der Tatsache überrascht worden, daß ein weiteres Segment mit ihm in der Show nach einer Werbeunterbrechung vorgesehen wäre, er jedoch dafür kein Material mehr gehabt habe. Da habe er sich an einen Motten-Witz erinnert, den ihm sein ehemaliger Saturday Night Live-Kollege Colin Quinn erzählt habe. Er habe O’Brien in der Pause gefragt, wie lang das Segment nach der Werbung sein würde, hoffend, es wäre nicht länger als zwanzig Sekunden, denn länger würde er für den Motten-Witz nicht brauchen. O’Brien habe geantwortet: »Ungefähr sieben Minuten.« Also habe er den Witz ein wenig aufgebläht.

So wurde der Überfluß an Zeit mit einem Überfluß an Worten kompensiert und ausgefüllt.


Martha My Dear

Am heutigen 5. Juni wird die große Klaviervirtuosin Martha Argerich achtzig Jahre alt. Joachim Kaiser (1928-2017) hat in seinem erstmals 1965 erschienenen »Klavier-Michelin« Große Pianisten in unserer Zeit über die damals noch junge Jubilarin geurteilt:

Wenn es Martha Argerich gelingt, ihrem technischen Temperament mit äußerstem Engagement und beherrschtester Anstrengung Ton für Ton, Takt für Takt einen gestaltenden Willen entgegenzusetzen, wenn sie Unruhe und motorische Monotonie beherrschen, in »Kunst« umsetzen kann, dann überwältigt sie. Martha Argerich verfügt nicht nur über ein absolutes Gehör, das sie auch vertrackteste Dissonanzen mühelos bezeichnen läßt, sie hat nicht nur ein immenses Gedächtnis, so daß sie sich kaum Fingersätze zu notieren braucht, nicht nur, wie ihre Freunde versichern, eine erstaunliche parodistische Begabung, die es ihr ermöglicht, ein Stück im Stil beliebig vieler großer Pianisten zu interpretieren, sondern sie kann sich in kurzer Zeit Werke ganz zu eigen machen, die so verschieden sind wie eine Beethoven-Sonate und ein Ravel.

Kaisers Nachfolger bei der Süddeutschen Zeitung, der Musikkritiker Helmut Mauró, beschreibt Martha Argerich in seiner Würdigung mit den Worten:

Wie bei allen herausragenden Musikern erreicht sie eine Intensität, bei der sich die Ordnung der Klänge in etwas begriffslos Sprechendes verwandelt, ohne seine klangliche Sinnlichkeit zu verlieren. Bei Argerich kommt aber noch etwas hinzu: ein charmanter Furor, der auch jene Zuhörer mitreißt, die das Konzert mit geschürzten Lippen und gemessener Emphase verfolgen. Argerich bringt auch Lateinlehrer in Wallung.

Der US-amerikanische Musikproduzent Rick Beato, dessen populäre Serie »What Makes This Song Great?« ich sehr schätze, würdigt die Jahrhundertpianistin Martha Argerich in seiner ganz eigenen, leidenschaftlichen Art und Weise, die sich auch und gerade durch viele Beispiele aus der langen Karriere der genialen Künstlerin auszeichnet. Sehens- und hörenswert!

Martha Argerich: 80 Year Old SUPER VIRTUOSO!! How Is This Even Possible?


Joachim Kaiser. Große Pianisten in unserer Zeit. Mit zahlreichen Notenbeispielen. Erweiterte Taschenbuchausgabe. 5. Aufl., Piper, 2004, p. 237.

Helmut Mauró. »Charmanter Furor.« Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/martha-argerich-80-geburtstag-weltpianistin-klassik-kammermusik-1.5312338.


Pu’tliskiej

Daß Übersetzungen nicht nur mit Vorsicht zu genießen, sondern daß bereits die Auswahl ›passender‹ Übersetzer mit höchster Sensibilität vonstatten gehen muß, zeigte jüngst der Trubel um die Übertragung von Amanda Gormans Gedichts »The Hill We Climb«. Nun machte die Plattform Open Culture auf einen Song aufmerksam, der bereits vor zwei Jahren veröffentlicht worden ist und seitdem viel Aufmerksamkeit erfährt. Es handelt sich dabei um eine ins Mi’kmaq übersetzte Version des Beatles-Songs »Blackbird«, interpretiert von der damals sechzehnjährigen Emma Stevens, deren Muttersprache ebenjene Algonkin-Sprache ist, die heute noch von etwa 11.000 Stammesangehörigen im östlichen Kanada gesprochen wird.

Emma Stevens - Blackbird by The Beatles sung in Mi’kmaq

»Die Highschool-Schülerin aus Nova Scotia, Kanada«, heißt es in einem Beitrag von WBUR, »hatte die Hilfe von [ihrer Lehrerin] Katani Julian, die sich mit der Wiederbelebung von Sprachen beschäftigt. Sie ist Teil einer gemeinsamen Anstrengung, das Bewußtsein für die indigene Sprache und Kultur zu verbreiten.« CBC Kids News sagte Julian, »daß Textstellen wie ›nimm diese gebrochenen Flügel und lerne zu fliegen‹ sie als indigene Person in Kanada ansprachen.«

Dieses wundervolle und eindrückliche Beispiel zeigt: Man muß weder männlich noch weiß noch aus Liverpool sein, um Lyrizität transponieren zu können, geschweige denn zu dürfen.

Der Mi’kmaq-Songtext ist dem YouTube-Video beigefügt:

Pu’tliskiej wapinintoq
Kina’masi telayja’timk tel pitawsin eskimatimu’sipnek nike’ mnja’sin

Pu’tliskiej wapinintoq
Ewlapin nike’ nmiteke tel pkitawsin eskimatimu’sipnek nike’ seya’sin

Pu’tliskiej…layja’si ta’n wasatek poqnitpa’qiktuk

Pu’tliskiej…layja’si ta’n wasatek poqnitpa’qiktuk

Pu’tliskiej wapinintoq Kina’masi telayja’timk tel pitawsin

eskimatimu’sipnek nike’ mnja’sin eskimatimu’sipnek nike’ mnja’sin eskimatimu’sipnek nike’ mnja’sin


Boo-dull-ees-kee-edge wobbin-in-toq Kee-na-ma-see dell-I-jaw-dimk dell-bit-ow-sin ess-gum-mud-dum-oo-sup-neg nike’ mn-jaw-sin

Boo-dull-ees-kee-edge wobbin-in-toq ew-la-bin nike’ num-mid-deh-geh dell-bit-ow-sin ess-gum-mud-dum-oo-sup-neg say-ya-sin

Boo-dull-ees-kee-edge, lie-jaw-see don wassa-deg poq-nit-ba’q-ik-tuk

Boo-dull-ees-kee-edge, lie-jaw-see don wassa-deg poq-nit-ba’q-ik-tuk

Boo-dull-ees-kee-edge wobbin-in-toq Kee-na-ma-see dell-I-jaw-dimk dell-bit-ow-sin

ess-gum-mud-dum-oo-sup-neg nike’ mn-jaw-sin ess-gum-mud-dum-oo-sup-neg nike’ mn-jaw-sin ess-gum-mud-dum-oo-sup-neg nike’ mn-jaw-sin


The Lyrics: 1956 to the Present

Paul McCartney - The Lyrics (Coming 2nd November)

Für rund € 80 bekommt man schon bald die erste Autobiographie Paul McCartneys, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen vom 1951 geborenen nordirischen Dichter Paul Muldoon. Anhand von 154 ausgewählten Songs, die über einen Zeitraum von 65 Jahren entstanden sind, rekonstruiert der Ex-Beatle sein Leben. Ergänzt werden sie von Entwürfen, Briefen und Photos aus McCartneys Privatarchiv. Ob die gewählte alphabetische Anordnung überzeugen wird oder ob eine chronologische Gliederung die Entwicklung des Musikers nicht hätte besser präsentieren können, wird sich spätestens im November zeigen.


Paul McCartney. The Lyrics: 1956 to the Present. Edited and Introduced by Paul Muldoon. Penguin, 2021, https://uk.bookshop.org/books/untitled-volumes-1-2/9780241519332.


Die Tricks der Demagogen

Zufällig stoße ich bei YouTube auf den Teil eines Interviews mit dem Sozialphilosophen Max Horkheimer (1895-1973), in welchem dieser die folgenden demagogischen Charakteristika aufzählt:

  • erheblicher Superlativ-Gebrauch;
  • Einteilung in »die Guten« (das Wir) und »die Schlechten« (die Anderen);
  • Fokussierung auf ein absolutes Ziel, das absolut gut ist;
  • völliger Ausschluß des Zweifels;
  • Verbrüderung mit Zuhörern (»Ich bin einer von Euch«);
  • Überzeugung, daß gegen »uns« eine Verschwörung im Gange sei;
  • Wiederholung dieser ›Tricks‹.

Es fällt nicht sonderlich schwer, hinter jeden dieser Kunstgriffe einen Haken zu setzen, wenn man etwa an die großen zeitgenössischen Volksverführer Donald Trump, Jair Bolsonaro, Viktor Orbán oder Recep Tayyip Erdoğan denkt. Horkheimer betont, daß es eine »unendlich wichtige Sache« sei, die Tricks der Demagogen in Schule und Universität zu lehren und somit sichtbar zu machen, »damit die Menschen gegen Demagogie weniger anfällig werden.«


Philosophy Overdose. »Adorno & Horkheimer Clips.« YouTube, 29.08.2019, [www.youtube.com/watch, 6:00-8:01.



Uplifting!

Am heutigen 30. Oktober erscheint das inzwischen 31. Studioalbum des sechsundsechzigjährigen britischen Musikers Declan Patrick MacManus, besser bekannt als Elvis Costello. Es trägt den Titel Hey Clockface, und in dessen Titelsong »Hey Clockface / How Can You Face Me?« unternimmt Costello inhaltlich wie musikalisch eine Zeitreise:

Hey Clockface
Now I don’t feel a thing
You stole away the heart in me
And then removed my spring
The winding mechanisms shot
The movement is unwound
Don’t tick or tock or dare to make a sound

Für Stephen Colberts Late Show führte Costello diesen Song kongenial mit Jon Batiste auf, dem Bandleader und musikalischen Leiter der Late Show. Der talentierte Batiste, Jahrgang 1986, dessen rachmaninowgleiche Hände federleicht über die Klaviatur schweben, ist mit dem seltenen Talent gesegnet, allein schon durch Mimik und Körpersprache Musik zu vermitteln und erlebbar zu machen. Zusammen mit Costellos markanter Stimme kann diese Unplugged-Version nur mit dem schönen englischen Prädikat »uplifting« belegt werden, das im Deutschen ein wenig antiquiert als »erbaulich« oder »erhebend« daherkommt — aber was könnte Musik mehr bewirken, erst recht in Zeiten einer Pandemie?

Elvis Costello “Hey Clockface / How Can You Face Me” feat. Jon Batiste


Unter Druck

Zwei Tage nach dem 39. Jahrestag der Veröffentlichung des Queen-/David-Bowie-Klassikers »Under Pressure« reihen sich Karen O und Willie Nelson in die illustre Cover-Riege dieses Klassikers ein. Ihre ruhige, zurücknehmende und doch kraftvoll-intime Interpretation wirkt wie ein willkommenes Antidot in rauschhaft-rauhen Zeiten, in denen der Druck immer größer zu werden und von immer mehr Seiten zu kommen scheint.

Karen O & Willie Nelson - “Under Pressure” (Official Audio)


Isolierter Doppelgeburtstag

Es erscheint nur folgerichtig und symbolisch, daß Sean Lennon, der am heutigen 9. Oktober 45 Jahre alt wird, seinem Vater John, dessen 80. Geburtstag ebenfalls heute zu feiern wäre, nicht nur an selbigen, sondern auch an die ›inselartigen‹ Lebenssituationen der Menschen in der COVID-19-Pandemie erinnert, und zwar mit dem 1970 auf dem Album John Lennon/Plastic Ono Band veröffentlichten Song »Isolation«. Daß der Sohn dabei nicht nur so aussieht wie der Vater, sondern auch so klingt, ist ein berückender Nebeneffekt.

Sean Ono Lennon: ‘Isolation’ (4K) [#LENNON80]


Taschenwahrheit

Karl Popper sprach davon, daß wir bescheiden sein müßten, da niemand die Wahrheit in der Tasche habe. Machten wir uns diesen einfachen Umstand bewußt und die Bescheidenheit zunutze, wäre vielen geholfen.

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=ZO2az5Eb3H0)
PhilosophieKanal. »Karl Popper – Ein Gespräch (1974).« YouTube, 3. Jul. 2013.

Musikgeschichte

In seiner faszinierenden Historia de la Música komprimiert der spanische Künstler Pablo Morales de los Rios, Jahrgang 1979, gut 50.000 Jahre Musikgeschichte in sieben Minuten. Atemberaubend! (Mind the castratis!)

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=If_T1Q9u6FM)
Historia de la Música

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Dialektik der Aufklärung

Im letzten Jahr, am 11. Mai 2012, erfuhr ich auf einer Geburtstagsfeier in Münster Erstaunliches: Einer der Gäste kam auf mich zu, als im Hintergrund Otis Reddings im Januar 1968 postum veröffentlichter Klassiker »(Sittin’ On) The Dock of the Bay« lief. Der mir Unbekannte fragte mich, ob mir je aufgefallen sei, daß es in dem Song eine Stelle gebe, an der man hören könne, wie Otis Redding ein Bullauge putzt (im unten angefügten Video bei 0:54 und bei 1:50). Ich schaute ihn irritiert an, lächelte und rechnete diese Frage der offensichtlich schon alkoholgetrübten Wahrnehmung des Partybesuchers an. Doch er ließ nicht locker, spielte mir die Stelle wieder und wieder vor, äußerte wieder und wieder: »Da! Genau da poliert Otis das Bullauge!«, bis ich es tatsächlich hörte! Am nächsten Tag nahm ich mir den Song in ruhiger Atmosphäre erneut vor: Das Poliergeräusch entpuppte sich schnell als Möwenschreie. Ich war ein wenig enttäuscht. Doch so wie ich von Anfang an im Beatles-Song »Tomorrow Never Knows« aus dem verzerrten Lachen Paul McCartneys und den zerschnipselten Gitarren-Loops Möwen über Liverpool schweben sehe, sehe ich bei »(Sittin’ On) The Dock of the Bay« seit diesem Abend Otis Redding mit einem Putzlappen am Bullauge stehen.

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=QOsNCYFOeBs)
(Sittin’ On) The Dock of the Bay

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Namen und Nummern, Wiederholungen und Variationen. Über eine wenig bekannte B-Seite der späten Beatles

Name: The Beatles. Nummer: 1

Wenn heute von den Beatles gesprochen wird, wenn Dokumentationen gezeigt, Bücher geschrieben oder Listen mit den größten Hits aller Zeiten veröffentlicht werden, dann wird Altbekanntes, Altgehörtes, Altgesehenes wiedergekäut, ja es werden fast schon Stereotype verbreitet. Im Radio ertönen noch immer dieselben Songs (von »She Loves You« über »Yesterday« bis hin zu »Hey Jude«) und – seien wir ehrlich – für unsere Playlisten wählen auch wir immer wieder dieselben Nummer-Eins-Hits der ›besten Band aller Zeiten‹. Das Motto lautet: Wir kennen ihre Namen, wir kennen ihre Nummern, wir kennen ihre Erfolge.

Name: Past Masters. Nummer: 2

Um diese musikhistorische Endlosschleife zu durchbrechen empfiehlt es sich – von Bootlegs einmal abgesehen – zum Doppelalbum Past Masters I & II zu greifen, zwei Alben, die am 7. März 1988 veröffentlicht wurden und die Songs enthalten, die nicht auf regulären Studioalben zu finden sind, sondern vielmehr als B-Seiten, als Singles oder EPs in den sechziger Jahren auf den Markt gebracht und fast vergessen worden sind. Eine dieser Unbekannten kam am 6. März 1970 als B-Seite von »Let It Be« heraus. Ihr seltsamer Titel: »You Know My Name (Look Up The Number)«. Paul McCartney äußerte sich im Jahr 1987 Mark Lewisohn gegenüber: »People are only just discovering the b-sides of Beatles singles. They’re only just discovering things like You Know My Name (Look Up The Number) – probably my favourite Beatles track, just because it’s so insane. All the memories…« Nun, wenn McCartney den Song in die Riege seiner Favoriten einreiht, muß doch etwas dran sein an diesem ›insane track‹.

You know my name (Look up the number) via The Beatles Bible

Name: Brian Jones. Nummer: 27

Verrückt ist sicherlich auch der Entstehungszeitraum des Songs: 17. Mai 1967, 7./8. Juni 1967, 30. April 1969 und 26. November 1969 – fast drei Jahre brauchte es bis zur Veröffentlichung! In seinem letzten großen Interview, das er im September 1980 David Sheff gegeben hat und das in der Januar-Ausgabe 1981 des Playboy erschien, äußert sich John Lennon zu »You Know My Name (Look Up The Number)« wie folgt: »Das war ein unfertiges Stück, aus dem ich gemeinsam mit Paul einen Schwank [comedy record] gemacht habe. Ich wartete in seinem Haus [in der Cavendish Avenue] auf ihn und sah das Telefonbuch auf dem Klavier liegen mit den Worten ›You know the name, look up the number‹. Das war wie ein Logo und ich hab’s einfach ein bisschen verändert. Es sollte ein Song in der Art der Four Tops werden – es hat so eine Akkordfolge –, aber das wurde nichts. Dann haben wir einen Witz draus gemacht. Brian Jones spielt darauf Saxofon.« Jones, Gründungsmitglied der Rolling Stones, wurde von Paul McCartney zu einer Beatles-Session in die Abbey Road Studios eingeladen. Natürlich erwartete man, daß er mit einer Gitarre vorbeikommen würde, doch zum Erstaunen aller erschien er mit einem Saxophon! Jones erlebte die Veröffentlichung des Songs allerdings nicht mehr: Er starb gut zwei Jahre nach seinem Beatles-Gastbeitrag am 3. Juli 1969 im Alter von 27 Jahren in seinem Swimmingpool in Hartfield, Sussex.

Name: Denis O’Dell. Nummer: bekannt

Namen und Nummern sind korreliert. Der Werbeslogan verheißt das problemlose Auffinden der Telefonnummer, wenn der Name bekannt ist. Nun, daß dies keine leere Versprechung ist, mußte Denis O’Dell – der im Song namentlich (vielleicht als »Denis O’Bell«?) erwähnte Filmproduzent und spätere Vorsitzende von Apple Films, der unter anderem für A Hard Day’s NightHow I Won The War und Magical Mystery Tour verantwortlich zeichnet – schmerzlich erfahren. Nachdem die Single veröffentlicht worden war, erhielt er von Beatles-Fans massenhaft Anrufe. Steve Turner verriet er 1994 in dessen Buch A Hard Day’s Write. The Stories Behind Every Beatles Song: »There were so many of them my wife started going out of her mind. Neither of us knew why this was suddenly happening. Then I happened to be in one Sunday and picked up the phone myself. It was someone on LSD calling from a candle-making factory in Philadelphia and they just kept saying, ›We know your name and now we’ve got your number‹. It was only through talking to the person that I established what it was all about. Then Ringo, who I’d worked with on the film The Magic Christian, played me the track and I realised why I’d been getting all these mysterious phone calls.«

Name: Peter Sellers, Bonzo Dog Doo-Dah Band und Monty Python. Nummer: diverse

Obwohl sich der Text des Songs nahezu mantragleich wiederholt, so ist er doch durchwegs von Variationen durchzogen: Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Gerade die Stimmenimitationen Lennons und McCartneys, die dem Hörer mehrere Sänger oder Sprecher oder Namen vorgaukeln, ist an humoristischer Qualität einzigartig im Werk der Beatles und verortet die Entstehungszeit dieses Songs eindeutig zwischen Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band und Magical Mystery Tour. Von Varieté-, Ska-, Swing-, Samba- und Jazz-Elementen bis hin zur zwielichtig-dandyhaften Nachtclub-Atmosphäre bietet »You Know My Name (Look Up The Number)« ein Potpourri unterschiedlichster Stile, Farben und Tempi. Kennt man die Geschichte der Beatles, kann man in diesem skurrilen Schmelztiegel eine Mischung aus »The Goon Show« (Ringo Starr gab Peter Sellers 1969 ein Tape mit Mono-Versionen einiger Songs des White Album, das später als The Peter Sellers Tape in Bootleg-Kreisen kursierte und hoch gehandelt wurde), der Bonzo Dog Doo-Dah Band (die einen kurzen Auftritt in Magical Mystery Tour hat) und Monty Python erkennen (George Harrison vertrat die Ansicht, daß der Geist der Beatles in Monty Python übergegangen sei).

Name: »Buch der Psalmen«. Nummer: 91,14-5

Ob nun dem Werbetexter des inspirierenden Telefonbuchs diese Bibelstelle bekannt war, ist fraglich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Fakt ist, daß sich im »Buch der Psalmen« folgende Stelle findet: »Because he hath set his loue vpon me, therefore will I deliuer him: I wil set him on high, because hee hath knowen my Name. He shall call vpon me, and I will answere him: I will bee with him in trouble, I will deliuer him, and honour him.« (Übers. King James Bible, 1611) Luther übersetzt diese Passage mit den Worten: »Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen; er kennet meinen Namen, darum will ich ihn schützen; er rufet mich an, so will ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen und zu Ehren machen.« Er kennt also meinen Namen, doch benötigt Er keine Nummer, um mich anzurufen; der Name ist schon Nummer. (Das erinnert mich übrigens an einen Artikel Timo Fraschs, der am 27. Januar 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Titel »Was wurde aus Brüderles Kuh?« veröffentlicht wurde. Darin heißt es: »Seine [Olaf Hollings] Kühe tragen keine Namen, sondern Nummern. ›Was nützen Namen, wenn ich die Kühe kaum mehr kenne‹, sagt Holling. Er müsse die Nummern ja nur in den Computer eingeben – ›und zack, habe ich alle Informationen.‹« Hier werden Namen überflüssig; Nummern sind die Namen, was einen düsteren Teil deutscher Geschichte emporsteigen läßt.)

Name: »You Know My Name (Look Up The Number)«. Nummer: 13

Die Past Masters-Version ist eine von Lennon gekürzte Fassung (der den Song eigentlich für seine Plastic Ono Band verwenden wollte, und zwar als A-Seite des bei den Arbeiten am White Album entstandenen »What’s The New Mary Jane«). Ein Blick in die zweite Disc der zweiten Anthology (1996) hält als Track 13 eine längere Version bereit. Dem Booklet kann entnommen werden, daß die »B-side lasted a little over four minutes and (because John created the master by editing an existing mono mix tape) the sound was monoaural. Here it is issued in stereo and, at almoust six minutes, in extended form for the first time, including never-before-heard sections cut out by John and newly restored.« Ob dieser Song nun größter Mist oder hohe Avantgarde-Kunst ist, sei dahingestellt. Fakt ist: Er macht Spaß! Machen Sie sich selbst ein Bild davon:

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=noGjJyEDm5s)

»Tom, get your plane right on time«

Paul Simon schrieb »The Only Living Boy in New York« in den Jahren 1968/69. Mit »Tom« spricht er Art Garfunkel an, der zu dieser Zeit nach Mexiko flog, um für den Mike-Nichols-Film Catch-22 vor der Kamera zu stehen; Simon fühlte sich in New York zurückgelassen. Bevor das Duo als Simon & Garfunkel weltberühmt wurde, nannte es sich – noch zu Highschool-Zeiten um 1957 herum – Tom & Jerry. Das Video zeigt Paul Simon kurz vor seinem 70. Geburtstag beim iTunes Festival 2011 im Roundhouse in Camden Town, London.

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=AVk3SQ8kUUA)
»Hey, I’ve got nothing to do today but smile!«

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Dialekte

Kann man sich Johann Sebastian Bach mit obersächsischem Dialekt vorstellen? Oder Goethe, der – wie ich kürzlich im ersten Band der großen Biographie Nicholas Boyles las – das robuste Frankfurterisch sprach? Boyle schreibt: »[I]m Faust reimte er [Goethe] noch 1829 ›Tage‹ auf ›Sprache‹, so wie er 1774/75 ›genug‹ auf ›Besuch‹ gereimt hatte, und der Vers ›Das wäre mir die rechte Höhe‹, 1831 entstanden, ist waschechtes Frankfurterisch« (60). Der Dialekt ist nicht mit dem Akzent gleichzusetzen. Ein sehr schönes Beispiel gibt der junge Arnold Schwarzenegger, der sich mit starkem steirischem Akzent durch den Anfang 1970 erschienenen Fantasy-Film Hercules in New York dilettiert. Köstlich!

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=AhmCgAV2aSA)

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


»What will I think of me the day that I die?«

Passend zur Wahl der Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin, die Spiegel Online als »dritte große Zäsur in der Geschichte der Grünen« bezeichnet, erinnere ich an einen Song, den man als stille Mahnung an die Grundwerte der Grünen hören kann. 

Als ich »Saltwater« erstmals vor etwa 20 Jahren auf MTV gehört und gesehen habe, wußte ich nichts, nichts von Julian Lennon, nichts von seinem Vater oder den Beatles, nichts von dem, was in dem Song thematisiert wird (was auch an meinen zur damaligen Zeit noch als rudimentär zu bezeichnenden Englischkenntnissen lag). Aber mir gefiel die Melodie und das Video faszinierte mich mit seinen visual effects (noch kannte ich den Yosemite Park nicht).

Was mich heute, 2012, verblüfft (oder schockiert), ist die Tatsache, daß sich nichts oder nur wenig an der Situation geändert hat. Noch immer leben wir auf einem kleinen, einem unbedeutenden Felsen, der um eine goldene Sonne kreist (woran sich selbstredend auch in den nächsten 20 Jahren nicht viel ändern dürfte), noch immer erforschen wir unbekannte Winkel unseres Planeten (menschliche Neugier), citius, altius, fortius (der olympische Gedanke, der Sportsphäre enthoben), und noch immer schenken wir den warnenden Stimmen in diesem grenzen- und rücksichtslosen »Streben nach Glück« (was heutzutage – ein pervertierter Epikureismus! – mit dem Streben nach Ruhm, Macht und Geld gleichzusetzen ist) kein Gehör.

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=ql1EnjVYrZM)

»Saltwater«, das im August 1991 auf dem Album Help Yourself erschienen ist, ist Julian Lennons »Imagine«.

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


4514

Man kann dem US-Fotografen Noah Kalina eine gewisse narzißtische Selbstdisziplin nicht absprechen. In seinem schon 2006 veröffentlichten Video Everyday zeigt er das eigene Altern in Zeitraffer. Nun hat er sein Projekt aktualisiert: Vom 11. Januar 2000 (Kalina war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt) bis zum 30. Juni 2012 (kurz vor seinem 32. Geburtstag) porträtierte sich der Photograph jeden Tag selbst und fügte diese 4514 Einzelaufnahmen zu einem gut achtminütigen Video zusammen. Ist hier alles eitel?

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=iPPzXlMdi7o)
12,5 Jahre in 4514 Bildern

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Instrumental at its best!

Ich habe Tony R. Clef schon vor einigen Jahren auf YouTube entdeckt und war auf Anhieb von seinen Arrangements begeistert. Trotz einer weltweiten Fan-Gemeinde ereilte den heute 53jährigen die Krönung wohl im letzten Jahr, als er den von Paul McCartney ausgerufenen Cover-Wettbewerb des Songs »Maybe I'm Amazed« gewann. Es lohnt sich sehr, sich durch Clefs Videos zu klicken. Als ein Beispiel seines Könnens folgend seine Version von David Bowies »Life on Mars?« aus dem Jahre 2007:

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=0rpfuSdo1aY)
Life on Mars? by Tony R. Clef (2007)

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Waterloo Sunset

»Everyday I look at the world from my window.« Nach der gestrigen Lesung Norbert Robers’ aus dessen Biographie Joachim Gauck – Vom Pastor zum Präsidenten gilt es nun, das Erlebte und Gehörte in einen sachlich-atmosphärischen Artikel zu kleiden. Dabei helfen – wie ich aus dem Wohnzimmer höre – die Kinks. Hier eine fantastische Live-Version von Ray Davies’ »Waterloo Sunset« aus dem Jahre 2010:

[www.youtube.com/watch](https://www.youtube.com/watch?v=alWTn1-l57k)
Ray Davies: »Waterloo Sunset« (2010), ursprünglich veröffentlicht von The Kinks auf dem Album Something Else by The Kinks (1967)

[Ursprünglich gepostet auf Google+]


Erfolgszahlen

Sibylle Lewitscharoff macht (Hans) Blumenberg populär. Wie hätte Hans Blumenberg reagiert? In »Mihi ipsi scripsi« schreibt er:

Sind 50 Leser eine ›kleine Gemeinde‹ des Autors? Sind 500 Käufer eine ›bemerkenswerte Klientel‹, die auch fürs Künftige hoffen läßt? Sind 5000 abgesetzte Exemplare genug, um von einem ›schönen Erfolg‹ zu sprechen? Oder sind erst 50 000 der Einstieg in ein ›Publikum‹, das sogar dem Verleger mehr als gleichgültig zu werden beginnt? 500 000 in 25 Sprachen wären zweifelsfrei ein ›Welterfolg‹? Ich lasse dahingestellt, wo präziser die Schwellenwerte liegen mögen – irgendwo liegen sie.

Blumenberg sah sich – wie Nietzsche, von dem sein Text handelt – mit eher mäßigen Verkaufszahlen konfrontiert, die allenfalls einen ›schönen Erfolg‹ erkennen ließen; Lewitscharoff dürfte sich hingegen über das wachsende ›Publikum‹ freuen.

Hans Blumenberg. »Mihi ipsi scripsi.« Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Reclam, 1998, pp. 67-79, hier p. 67-8.

PaschenLiteratur. »Sibylle Lewitscharoff liest aus ›Blumenberg‹.« YouTube, 11. Nov. 2011, https://www.youtube.com/watch?v=H3RH8nxlLJk.

[Ursprünglich gepostet auf Google+]