Vorstellungen

Wenn Epiktet im fünften Abschnitt seines ΕΓΧΕΙΡΙΔΙΟΝ zu bedenken gibt:

Nicht die Dinge [πράγματα] selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen [δόγματα] von den Dingen. So ist z. B. der Tod nichts Furchtbares – sonst hätte er auch dem Sokrates furchtbar erscheinen müssen –, sondern die Vorstellung, er sei etwas Furchtbares, das ist das Furchtbare,

darf man nicht vergessen, daß diese Mahnung ebensogut auf die positiven Dinge des Lebens Anwendung finden sollte. Liebe ich beispielsweise einen Menschen, so liebe ich nur die Vorstellung, die ich von diesem Menschen habe. Und indem ich dies tue, betrüge ich nicht nur die vermeintlich Geliebte; ich beraube sie darüber hinaus ihres Menschseins.


Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Herausgegeben von Heinrich Schmidt, neubearbeitet von Karin Metzler, 11. Aufl., Kröner, 1984, p. 24[5].

Epictetus. »The Encheiridion, or Manual.« The Discourses as Reported by Arrian, the Manual, and Fragments. With an English Translation by W. A. Oldfather. Vol. II: Discourses, Books III and IV, The Manual, and Fragments, Harvard UP, 1959, pp. 479-537, hier pp. 487-9.


Da-Heim-Sein

In Peter Sloterdijks kontroverser Basler (1997) beziehungsweise Elmauer Rede (1999) Regeln für den Menschenpark findet sich die folgende, auf Heideggers sogenannten Humanismusbrief (1946/47) anspielende Passage:

Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten, daß sie nur als ›Nachbarn des Seins‹ existieren – und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in unkündbarer Hauptmiete.

In Zeiten von Wohnungsnotstand und astronomisch hohen Mietpreisen ergibt das anthropotopologische Bild Sloterdijks neuen, konkreten Sinn: Das Sein als unerreichbares Da-Heim-Sein verstanden, läßt lange Warteschlangen Da-Seins-Berechtigter vor dem geistigen Auge erscheinen; die fließbandartige Wohnungsbesichtigung ist das luxussanierte Höhlengleichnis unserer Zeit. Schon ein kurzer Blick auf die ersehnten Quadratmeter lindert die Da-Seins-Not, doch: Der Begriff ›wohnen‹, der etymologisch mit ›zufrieden sein‹, ›lieben‹ und ›schätzen‹ verbunden ist, scheint seine Griffigkeit eingebüßt zu haben. »Eine schlechte Wohnung«, so Vater Märten in Goethes Was wir bringen, »macht brave Leute verächtlich.« Dies gilt im übrigen auch für das »Haus des Seins«.


Peter Sloterdijk. Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Sonderdruck. Suhrkamp, 1999, p. 30.

Art. »wohnen.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., de Gruyter, 2011, p. 994.

Johann Wolfgang Goethe. »Was wir bringen.« Weimarer Klassik 1798-1806. Herausgegeben von Victor Lange. Hanser, 1986. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 750-83, hier p. 754. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 6.1.

Martin Heidegger. Über den Humanismus. 11. Aufl., Klostermann, 2010, p. 5.


Weniger unglücklich?

Ich lese einen Artikel im New York-Magazin über die Online- oder besser Nachrichten-Sucht im Zeitalter des nach unten gerichteten Blicks. Darin der Satz:

Has our enslavement to dopamine — to the instant hits of validation that come with a well-crafted tweet or Snapchat streak — made us happier? I suspect it has simply made us less unhappy, or rather less aware of our unhappiness, and that our phones are merely new and powerful antidepressants of a non-pharmaceutical variety.

Nicht mehr lange und die Krankenkasse bezuschußt den Smartphone-Kauf!


Andrew Sullivan. »I Used to Be a Human Being.« New York, Sep. 18, 2016, nymag.com/selectall…


Der geheiligte Tag

Daß der am gestrigen 16. Juni von Aficionados moderner Literatur weltweit gefeierte 113. Bloomsday beinahe zwei Tage früher stattgefunden hätte, wissen viele Ulysses-Jünger nicht. Im ersten Brief des 22jährigen James Joyce an Nora Barnacle, datiert auf den 15. Juni 1904, heißt es:

I may be blind. I looked for a long time at a head of reddish-brown hair and decided it was not yours. I went home quite dejected. I would like to make an appointment but it might not suit you. I hope you will be kind enough to make one with me – if you have not forgotten me!

Den Hintergrund liefert der Kommentar zum Brief:

Sie [Nora] kam nicht zur vereinbarten Zeit [ebenjenem 14. Juni] und ihr [Noras und James’] erster gemeinsamer Spaziergang fand am folgenden Abend statt, dem 16. Juni.

Richard Ellmann erklärt:

An diesem 16. Juni trat er [Joyce] mit seiner Umwelt in Beziehung und ließ die Einsamkeit, die er seit dem Tod seiner Mutter verspürt hatte, hinter sich zurück. Später sagte er ihr [Nora] dann: ›Du hast mich zum Mann gemacht.‹ Der 16. Juni war der geheiligte Tag, der Stephen Dedalus, den rebellischen Jüngling, von Leopold Bloom, dem nachgiebigen Gatten, trennte.

So liegt den Feierlichkeiten zum Bloomsday – der wohl erste fand am 16. Juni 1929 unter dem Namen Déjeuner Ulysse im Hôtel Léopold in Les Vaux-de-Cernay, einem kleinen Dorf hinter Versailles, statt – eine Initiation zugrunde, die jedoch vom strahlenden, mehrdeutigen, detailreichen Plot des Ulysses gänzlich in den Schatten gestellt wird. Allerdings muß man weder um die biographischen Hintergründe dieses Datums wissen, noch ist die Lektüre des Romans eine Notwendigkeit, denn:

Yes, many people read Ulysses (as Monroe apparently did), but, as our Bloomsday celebrations show, one need not penetrate the mystery in order to recognize, and partake of, its prestige,

so Jonathan Goldman. Es bleibt dennoch zu hoffen, daß der Bloomsday viele Teilnehmer zum Lesen dieses ungeheuren Liebesbeweises motivieren wird.


Richard Ellmann. James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe, Suhrkamp, 1996, p. 248; p. XII. [Faksimile des Briefes]; p. 906.

James Joyce. Briefe an Nora. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Fritz Senn. 3. Aufl., Suhrkamp, 1996, p. 135.

Jonathan Goldman. »Bloomsday Explained.« The Paris Review, Jun. 13, 2014, https://www.theparisreview.org/blog/2014/06/13/bloomsday-explained/.


Ins Nirvana

Einer der bekanntesten und erfolgreichsten Polizisten der Weimarer Republik, der Berliner Kriminalkommissar Ernst Gennat (1880-1939), wurde »aufgrund seiner Körperfülle der ›Buddha vom Alex‹, oder einfach nur ›Der Dicke‹ genannt.« Unter seiner Federführung wurde »auch das berühmte ›Mordauto‹ angeschafft«.

Der auf den ersten Blick verstörende, ja beinahe komisch anmutende Gegensatz von ›Buddha‹ und ›Mordauto‹ wird entschärft, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, daß der Buddha ein Mensch ist, welcher unter anderem »Einsicht in das Wesen der Tatvergeltung als Unheilszusammenhang« hat. Gennat trat somit nicht nur als korpulenter Beamter eindrucksvoll in Erscheinung, sondern auch als personifiziertes karma.


Regina Stürickow. Verbrechen in Berlin. 32 historische Kriminalfälle 1890-1960. Elsengold, 2014, p. 52.

»Buddha.« Lexikon des Buddhismus. Grundbegriffe, Traditionen, Praxis in 1200 Stichworten von A-Z, von Klaus-Josef Notz. Genehmigte Lizenzausgabe, Herder, 1998. Fourier, 2002, pp. 88-93, hier p. 88.


Kristallklarer Klangteppich

»Ich muß sagen«, so Glenn Gould im zweiten Telefongespräch, das er 1974 mit dem amerikanischen Musikpublizisten Jonathan Cott für den Rolling Stone geführt hat, »daß ich damals wie heute darüber entsetzt war, was die Beatles der Popmusik angetan haben.« –

Heute vor 50 Jahren, am 26. Mai 1967, erschien im Vereinigten Königreich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und aus Anlaß dieses runden Geburtstages wird – wie sollte es anders sein? – eine ›Deluxe Edition‹ dieses bahnbrechenden Albums veröffentlicht. Doch warum nur braucht die Welt einen Sgt.-Pepper-Stereo-Remix? Der für dieses Projekt verantwortlich zeichnende 47jährige Giles Martin, George Martins Sohn (der sich übrigens mit John Lennon den 9. Oktober als Geburtstag teilt), erklärt in einem hörenswerten Interview mit NPR:

What we do is we go back to the previous generation [the original tapes], so we’re mixing off generations of tape that they never mixed off. […] So it’s almost like a car that comes straight out of a paint shop. The tapes are glistening. What was recorded in ’67 sounds pure and crystal clear — there’s not any hiss or anything. And with this version of Sgt. Pepper that’s what we try to do — we’re trying to get you closer to the music.

Daß die ›Lackierung‹ durchaus hörbar ist, kann ich nur bestätigen; Songs wie »Lucy In The Sky With Diamonds« oder »She’s Leaving Home« heben sich deutlich von ihren bekannten Versionen ab, sie klingen frischer, prononcierter, ja geradezu erschütternd perfekt. Ob Glenn Gould, der von den Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zeit seines Lebens fasziniert war, seine Kritik zumindest abschwächen würde, könnte er diese neue Nähe zur Musik erleben, wie sie nun im 50 Jahre jungen Sgt. Pepper zum Ausdruck kommt?


Bob Boilen. »Why Remix ‘Sgt. Pepper’s’? Giles Martin, The Man Behind The Project, Explains.« NPR, May 23, 2017, http://www.npr.org/sections/allsongs/2017/05/23/528678711/why-remix-sgt-peppers-giles-martin-the-man-behind-the-project-explains.

Jonathan Cott. Nahaufnahme. Telefongespräche mit Glenn Gould. 4. Aufl., Alexander Verlag Berlin, 2007, p. 96.


SCHREI!

Matthew James Seidel bezeichnet Dostojewski als »one of the few writers who can scream in print«, eine Charakterisierung, die das ambivalente, in den Geisteswissenschaften rege diskutierte Verhältnis von Stimme und Schrift, Laut und Buchstabe, Phonem und Graphem elegant und poetisch zu glätten vermag. (»Eine Stimme ohne différance«, so Derrida, »eine Stimme ohne Schrift ist absolut lebendig und absolut tot zugleich.«)

Unweigerlich stelle ich mir Dostojewski in der umstrittenen und geradezu kultisch-geprägten Primal Therapy des US-amerikanischen Psychologen Arthur Janov vor, deren Vollzug John Lennon zu seinem ersten Solo-Album, John Lennon/Plastic Ono Band (1970), inspiriert hat. Ob die Urschrei-Therapie den russischen Schriftsteller-Psychologen zu anderen, noch tieferen Texten geführt hätte, als es etwa das Trauma der Scheinhinrichtung vom 22. Dezember 1849 oder die vierjährige Verbannung in ein sibirisches Arbeitslager getan hat?


Matthew James Seidel. »At the Firing Squad: The Radical Works of a Young Dostoevsky.« The Millions, May 3, 2017, www.themillions.com/2017/05/f…

Jacques Derrida. Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp, 2003, p. 138.


Seiner Zeit voraus

In einem Auszug aus Erica Benners Monographie Be Like the Fox. Machiavelli in His World (Norton, 2017) stoße ich auf die folgende Passage:

Several years after writing the Prince, he [Machiavelli] wrote to a close friend that for a long time I have not said what I believed, nor do I ever believe what I say. And if sometimes I do happen to tell the truth, I hide it among so many lies that it is hard to find.

Wüßte ich nicht, daß dieses Zitat gut 500 Jahre alt ist, ich würde es einem Poststrukturalisten – Foucault, Barthes oder Derrida – zuordnen.


Erica Benner. »How Machiavelli Trolled Europe’s Princes. Machiavelli’s advice for rulers was ruthless and pragmatic—and he may have intended for it to secretly destroy them.« The Daily Beast, May 6, 2017, http://www.thedailybeast.com/articles/2017/05/06/how-machiavelli-trolled-europe-s-princes.html.


Back to the roots?

Ich finde in Nietzsches Nachlaß folgende nostalgische Ausführungen:

Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist, in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras, erfunden hat, — wir werden von Tag zu Tage griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Werthschätzungen, gleichsam als gräcisirende Gespenster: aber dereinst, hoffentlich auch mit unserem Leibe!

Obschon der Philologe als ausdauernder Wanderer bekannt war, so möchte ich ihm einen modellathletischen Körper absprechen, wie man ihn etwa an der um 50-40 v. Chr. entstandenen Statue des troischen Priesters Laokoon studieren und bewundern kann (neben der ›edlen Einfalt‹ und der ›stillen Größe‹, die Winckelmann als Charakteristika herausgestellt wissen wollte).

Kam Nietzsche dem griechischen Denken auch noch so nahe: das wohldefinierte Körperideal der Alten zu adaptieren, blieb ihm ein unerfüllter Wunsch, was ihn – in Kombination mit seinem ungriechischen, ja geradezu walroßhaft anmutenden Schnauzbart – äußerlich als modernen Barbaren auswies.


Friedrich Nietzsche. Nachgelassene Fragmente 1884-1885. Neuausgabe, dtv, 1999, p. 679, NF-1885,41[4]. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 11.

Luca Giuliani. »Laokoons Autopsie.« Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XI/2, Sommer 2017, pp. 53-78.


Schwarmwissen

Daß sich Platons Sokrates seines Nichtwissens – und nicht etwa seines Nichtswissens – bewußt ist, daß er sein Wissen kritisch hinterfragt, daß er dies mit dem berühmten, verkürzten Diktum: »οἶδα οὐκ εἰδώς« ausdrückt (was mit: »Ich weiß als Nicht-Wissender« wörtlich zu übersetzen ist), zeugt von Weitsichtigkeit. Daß wir, wenn wir an unser Wissen denken, an das Wissen anderer, oder besser gesagt: an das Wissen aller denken – ein ›Schwarmwissen‹, wenn man so will –, zeichnet den Menschen wesentlich aus:

No individual knows everything it takes to build a cathedral, an atom bomb or an aircraft. What gave Homo sapiens an edge over all other animals and turned us into the masters of the planet was not our individual rationality, but our unparalleled ability to think together in large groups.

Wenn der Einzelne also wüßte, was er weiß, wüßte er, daß dieses Wissen weder der Rede noch des Sich-damit-Brüstens wert sei.


Plat. apol. 21d.

Yuval Harari. »People Have Limited Knowledge. What’s the Remedy? Nobody Knows.« Rezension zu The Knowledge Illusion. Why We Never Think Alone, von Steven Sloman und Philip Fernbach. The New York Times, Apr. 18, 2017, www.nytimes.com/2017/04/1…


Vignetten

Randall Fullers Studie über den Einfluß von Charles Darwins Evolutionstheorie auf das intellektuelle Amerika der 1860er Jahre erweist sich – folgt man der Rezension John Hays – als Füllhorn obskurer Anekdoten.

So erfahre man beispielsweise, daß der Bostoner Mediziner John Jeffries (1744-1819) »der erste Mensch war, der den Ärmelkanal per Luftballon« überquert habe, und zwar nackt! Der als ›letzter Transzendentalist‹ apostrophierte Franklin Sanborn (1831-1917) hingegen habe zweifelhafte lokale Berühmtheit (infamy) durch das »Düngen seines Gartens mit seinen eigenen Fäkalien« erlangt. Derartige Abschweifungen sind das Salz in der Suppe einer jeden (wissenschaftlichen) Monographie!


John Hay. »Darwin’s Early Adopters.« Rezension zu The Book That Changed America. How Darwin’s Theory of Evolution Ignited a Nation, von Randall Fuller. Public Books, Apr. 5, 2017, www.publicbooks.org/darwins-e…


Memento Goethe! Remember love!

Clärchen sieht es ganz klar: Nur die unsichere Liebe ist die wahre Liebe.

Freudvoll

und leidvoll,

gedankenvoll sein,

Langen und bangen

in schwebender Pein,

Himmelhoch jauchzend

zum Tode betrübt,

Glücklich allein

ist die Seele die liebt.


Johann Wolfgang Goethe. »Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen.« Italien und Weimar. 1786-1790. Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. Hanser, 1990. Genehmigte Taschenbuchausgabe. btb, 2006, pp. 246-329, hier p. 286. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 3.1.


Sinn und Wert

In seinem Anfang der 1930er Jahre entstandenen und erst im Sommer 2008 zufällig in einem unerschlossenen Teilnachlaß entdeckten Werk Elemente der Bildung mahnt der Romanist Ernst Robert Curtius, nicht nur die Frage nach Nutzen und Zweck zu stellen, sondern auch diejenige nach dem Sinn:

Als Beethoven die Neunte Symphonie schrieb, als Goethe den Faust dichtete, taten beide etwas, was sicher nutzlos und zwecklos und dennoch zweifellos wertvoll war. Wie soll man solches Tun bezeichnen? Wir nennen es sinnvoll.

Der Frage, was Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten nützen, liegt also eine tiefergehende Frage zugrunde, und zwar: »›Welchen Sinn kann dieses Wissen, dieses Ereignis, dieses Sachgebiet für mich gewinnen?‹«

Curtius’ Plädoyer für ›unnützes‹ Wissen und ›unnütze‹ Bildung hat in Abraham Flexners Essay »The Usefulness of Useless Knowledge« – zuerst in der Oktober-Ausgabe 1939 des Harper’s Magazine erschienen, jetzt, im März 2017, bei Princeton UP herausgebracht und mit einem lesenswerten Begleittext Robbert Dijkgraafs versehen – ein mit anschaulichen Beispielen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich angereichertes Pendant. Flexner, Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton, schreibt:

With the rapid accumulation of ›useless‹ or theoretic knowledge a situation has been created in which it has become increasingly possible to attack practical problems in a scientific spirit.

Wer vermag einzuschätzen, was gegenwärtige Neugier, Vorstellungskraft und deep thinking für die Zukunft bedeutet? Was heute unnütz und überflüssig erscheint, könnte sich morgen schon als sinn- und wertvoll erweisen: Der Denkkerker als Zukunftslabor.


Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg. C. H. Beck, 2017, p. 25.

Abraham Flexner. »The Usefulness of Useless Knowledge.« Harper’s, Oct. 1939, library.ias.edu/files/Use…

Robbert Dijkgraaf. »We Need More ›Useless‹ Knowledge.« The Chronicle of Higher Education, Mar. 17, 2017, www.chronicle.com/article/W…


Zulächeln

Ich stoße in Manfred Geiers Parallelbiographie auf einen Ausspruch Wittgensteins, der mit seiner poetischen Prägnanz auch in unserem Zeitalter der ›Fernliebe‹ hätte geäußert werden können:

Was ich gern hätte, wäre jemand, dem ich gelegentlich zulächeln könnte.

Während ich Bilder betrachte, in Erinnerungen schwelge oder schreibe, ertappe ich mich dabei, dem abwesenden Anderen zuzulächeln; doch es ist nicht dasselbe. Es ist ein Zulächeln, das verpufft, das sein Ziel verfehlt und im Einsamen verhallt. Dieses Zulächeln ist nur an mich gerichtet, es ist allein meine Reaktion, die ich allein mit mir teile, doch möchte ich nicht ausschließen, daß es den Fernen auch irgendwie trifft wie die Berührung eines vergessenen Traumes. Gelegentliches Zulächeln bedeutet: Ich bin noch da, es gibt mich noch, ich bin das Lächeln auf dem Weg zu dir.


Manfred Geier. Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Rowohlt, 2017, p. 341.

Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim. Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Suhrkamp, 2011.


Bakteriokratie

Daß Computer immer mehr Texte zu schreiben in der Lage sind, daß sie schon heute in beträchtlichem Umfang für Sport-, Finanz- und Wetterberichte eingesetzt werden – »[b]is 2020 will die AP 80 Prozent ihres Nachrichtenangebots automatisieren« –, daß diese Texte von von Menschen verfaßten kaum noch zu unterscheiden sind, daß sich die Qualität dieser künstlichen Texte permanent verbessert, daß diese Algorithmokratie auch in Bereiche vordringt, in denen der kreative, inspirierte, musengeküßte Mensch bisher die Krone der Schöpfung repräsentierte (etwa im epischen oder lyrischen Bereich) – all das scheint als Unausweichlichkeit einer technologischen Entwicklung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen und unter dem Schlagwort ›Selbstentmündigung‹ ad acta gelegt zu werden.

Eine andere Herrschaftsform, die wesentlich älter, ja geradezu ursprünglich ist, erscheint mir da faszinierender und in ihren Auswirkungen geradezu universell: die Bakteriokratie. Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, daß die Mikroben, die wir in und mit uns tragen, die Mikroben, aufgrund derer wir einem potentiellen Partner attraktiv erscheinen, auch direkt unseren Fortpflanzungserfolg beeinflussen. Dachten wir noch, nach dem Tode Gottes endlich wieder selbst im Zentrum allen Seins auf einem gigantischen Massagestuhl zu sitzen, machen uns winzige Symbionten diesen Status streitig und lassen uns als fremdbestimmte biochemische Masse erscheinen. Der Wissenschaftsjournalist Moises Velasquez-Manoff denkt diese Marginalisierung in extremo, indem er zutiefst Menschliches wie Liebe, Sehnsucht oder Lyrik als ein Nebenprodukt mikrobiotischer Prozesse darstellt:

So love, desire, the cheesy rom-coms, the sappy ballads, the Shakespearean sonnets — all of them may depend on that teeming ecosystem of microbes within.

Es scheint, daß wir erneut nicht Herr im eigenen Haus sind und daß wir diese Position auch nie einzunehmen in der Lage sein werden.


Adrian Lobe. »Prosa als Programm.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12. Feb. 2017, p. 47.

Moises Velasquez-Manoff. »Microbes, a Love Story.« The New York Times, Feb., 10, 2017, https://www.nytimes.com/2017/02/10/opinion/sunday/microbes-a-love-story.html.


Gesäßtorturen

Ich entdecke bei Musil das mir unbekannte Bild des »ungesattelten Igel[s]« und ziehe sogleich eine botanische Parallele zu Echinocactus grusonii, der im Volksmund ›Schwiergermutterstuhl‹ genannt wird. Weder möchte man auf jenem »nachhause reiten« noch auf diesem Platz nehmen.


Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 99. Gesamtausgabe Band 2, herausgegeben von Walter Fanta.


Abgenützte Köpfe

Von allen Prognosen, die auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technologie für das Jahr 2017 ausgesprochen worden sind – von selbstfahrenden Automobilen (welch schöne Tautologie!) über Quantencomputer bis zu privat finanzierten Fahrten zum Mond –, gefällt mir eine Vorhersage besonders gut:

Prof Sergio Canavero, an Italian neuroscientist, is also preparing to carry out the first human head transplant within a year. Valery Spiridonov, 31, a Russian who suffers from Werdnig-Hoffmann disease, a muscle-wasting condition, is to be the first patient.

Kopftransplantationen könnten 50 Jahre nach der ersten geglückten Herztransplantation ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) hatte schon 1986 mit dem Gedanken gespielt, Köpfe so einfach zu wechseln wie Hosen. In einem seiner Dramolette läßt er die Figur Peymann sagen:

Schade daß man sich nicht auch ohne weiteres / einen neuen Kopf kaufen kann Bernhard / ich ginge jetzt im Augenblick gern mit Ihnen in einen Laden / und kaufte mir einen neuen Kopf / das ganze Leben laufen wir doch immer nur / mit einem abgetragenen ich will sagen mit einem abgenutzten Kopf herum / mit einem schäbig gewordenen Kopf Bernhard / alle Leute haben einen schäbigen Kopf auf / alle Köpfe die wir sehen sind abgenützte Köpfe / ich selbst habe natürlich einen völlig abgenützten Kopf / kaum haben wir einen Kopf / haben wir auch schon einen abgenützten / die Welt hat nur lauter abgenützte Köpfe / Das wäre doch eine tolle Sache Bernhard / wenn wir jetzt in ein Geschäft gehen könnten / und könnten uns neue Köpfe kaufen / und Sie trügen dann einen neuen / und ich trüge Ihren alten abgenützten in der Plastiktasche / und ich trüge auch einen neuen / und Sie trügen meinen alten Kopf in der Plastiktasche / und wir gingen mit neuen Köpfen auf dem Hals / in die Zauberflöte essen / und hätten unsere alten Köpfe in den Plastiktaschen

Schon heute hätte die Gewißheit, stets einen kühlen Kopf bei sich zu tragen, etwas ungemein Beruhigendes.


Sarah Knapton. »Science and technology predictions for 2017.« The Telegraph, Dec. 30, 2016, www.telegraph.co.uk/news/pred…

Thomas Bernhard. »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.« Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette, Suhrkamp, 1993, pp. 26-52.


Männliches No & weibliches Yes

Ich erfahre aus einer Besprechung des vierten und letzten Bandes der Beckett-Korrespondenz, daß der kürzeste in dieser Publikation abgedruckte Brief aus lediglich einem Wort bestehe: »No«, was Becketts Antwort auf eine Bitte um Erlaubnis, Eh Joe – das erste Stück, das der irische Schriftsteller fürs Fernsehen geschrieben hatte (1966) – mit männlicher statt weiblicher Sprecherstimme zu adaptieren, war.

Becketts präzise Haltung, ja sein männliches »No« ist nicht weniger mißverständlich und endgültig als das weibliche »Yes«, mit dem Molly Bloom Joyces Ulysses abschließt, ein »Yes«, über das Jacques Derrida tatsächlich eine gut fünfzigseitige Betrachtung angestellt hat! Als Joyce am »Penelope«-Kapitel schrieb, erklärte er seinem Freund Frank Budgen in einem Brief vom 16. August 1921 Mollys lexematische Körper-Topographie mit den Worten:

›Sie dreht sich wie der mächtige Erdball, langsam, sicher und gleichmäßig rund und rundherum, ihre vier Kardinalpunkte sind die weiblichen Brüste, Arsch, Uterus und Fotze, ausgedrückt durch die Wörter becausebottom (in allen Bedeutungen: Boden, Gesäß, Boden des Glases, Grund der See, Grund seines Herzens), womanyes.‹


David Wheatley. »Black diamonds of pessimism.« Rezension zu The Letters of Samuel Beckett, Volume Four: 1966-1989, herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. The Times Literary Supplement, Jan. 18, 2017, www.the-tls.co.uk/articles/…

Jacques Derrida. »Ulysses Gramophone. Hear Say Yes in Joyce.« Acts of Literature, herausgegeben von Derek Attridge, Routledge, 1992, pp. 253-309.

Frank Budgen. James Joyce und die Entstehung des ›Ulysses‹. Aus dem Englischen von Werner Morlang, Suhrkamp, 1982, p. 300.


Zahlenspielereien

Im Zuge ihrer umfangreichen Berichterstattung rund um den höchst kontroversen und bald neuen US-Präsidenten Donald Trump, wirft die New York Times einen Blick auf die Menschenmassen, die bei unterschiedlichen Inaugurationen (vermeintlich) anwesend waren.

So hätten, basierend auf der Analyse einer historischen Photographie, bei der Amtseinführung Abraham Lincolns am 4. März 1861 gut 7.350 Menschen dem Spektakel in Washington, D. C. beigewohnt. Ausgehend von Satellitenaufnahmen vom Tag der Amtseinführung Barack Obamas am 20. Januar 2009 schätzt man die Masse auf 1,8 Millionen Individuen!

Doch erst wenn man diese Zahlen mit der Gesamtbevölkerung in Relation setzt, wird der immense Zuwachs deutlich: Folgt man dem United States Census des Jahres 1860, betrug die Bevölkerungszahl zu jener Zeit 31.443.321. Gut 150 Jahre später, im Jahr, in dem Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, zählte man 303.064.548 US-Bürger. Demnach pilgerte 1861 gut 0,02 Prozent der Bevölkerung zur Amtseinführung, 2009 stand 0,59 Prozent vor dem Capitol. Wie viele – seien es Unterstützer, seien es Protestler – wird Trump anziehen?


Tim Wallace. »From Lincoln to Obama, How Crowds at the Capitol Have Been Counted.« The New York Times, Jan. 18, 2017, www.nytimes.com/interacti…

1860 Census, www.censusrecords.com/content/1…

»United States of America (USA) population history.« United States of America (USA) Population, countrymeters.info/en/United….


Korrigenda

Bei den 1,8 Millionen des Jahres 2009 handelte es sich um eine Schätzung. De facto hätten sich etwa 460.000 Menschen auf den National Mall versammelt, was den Prozentsatz von 0,59 auf 0,15 reduziert.


Tim Wallace, Karen Yourish und Troy Griggs. »Trump’s Inauguration vs. Obama’s: Comparing the Crowds.« The New York Times, Jan. 20, 2017, www.nytimes.com/interacti…


Fontaneplag

Es ist still geworden um die Plagiatorenjäger. Die mediale Aufmerksamkeit, die ihnen noch vor wenigen Monaten mit den causae zu Guttenberg, Schavan oder von der Leyen zuteil geworden ist, scheint gänzlich den Themen Flüchtlingskrise, Populismus und Brexit gewichen zu sein. Da kommt einem der kurze Hinweis aus dem Jahre 1954 auf einen berühmten Abschreiber gerade recht:

Theodor Fontane, seines Zeichens Schriftsteller, kein Politiker, soll sich in seinem 1878 erschienenen Roman Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 großzügig aus anderen Quellen bedient haben. Arno Schmidt urteilt:

[D]er Kenner älterer Literatur stößt auf Schritt und Tritt erbittert auf Geschichten und Novellen, die er längst bei Krug von Nidda oder Fouqué vorher gelesen hat !

Ja, Fontane solle gar das gesamte Kapitel »Von Kajarnak, dem Grönländer« schamlos abgeschrieben haben, und zwar bei David Cranz’ bereits 1765 erschienener Historie von Grönland enthaltend Die Beschreibung des Landes und der Einwohner etc. insbesondere die Geschichte der dortigen Mission der Evangelischen Brüder zu Neu=Herrnhut und Lichtenfels, genauer: die Seiten 490 bis 531. Schmidt schließt sarkastisch: »[…] mit Grönländern läßt sich ein Berliner scheinbar besser nicht ein !«

Man möchte ergänzen: Die heutige, mit akademischen Meriten dekorierte Prominenz möge den Ehrgeiz und die Mittel der Plagiatorenjäger nicht unterschätzen!


Arno Schmidt. »Fontane und der Eskimo.« Essays und Aufsätze 1, herausgegeben von der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, 1995, pp. 156-9. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches, Studienausgabe Bd. 3.