Krank

»Ein langwieriger Grippenzustand mit unerschöpflichem Schnupfen.«


Friedrich Nietzsche aus Gersau an Carl von Gersdorff in Rom, 2. März 1873.


Protestwahl

Eine interessante Art der Kandidatenempfehlung für den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gibt die Philosophin Judith Butler. Laut einem Interview in der F.A.S. werde sie ihre Stimme Hillary Clinton ex negativo geben, denn es sei leichter gegen die Demokratin zu protestieren als gegen Trump:

Wir müssen ihr [Clinton] ins Weiße Haus helfen, damit wir eine Opposition gegen sie aufbauen können. Denn eine Opposition gegen Clinton hat bessere Chancen erfolgreich zu sein als eine gegen Trump.

Clinton, das kleinere, demokratischere Übel, wird so in eine Machtposition gesetzt, damit man ihre Macht beschneiden und lenken kann.


Judith Butler und Gregor Quack. »Das Paradox der Demokratie.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Okt. 2016, p. 54-5.


Ein Gespenst geht um

Ich erfahre aus der Boston Review, daß sich das philosophisch-literarische Projekt der Dekonstruktion in den USA an Yales Komparatistik-Fachbereich, namentlich mit einem Nietzsche-Seminar Paul de Mans im Jahre 1971 zu etablieren begann. Das Werk Derridas blieb in dieser Anfangszeit nahezu unbeachtet. Heutzutage spukt es – ebenso wie die (vermeintliche) Praxis der Dekonstruktion – als sich permanent verwandelndes Gespenst umher.


Gregory Jones-Katz. »Deconstruction: An American Tale.« Boston Review, Sept. 30, 2016, bostonreview.net/books-ide…


»And I’m just like that bird«

Sowohl Edo Reents als auch Heinrich Detering stellen in der heutigen F.A.Z. die Oralität des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan als ein wichtiges Charakteristikum seines Werkes heraus. So findet man im Text des ersten die Passage:

In gewisser Weise setzt sie [das Nobelpreiskomitee?] die Literatur, die in ihren Anfängen und für lange Zeit ja mündlich war, nun wieder in ihr Recht, indem sie jemanden prämiert, der kaum Bücher vorzulegen hat, der lieber zu seiner lyra singt, also lautlich in Erscheinung tritt.

In Deterings Artikel heißt es:

Es ist die Sehnsucht, aus einer avancierten und hochdifferenzierten Schriftkultur heraus einen neuen Anschluss zu finden an die Ursprünge einer Poesie, in der Wort und Klang, Kunstwerk und Aufführung noch eine ungeschiedene Einheit gewesen waren.

So ist diese Auszeichnung weniger eine progressive oder politische Entscheidung, sondern vielmehr eine Erinnerung an die Wiege der Literatur in der Flüchtigkeit und Eindringlichkeit der Stimme, back to the roots quasi. Paradoxerweise ist Dylan verstummt; bis dato gibt es keinerlei Reaktion seinerseits auf den Nobelpreis. Und gerade deshalb möchte ich, an Mörike angelehnt, den Reents durch den Titel seines Textes eingeführt hat, schließen: ›Dylan, ja du bist’s! / Dich haben wir vernommen!‹


Edo Reents. »Er ist’s!« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.

Heinrich Detering. »Des alten Knaben Wunderhorn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.


Schwarze Briefe und diamantene Himmel

In der Zeit lese ich ein paar dort vorabgedruckte Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz. »Sensationell neu ist daran«, so heißt es im einführenden Text, »die ungeschminkte Selbstauskunft über die politische Gesinnung.« In der Tat positioniert sich Heidegger in seinen Briefen als leidenschaftlicher Hitler-Bewunderer und Antisemit. Da kommt die Mitteilung der Schwedischen Akademie in Stockholm, die mich während der Lektüre erreicht, wie gerufen: Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den (jüdischen) Musiker Bob Dylan.


Alexander Cammann und Adam Soboczynski. »Der Fall Heidegger.« Die Zeit, 13. Okt. 2016, p. 45.


Unzeitgemäße Persönlichkeiten

Ich finde in einer Würdigung des englischen Dichters Ben Jonson (1572-1637) die bemerkenswerte Formulierung:

Shakespeare may have been for all time, but Jonson was so of his own age that he remains more tangible as a personality.

Demnach unterscheiden sich die beiden Freunde Shakespeare und Jonson kategorial, und zwar durch die Oppositionspaare Weltzeit/Lebenszeit, göttlich/menschlich, abstrakt/konkret, unfaßbar/faßbar. Die Persönlichkeit Jonsons, die ihn als Vertreter seiner Zeit auszeichne und fixiere, habe Shakespeare zugunsten einer epochenübergreifenden, unmenschlichen Unpersönlichkeit abgelegt. Dennoch muß auch Jonson die immortalitas zugesprochen werden: noch immer spricht und schreibt man über ihn, man spielt und liest ihn, man würdigt ihn.


Ed Simon. »The Other Folio: On the Legacy of Ben Jonson.« The Millions, Oct. 7, 2016, www.themillions.com/2016/10/t…


Lärm und Schatten

Musils Synästhesie: »Der Lärm draußen rauschte, schmetterte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte.«


Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 338. Gesamtausgabe Band 1, herausgegeben von Walter Fanta.


Heldenhumor

Im New Yorker gibt die Sängerin Catherine Russell, die neben vielen anderen auch mit David Bowie auf Tour gewesen ist, ein Beispiel von Bowies Humor:

»One night, he had on that Armani suit,« she said. »I told him, ›You look real good in that suit.‹ He says, ›I’m a happily married man.‹«

Kleider machen Helden, just for one day…


Sarah Larson. »David Bowie, Celebrated By His Friends.« The New Yorker, Sept. 30, 2016, www.newyorker.com/culture/s…


Unendliche Weiten

Freeman Dyson geht mit Konstantin Ziolkowski darin konform, daß die Zukunft der Weltraumexpeditionen weniger ein Problem der Raumfahrttechnik sei, sondern daß sie vielmehr auf dem Gebiet der Biotechnologie stattfinden werde. Dahinter steckt der Anfang der 1940er Jahre geprägte und durch Star Trek populär gewordene Begriff des Terraformings: die Ur- und Lebbarmachung fremder und eigentlich lebensfeindlicher Planeten. Nachdem er bereits auf der Erde gravierend geschrumpft ist, dürfte der Existenzraum Gottes qua biotechnologischer Fortschritte des Menschen auch im Universum zur Nische verkümmern.


Freeman Dyson. »The Green Universe: A Vision.« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 4-6.


Unflexibel?

Die heutzutage schockierend anmutende Tatsache, daß Kant von seinen 80 Lebensjahren ganze 74 in Königsberg und die restlichen sechs als Hauslehrer in der ostpreußischen Provinz verbracht hat, beweist, daß physische Unbeweglichkeit nicht mit geistiger gleichzusetzen ist. Ein rezentes und krasses Beispiel ist an der Person Stephen Hawkings festzumachen.


Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 246.


Neologist

Ich erfahre aus einer Rezension im Harper’s Magazine, daß der Opiumesser Thomas De Quincey (1785-1859) laut dem Oxford English Dictionary die Begriffe ›vermeidlich‹ (evadable), ›krankhaft‹ (pathologically) sowie ›unterbewußt‹ (subconscious) in die englische Sprache eingebracht und damit gleichsam die Kategorien der modernen Psychologie erfunden habe.

Ob diese Kreativität auf den exzessiven Genuß von Opium zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Fest steht, daß De Quincey die Droge 1804 als Student in Oxford kennenlernte, anfänglich als Mittel gegen Zahnschmerzen, später dann als ›göttliches Vergnügen‹.


Matthew Bevis. »Supping on Horrors. Thomas De Quincey’s bad habits.« Rezension zu Guilty Thing: A Life of Thomas De Quincey, von Frances Wilson. Harper’s Magazine, Oct. 2016, harpers.org/archive/2…


Autodafé

Daß Diderots Encyclopédie noch ein ganz anderes Licht in die so finstere, unaufgeklärte Welt brachte, belegt die Panikreaktion Papst Klemens’ XII.: Er setzte das Werk auf den Index,

und seine katholischen Eigentümer wurden aufgefordert, es durch einen Priester verbrennen zu lassen. Andernfalls würden sie exkommuniziert werden.

Der Mann Gottes nimmt dadurch die Rolle des gegenaufklärerischen Pyromanen ein: Dunkelheit und Kälte vermittelst Licht und Flammen.

Im Buch der 24 Philosophen, einem vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammenden theosophischen Dokument, heißt es: »Gott ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht.«


Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 151.

Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Lateinisch-Deutsch. Erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch. Beck, 2011, p. 67.


Gras zu Heu

Beim Durchblättern des Blumenberg-Taubes-Briefwechsels stoße ich auf eine von mir während der Lektüre vor über drei Jahren gekennzeichnete Passage in Brief 47, den Hans Blumenberg am 28. Juni 1977 von Münster nach Berlin an Jacob Taubes sandte: »Übrigens und zum Schluß«, heißt es da,

die Formel, dass Jacob Taubes das Gras auf den Schreibtischen wachsen höre, ist von mir schon 1963 in Gießen geprägt worden. Tröstlich dabei ist, dass viel von dem derart gewachsenen Gras inzwischen zu Heu geworden ist.

Fast möchte man behaupten, damals sei das Gras grüner und das Heu goldener gewesen.


Hans Blumenberg / Jacob Taubes. Briefwechsel 1961-1981 und weitere Materialien. Herausgegeben von Herbert Kopp-Oberstebrink und Martin Treml unter Mitarbeit von Anja Schipke und Stephan Steiner. Mit einem Nachwort von Herbert Kopp-Oberstebrink, Suhrkamp, 2013, p. 184.


Antiquierte Expertise

Laut einem Artikel der New York Review of Books war der Franzose Hubert Robert (1733-1808) der bedeutendste Maler von Altertümern im 18. Jahrhundert. Eine derartige Spezialisierung klingt regelrecht modern. Seine Arbeitsleistung war erstaunlich: Er soll nicht weniger als eintausend Gemälde und um die zehntausend Zeichnungen angefertigt haben!


Colin B. Bailey. »Hubert Robert & the Joy of Ruins.« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 35-7.


Panerotismus

Musils Parallelaktion der Liebe: »Denn wenn man liebt, ist alles Liebe, auch wenn es Schmerz und Abscheu ist.«


Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 246. Gesamtausgabe Band 1, herausgegeben von Walter Fanta.


Subskription

Meine Entscheidung, das Musilsche Gesamtwerk in zwölf Bänden zu subskribieren (Verlag Jung und Jung), war eine richtige. Dadurch wird auf mich ein wohldosierter Druck der Lektüre ausgeübt, der sich bis 2022 jeweils im Frühjahr und Herbst manifestieren wird. Mit den ersten beiden Bänden (Der Mann ohne Eigenschaften) bin ich vorerst bestens bedient und unterhalten.


Lächeln

Finde in Manfred Geiers Aufklärungsbuch den hintersinnigen Satz: »Durch Shaftesbury lernt die Philosophie der Aufklärung zu lächeln.« Hintersinnig deshalb, weil es sich hierbei nicht um ein harmloses Mona-Lisa-Lächeln handelt, sondern vielmehr um eines, das Zähne zeigt.


Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 73.


Dotedu-Blase

Aus der New York Review of Books erfahre ich, daß sich in den USA eine 1,2 Billionen Dollar große Studienschuldenblase gebildet habe. Wohl dem, dem die Bürde eines überbewerteten Hochschulabschlusses erspart bleibt!


Rana Foroohar. »How the Financing of Colleges May Lead to DISASTER!« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 28-30.


Zettelkasten, Teil 2

Das aktuelle Merkheft von Zweitausendeins zeigt auf seinem Cover eine Photographie Werner Michaels’: Der ins Karteikartenausfüllen versunkene Arno Schmidt sitzt vor einer Batterie Zettelkästen, die an ein hölzern-papiernes Amphitheater en miniature erinnern, in welchem ein riesiger Schriftsteller die Rolle des Schöpfer-Protagonisten einnimmt.


Zweitausendeins. Merkheft 307, Oktober 2016.


Trump

Erfahre aus der New York Times, daß Präsidentschaftskandidat Donald Trump ein Android-Smartphone benutzt, während er sich nachts um Kopf und Kragen twittert.


Michael Barbaro, Maggie Habermann und Alan Rappeport. »As America Sleeps, Donald Trump Seethes on Twitter.« The New York Times, Sept., 30, 2016, www.nytimes.com/2016/10/0…