Walden revisited
Ich lese in einer Rezension zweier Neuerscheinungen zum Thema medialer, genauer: digitaler Ablenkung eine Passage, die mir das Schmunzeln im Gesicht gefrieren läßt:
Picture Thoreau now, on his obligation-shedding saunter through the Massachusetts woods. There are unanswered emails from the morning’s business a twitchy finger away. Facebook notifications fall upon him like leaves. The babbling brook is not only lovely, but demands to be shared via Instagram, once the correct filter (›Walden,‹ natch) has been applied. Perhaps a quick glance at the Health app to track his steps, or a browse of the TripAdvisor reviews of Walden Pond (›serene and peaceful‹). There may be Pokémon Go baubles to collect—the app may have even compelled his walk in the first place.
Tom Vanderbilt. »The Perils of Peak Attention.« Rezension zu The Attention Merchants, von Tim Wu sowie Wasting Time on the Internet, von Kenneth Goldsmith. New Republic, Oct. 17, 2016, newrepublic.com/article/1…
Wahrnehmungen
Nach seiner Trennung von Regine Olsen schrieb Kierkegaard (»S. K.«) während eines langen Winters in Berlin sein »Lebensfragment« Entweder – Oder. Zudem besuchte er Vorlesungen Friedrich Schellings, die er als Zeitverschwendung empfand. Entweder schreiben oder hören: Man muß Prioritäten setzen!
Peter E. Gordon. »Kierkegaard’s Rebellion.« Rezension zu Kierkegaard: Exposition and Critique, von Daphne Hampson. The New York Review of Books, Nov. 10, 2016, vol. LXIII, no. 17, pp. 21-3.
Keine Tabus
Die noch immer faszinierende Tatsache, daß hinter Claude Lévi-Strauss’ ethnologischer Studie Les Structures élémentaires de la parenté (1949) die linguistische Phonem-Theorie Roman Jakobsons steckt – quasi unter der Haube –, zeigt, daß das Heranziehen von fachfremden Erkenntnissen zu überraschenden, neuen, ja epochalen Ansichten führen kann. Man sollte also mit offenen Augen und einem panoramatischen Blick durch die Welt gehen, um Beziehungen und Gegensätze breiter betrachten und klassifizieren zu können.
Adam Kuper. »Philosopher among the Indians.« Rezension zu Lévi-Strauss, von Emmanuelle Loyer. The Times Literary Supplement, Oct. 12, 2016, www.the-tls.co.uk/lives/bio…
In Menschenleder
Ich entnehme einem Text in Lapham’s Quarterly, daß anthropodermische Bücher im 19. Jahrhundert keine Seltenheit gewesen seien. Das am schwierigsten aufzutreibende und in Menschenhaut gebundene Buch – falls es denn wirklich existiere – sei Marquis de Sades Justine et Juliette – »bound in a woman’s skin or French erotica with a visible human nipple on the cover«.
Nie waren abstrakte Schrift und konkreter Körper enger miteinander verbunden, nie waren fiktiver Text und physisches Gewebe deutlicher aneinander gebunden!
Megan Rosenbloom. »A Book by Its Cover: The strange history of books bound in human skin.« Lapham’s Quarterly, Oct. 19, 2016, laphamsquarterly.org/roundtabl…
Modus scribendi
Finde in einer Rezension in der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext die sehr harschen Worte:
Die germanistische Sucht nach sogenanntem Realismus hat den Irrealis kurzweg weggeschluckt und unverdaut dann ausgeschissen.
In der Möglichkeit des grammatischen Exkrements findet sich die Tatsache einer fruchtbaren Sprachhygiene.
Alban Nikolai Herbst. »Gehirn und Herz liegen Wand an Wand.« Rezension zu Der König von Europa, von Jan Kjærstad. Volltext, Nr. 3/2016, pp. 60-1.
Arbeit am Mythos
Die Diskussion um Biotechnologie und Künstliche Intelligenz erweist sich mit Blick auf die alten Griechen als Schnee von gestern:
Medea’s ram and lamb are the ancestors of Dolly, the first genetically engineered sheep, which emerged from a cloning experiment in 1997.
Der Kampf gegen Sterblichkeit, Verfall und Alter verlagert sich vom Epos zum Ethos.
Adrienne Mayor. »Bio-techne.« Aeon, May 16, 2016, aeon.co/essays/re…
Vertauschte Rollen
Von einem Podcast des Deutschlandfunks lerne ich, daß Andrew Jackson – von 1829 bis 1837 der siebte Präsident der USA – ein leidenschaftlicher, harter und kompromißloser Populist, Rassist und Sklavereibefürworter mit genozidalen Anwandlungen gewesen sei, der heutzutage vermutlich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen würde. Stattdessen landete er, der Demokrat war, auf dem Zwanzig-Dollar-Schein. Für den beliebten und verehrten Republikaner und Sklavenbefreier Abraham Lincoln war nur Platz auf der Fünf-Dollar-Note.
Hannes Stein. »Präsidentschaftswahlen in den USA, Teil 1: Der lange Weg zur Rassistenpartei.« Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 9. Okt. 2016, 9:30 Uhr.
Lektürezeit
Der investigative Journalist Luke Harding schätzt, daß ein einzelner Leser gut 27 Jahre für die Bewältigung der sogenannten Panama Papers benötigen würde – das größte Epos moderner Kleptokratie, das die Welt je gesehen hat!
Alan Rusbridger. »Panama: The Hidden Trillions« The New York Review of Books, Oct. 27, 2016, vol. LXIII, no. 16, pp. 33-5.
Krank
»Ein langwieriger Grippenzustand mit unerschöpflichem Schnupfen.«
Friedrich Nietzsche aus Gersau an Carl von Gersdorff in Rom, 2. März 1873.
Protestwahl
Eine interessante Art der Kandidatenempfehlung für den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gibt die Philosophin Judith Butler. Laut einem Interview in der F.A.S. werde sie ihre Stimme Hillary Clinton ex negativo geben, denn es sei leichter gegen die Demokratin zu protestieren als gegen Trump:
Wir müssen ihr
[Clinton]
ins Weiße Haus helfen, damit wir eine Opposition gegen sie aufbauen können. Denn eine Opposition gegen Clinton hat bessere Chancen erfolgreich zu sein als eine gegen Trump.
Clinton, das kleinere, demokratischere Übel, wird so in eine Machtposition gesetzt, damit man ihre Macht beschneiden und lenken kann.
Judith Butler und Gregor Quack. »Das Paradox der Demokratie.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Okt. 2016, p. 54-5.
Ein Gespenst geht um
Ich erfahre aus der Boston Review, daß sich das philosophisch-literarische Projekt der Dekonstruktion in den USA an Yales Komparatistik-Fachbereich, namentlich mit einem Nietzsche-Seminar Paul de Mans im Jahre 1971 zu etablieren begann. Das Werk Derridas blieb in dieser Anfangszeit nahezu unbeachtet. Heutzutage spukt es – ebenso wie die (vermeintliche) Praxis der Dekonstruktion – als sich permanent verwandelndes Gespenst umher.
Gregory Jones-Katz. »Deconstruction: An American Tale.« Boston Review, Sept. 30, 2016, bostonreview.net/books-ide…
»And I’m just like that bird«
Sowohl Edo Reents als auch Heinrich Detering stellen in der heutigen F.A.Z. die Oralität des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan als ein wichtiges Charakteristikum seines Werkes heraus. So findet man im Text des ersten die Passage:
In gewisser Weise setzt sie
[das Nobelpreiskomitee?]
die Literatur, die in ihren Anfängen und für lange Zeit ja mündlich war, nun wieder in ihr Recht, indem sie jemanden prämiert, der kaum Bücher vorzulegen hat, der lieber zu seiner lyra singt, also lautlich in Erscheinung tritt.
In Deterings Artikel heißt es:
Es ist die Sehnsucht, aus einer avancierten und hochdifferenzierten Schriftkultur heraus einen neuen Anschluss zu finden an die Ursprünge einer Poesie, in der Wort und Klang, Kunstwerk und Aufführung noch eine ungeschiedene Einheit gewesen waren.
So ist diese Auszeichnung weniger eine progressive oder politische Entscheidung, sondern vielmehr eine Erinnerung an die Wiege der Literatur in der Flüchtigkeit und Eindringlichkeit der Stimme, back to the roots quasi. Paradoxerweise ist Dylan verstummt; bis dato gibt es keinerlei Reaktion seinerseits auf den Nobelpreis. Und gerade deshalb möchte ich, an Mörike angelehnt, den Reents durch den Titel seines Textes eingeführt hat, schließen: ›Dylan, ja du bist’s! / Dich haben wir vernommen!‹
Edo Reents. »Er ist’s!« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.
Heinrich Detering. »Des alten Knaben Wunderhorn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Okt. 2016, p. 9.
Schwarze Briefe und diamantene Himmel
In der Zeit lese ich ein paar dort vorabgedruckte Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz. »Sensationell neu ist daran«, so heißt es im einführenden Text, »die ungeschminkte Selbstauskunft über die politische Gesinnung.« In der Tat positioniert sich Heidegger in seinen Briefen als leidenschaftlicher Hitler-Bewunderer und Antisemit. Da kommt die Mitteilung der Schwedischen Akademie in Stockholm, die mich während der Lektüre erreicht, wie gerufen: Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den (jüdischen) Musiker Bob Dylan.
Alexander Cammann und Adam Soboczynski. »Der Fall Heidegger.« Die Zeit, 13. Okt. 2016, p. 45.
Unzeitgemäße Persönlichkeiten
Ich finde in einer Würdigung des englischen Dichters Ben Jonson (1572-1637) die bemerkenswerte Formulierung:
Shakespeare may have been for all time, but Jonson was so of his own age that he remains more tangible as a personality.
Demnach unterscheiden sich die beiden Freunde Shakespeare und Jonson kategorial, und zwar durch die Oppositionspaare Weltzeit/Lebenszeit, göttlich/menschlich, abstrakt/konkret, unfaßbar/faßbar. Die Persönlichkeit Jonsons, die ihn als Vertreter seiner Zeit auszeichne und fixiere, habe Shakespeare zugunsten einer epochenübergreifenden, unmenschlichen Unpersönlichkeit abgelegt. Dennoch muß auch Jonson die immortalitas zugesprochen werden: noch immer spricht und schreibt man über ihn, man spielt und liest ihn, man würdigt ihn.
Ed Simon. »The Other Folio: On the Legacy of Ben Jonson.« The Millions, Oct. 7, 2016, www.themillions.com/2016/10/t…
Lärm und Schatten
Musils Synästhesie: »Der Lärm draußen rauschte, schmetterte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte.«
Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Jung und Jung, 2016, p. 338. Gesamtausgabe Band 1, herausgegeben von Walter Fanta.
Heldenhumor
Im New Yorker gibt die Sängerin Catherine Russell, die neben vielen anderen auch mit David Bowie auf Tour gewesen ist, ein Beispiel von Bowies Humor:
»One night, he had on that Armani suit,« she said. »I told him, ›You look real good in that suit.‹ He says, ›I’m a happily married man.‹«
Kleider machen Helden, just for one day…
Sarah Larson. »David Bowie, Celebrated By His Friends.« The New Yorker, Sept. 30, 2016, www.newyorker.com/culture/s…
Unendliche Weiten
Freeman Dyson geht mit Konstantin Ziolkowski darin konform, daß die Zukunft der Weltraumexpeditionen weniger ein Problem der Raumfahrttechnik sei, sondern daß sie vielmehr auf dem Gebiet der Biotechnologie stattfinden werde. Dahinter steckt der Anfang der 1940er Jahre geprägte und durch Star Trek populär gewordene Begriff des Terraformings: die Ur- und Lebbarmachung fremder und eigentlich lebensfeindlicher Planeten. Nachdem er bereits auf der Erde gravierend geschrumpft ist, dürfte der Existenzraum Gottes qua biotechnologischer Fortschritte des Menschen auch im Universum zur Nische verkümmern.
Freeman Dyson. »The Green Universe: A Vision.« The New York Review of Books, Oct. 13, 2016, vol. LXIII, no. 15, pp. 4-6.
Unflexibel?
Die heutzutage schockierend anmutende Tatsache, daß Kant von seinen 80 Lebensjahren ganze 74 in Königsberg und die restlichen sechs als Hauslehrer in der ostpreußischen Provinz verbracht hat, beweist, daß physische Unbeweglichkeit nicht mit geistiger gleichzusetzen ist. Ein rezentes und krasses Beispiel ist an der Person Stephen Hawkings festzumachen.
Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 246.
Neologist
Ich erfahre aus einer Rezension im Harper’s Magazine, daß der Opiumesser Thomas De Quincey (1785-1859) laut dem Oxford English Dictionary die Begriffe ›vermeidlich‹ (evadable), ›krankhaft‹ (pathologically) sowie ›unterbewußt‹ (subconscious) in die englische Sprache eingebracht und damit gleichsam die Kategorien der modernen Psychologie erfunden habe.
Ob diese Kreativität auf den exzessiven Genuß von Opium zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Fest steht, daß De Quincey die Droge 1804 als Student in Oxford kennenlernte, anfänglich als Mittel gegen Zahnschmerzen, später dann als ›göttliches Vergnügen‹.
Matthew Bevis. »Supping on Horrors. Thomas De Quincey’s bad habits.« Rezension zu Guilty Thing: A Life of Thomas De Quincey, von Frances Wilson. Harper’s Magazine, Oct. 2016, harpers.org/archive/2…
Autodafé
Daß Diderots Encyclopédie noch ein ganz anderes Licht in die so finstere, unaufgeklärte Welt brachte, belegt die Panikreaktion Papst Klemens’ XII.: Er setzte das Werk auf den Index,
und seine katholischen Eigentümer wurden aufgefordert, es durch einen Priester verbrennen zu lassen. Andernfalls würden sie exkommuniziert werden.
Der Mann Gottes nimmt dadurch die Rolle des gegenaufklärerischen Pyromanen ein: Dunkelheit und Kälte vermittelst Licht und Flammen.
Im Buch der 24 Philosophen, einem vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammenden theosophischen Dokument, heißt es: »Gott ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht.«
Manfred Geier. Aufklärung. Das europäische Projekt. 3. Aufl. Rowohlt, 2012, p. 151.
Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Lateinisch-Deutsch. Erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch. Beck, 2011, p. 67.