Ein unterhaltsamer und ausgewogen erzählender Essay im Guardian weiß nicht nur Hintergründiges und Persönliches über den 1954 in Montreal geborenen Kognitionswissenschaftler Steven Pinker zu berichten – etwa daß er Classic Rock liebe und das Abschiedskonzert The Last Waltz der kanadischen Rockband The Band mindestens ein Dutzend Mal gesehen habe –; es gibt auch berührende und nachdenklich stimmende Passagen wie die folgende:
Eine Straße weiter, auf einem anderen Friedhof, hatte er [Pinker] einmal den Grabstein eines Vaters und seines fünf Tage alten Sohnes photographiert.
Heute vor zehn Jahren, am 28. September 2011, besuchten Kristy Husz und ich die Blumenberg-Lesung Sibylle Lewitscharoffs in der Stadtbücherei Münster. Grund genug, den Text, den wir über diese Veranstaltung drei Tage später bei carnival of lights veröffentlicht haben, nun zum 10. Jahrestag im Denkkerker unverändert wiederzugeben, allerdings ergänzt um weitere Abbildungen, die Transkription eines Videos sowie eine Entdeckung vor der ehemaligen Denkhöhle des Unlöwen Hans Blumenberg in Altenberge. Persönliches Exemplar des im September 2011 gekauften Romans(Nico Schulte-Ebbert, denkkerker.
Ein besonders humorvolles Beispiel, in einer Situation, in der mehr Zeit zur Verfügung steht, als gedacht, mit einem Mehr oder Zuviel an Zeit umzugehen, gibt der vorgestern im Alter von 61 Jahren an Leukämie verstorbene kanadische Stand-Up-Comedian Norm Macdonald. Er war berühmt dafür, mäandernde und verwirrende Geschichten mit teils abstrusen, kitschigen oder auch bitterbösen Pointen zu erzählen. Einen solch labyrinthartigen Witz über eine Motte in der Praxis eines Podologen breitete er im August 2009 in der Tonight Show mit Conan O’Brien aus.
Die US-amerikanische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum begibt sich in einem lesenswerten Beitrag für die September-Ausgabe von The Atlantic in den Kaninchenbau der immer grotesker werdenden und immer besorgniserregendere Ausmaße annehmenden sozial-aktivistischen Bewegungen zwischen cancel culture und political correctness, deren Vertreter sie als »Neue Puritaner« bezeichnet. Sie schreibt:
Die Tadelsüchtigkeit [censoriousness], das meidende, ausweichende Verhalten [shunning], die ritualisierten Entschuldigungen, die öffentlichen Opfer – das sind eher typische Verhaltensweisen in illiberalen Gesellschaften mit starren kulturellen Codes, die durch starken Gruppendruck durchgesetzt werden.
[1] »Annalena Baerbock für geschlechtergerechte Gesetzestexte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/annalena-baerbock-fuer-geschlechtergerechte-gesetzestexte-17463972.html.
[2] Michael Hofmann. »Heine’s Heartmobile.« Rezension zu Heinrich Heine: Writing the Revolution, von George Prochnik. The New York Review of Books, vol. LXVIII, no. 12, July 22, 2021, pp. 42-4.
[3] Neal Ascherson. »Into the Wrecks.« Rezension zu War at Sea: A Shipwrecked History from Antiquity to the Cold War, von James P. Delgado. The New York Review of Books, vol.
Nemesis (Νέμεσις), so erfährt man aus dem Kleinen Pauly, ist »das zur Augenblicksgottheit anthropomorphisierte dämon[ische] Schicksalswalten«; eine »Zuweiserin, Vergelterin […] Straferin und Rächerin«. Sie ist die »[m]ytholog[ische] Tochter der Nyx [Νύξ, die Göttin der Nacht] und des Okeanos [Ὠκεανός, der Gott eines die Welt umfließenden Stromes]«. Das Gründliche mythologische Lexikon des Rektors und Altertumsforschers Benjamin Hederich (1675-1748), das Goethe intensiv genutzt hat, gibt ausführlichere Informationen. So heißt es etwa im dritten Paragraphen zum Wesen der Nemesis:
In einer Rezension im New Statesman entdecke ich eine verblüffende Verschwörungsideologie, die sich hinsichtlich des atemberaubenden Erfindungsreichtums nicht hinter rezenten Manifestationen verstecken muß:
Im Jahr 2010 schrieb Fidel Castro, daß die im Exil lebenden marxistischen Akademiker in den 1950er Jahren mit der Rockefeller-Familie zusammenarbeiteten, um Bewußtseinskontrolle zu entwickeln und Rockmusik als neues Opium für die Massen einzusetzen – daher, so Castro, die Invasion der Beatles in die USA, die, wie er behauptete, von der Frankfurter Schule beauftragt worden waren, den Merseybeat als Waffe einzusetzen, um die Befreiungsbewegungen zu zerstören.
Assoziationsräume kontinentaler Dimensionen taten sich auf, als ich kürzlich über einen unscheinbaren Druckfehler stolperte. Im Habermas-Themenheft der Zeitschrift für Ideengeschichte findet sich der folgende Satz:
Die Strauss’sche Pointe erinnert an ein Bonmot des Habermas-Schülers Claus Offe zur Zeit des Mauerfalls, nachdem es für den Western nun darauf ankäme – nicht nur besser, sondern gut zu sein.
Gemeint ist hier natürlich nicht das Kino-Genre des Westerns, sondern der Westen, sprich die politische Welt der NATO-Staaten et al.
Am 7. August 2021 um 19:46 Uhr fügte FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube alias »Grammaticus« einen Kommentar unter einen intellektuell anspruchsvollen und ansprechenden Beitrag seines Kölner Feuilletonkorrespondenten Patrick Bahners an, der sich mit einer Widmung Carl Schmitts an Ernst Jünger auseinandersetzt. Kaubes Kommentar, der sich nicht auf den Inhalt des Textes bezieht, ist mit »Apropos Fehler« betitelt und lautet:
»Noch im gleichen Jahr ließ Schmitt drei weitere Bücher folgen.« Was ist ein »gleiches Jahr«?
[1] Mike Peterson. »World Wide Web source code NFT sells at auction for $5.4 million.« AppleInsider, Jun 30, 2021, https://appleinsider.com/articles/21/06/30/world-wide-web-source-code-nft-sells-at-auction-for-54-million.
[2] »Früherer US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ist tot.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frueherer-us-verteidigungsminister-donald-rumsfeld-ist-tot-17416240.html.
[3] Joachim Müller-Jung. »Nicht ›nur‹ eine Grippe.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.2021, https://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/warum-corona-im-vergleich-mit-der-grippe-gefaehrlicher-ist-17412542.html.
[4] Michael Scheppe. »15 Prozent mehr Stellenausschreibungen als vor Corona: Wen die Firmen jetzt suchen.« Handelsblatt, 01.07.2021, [www.handelsblatt.com/karriere/….
[5] »Deutschland wappnet sich für die Delta-Variante.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.
Heute vor zehn Jahren, am 23. Juli 2011, druckte die Samstagsausgabe der seit 1849 erscheinenden und im mittelfränkischen Gunzenhausen ansässigen Tageszeitung Altmühl-Bote auf Seite 4 den folgenden Leserbrief ab:
Ein lauer Sommerabend mit einer spritzigen Shakespeare-Komödie vor der wunderschönen Kulisse des Dennenloher Schlosses und Rhododendronparks? Mitnichten. Zumindest die Stunde vor Vorstellungsbeginn glich eher einem Trauerspiel. Zuerst konfrontierte man uns mit Preiserhöhungen und dem gleichzeitigen Wegfall der aus den letzten Jahren vertrauten Ermäßigung für Arbeitslose, Behinderte, Senioren, Studenten und Zivis (Rabatt gab es bloß für Gruppen und Kinder).
Ich erfahre aus dem Rolling Stone Magazine von der Existenz und der kreativen Pionierleistung des 1994 verstorbenen Mike »The Mic« Millard:
Er benutzte einen gefälschten Rollstuhl, um ein Nakamichi-550-Tonbandgerät in die Shows der siebziger und achtziger Jahre im Los Angeles Forum zu schmuggeln. Wenn die Lichter ausgingen, verband er das Gerät mit Mikrophonen, die an seinem Hut befestigt waren, und ging einfach nach vorne in den Saal. Mit diesem Trick konnte er Konzerte von Led Zeppelin, Eric Clapton, den Rolling Stones, Genesis, Rush, Yes und vielen anderen mit unglaublicher Klangqualität und wenig Publikumslärm aufnehmen.
Hinsichtlich fehlender Ironie und überbordendem »Identitätskitsch« in der heutigen Literatur, ersinnt der Klagenfurter Juror Philipp Tingler in einem Beitrag für die NZZ zwei Arten der Selbstkasteiung, die seinen Schmerz ob dieses Mangels und jener Entwicklung weniger gravierend erscheinen lassen sollen.
Die äußerliche Selbstkasteiung:
Seit zwei Jahren sitze ich in der Jury des Bachmann-Preises, und manchmal möchte ich mir in Klagenfurt Feuerquallen auf die Augen drücken.
Die innerliche Selbstkasteiung:
[1] Tina Jordan. »A History of the Book Review Through Its Fonts.« The New York Times, May 28, 2021, https://www.nytimes.com/2021/05/28/books/a-history-of-the-book-review-through-its-fonts.html.
[2] Matthew Futterman. »What Has Happened to Dominic Thiem? He Has No Idea.« The New York Times, May 30, 2021, https://www.nytimes.com/2021/05/30/sports/french-open-dominic-thiem.html.
[3] Kurt Streeter. »The First of Nadal’s 100 French Open Victims Has His Say.« The New York Times, May 31, 2021, https://www.nytimes.com/2021/05/31/sports/tennis/french-open-nadal-opponents.html.
[4] Andy Greene. »Roger Waters Announces ›Animals‹ Deluxe Edition, Plans for a Memoir.
Einem bereits 2014 ausgestrahlten und am vergangenen Sonntag wiederholten Beitrag im Deutschlandfunk entnehme ich die so augenöffnende wie triviale Feststellung:
Staub ist der sinnentleerte Rest von allem. Ein Pullover flust, aber eine Fluse pullovert nicht. Mit anderen Worten: Die Entropie hat eine unumkehrbare Richtung so wie der Zeitpfeil. Am Ende erwartet uns immer Staub.
Man meint, die Hand eines Poeten habe die Entropie erschaffen; die nicht-pullovernde Fluse ist jedoch bloß schaler Ausdruck physikalischer Gesetzmäßigkeiten.
Am heutigen 5. Juni wird die große Klaviervirtuosin Martha Argerich achtzig Jahre alt. Joachim Kaiser (1928-2017) hat in seinem erstmals 1965 erschienenen »Klavier-Michelin« Große Pianisten in unserer Zeit über die damals noch junge Jubilarin geurteilt:
Wenn es Martha Argerich gelingt, ihrem technischen Temperament mit äußerstem Engagement und beherrschtester Anstrengung Ton für Ton, Takt für Takt einen gestaltenden Willen entgegenzusetzen, wenn sie Unruhe und motorische Monotonie beherrschen, in »Kunst« umsetzen kann, dann überwältigt sie.
[1] [Reto U. Schneider. »Die Wissenschaft der Meinungsbildung.« Neue Zürcher Zeitung, 01.05.2021, www.nzz.ch/folio/war…](https://denkkerker.com/2021/05/01/inkompetentes-wissen/).
[2] Luca die Blasi. »Die Überzeichnung: Wie Paul Klee Martin Luther zum Verschwinden brachte und Walter Benjamin den Engel der Geschichte erfand.« Neue Zürcher Zeitung, 01.05.2021, [www.nzz.ch/feuilleto….
[3] Ross Douthat. »When Wokeness Becomes Weakness.« The New York Times, May 1, 2021, https://www.nytimes.com/2021/05/01/opinion/democrats-james-carville.html.
[4] Natalie de Souza. »Editing Humanity’s Future.« Rezension zu The Code Breaker: Jennifer Doudna, Gene Editing, and the Future of the Human Race, von Walter Isaacson, Editing Humanity: The CRISP Revolution and the New Era of Genome Editing, von Kevin Davies, Hacking Darwin: Genetic Engineering and the Future of Humanity, von Jamie Metzl, sowie Altered Inheritance: CRISPR and the Ethics of Human Genome Editing, von Françoise Baylis.
Ich mußte das äußerst fundierte und empfehlenswerte Blumenberg-Portrait Jürgen Goldsteins bis zur 515. Seite lesen, um auf eine lokale Jahrmarktsinformation zu stoßen, die mir als jemand, der immerhin zwölf Jahre in Münster gelebt und studiert hat, neu war. Goldstein zitiert aus einem Tonbandmitschnitt einer Vorlesung, die Hans Blumenberg im Sommersemester 1984 zum Thema »Realität und Realismus« im Hörsaal VIII des Münsteraner Schlosses gehalten hat. Blumenberg hatte die Sitzung bereits mit einleitenden Worten begonnen, als einige Studenten verspätet Platz nahmen:
Ueli Bernays hört in seiner Würdigung des achtzigjährigen Bob Dylan genau hin:
Was macht die Eigenheit des Gesangs so attraktiv und geradezu magisch? Sie scheint die Authentizität und das Gewicht des Ausdrucks zu beglaubigen. So irritiert es die echten Bob-Dylan-Fans kaum, dass die vokalen Nebengeräusche, der velare und gutturale Lärm in der Gesangskunst ihres Idols im Alter zugenommen haben: Die Kröten krächzen öfter im Hals. Dann wiederum raspelt und schnaubt die Stimme wie eine müde Dampflokomotive.
Die New York Review of Books druckt einen Essay des 1956 geborenen Politikwissenschaftlers Mark Lilla ab, der in etwas veränderter Form als Einleitung zu der am 18. Mai erschienenen Neuausgabe von Thomas Manns Reflections of a Non-political Man fungiert. Darin heißt es unter anderem:
Who, then, is the intellectual proponent of »politics«? Mann calls him the Zivilizationsliterat [sic!], an unlovely term even in German, which the English translator, Walter D.
Anläßlich des morgigen achtzigsten Geburtstags des Singer-Songwriters und Nobelpreisträgers Bob Dylan (symbolträchtig zu Pfingsten) hat der 1972 geborene Journalist und Schriftsteller Edward Docx im Guardian eine chronologisch sortierte Liste mit achtzig Dylan-Songs aus sechs Jahrzehnten erstellt, die Interessierten Zugang zum musikalischen Werk des Jubilars jenseits seiner bekanntesten Songs – etwa »Mr Tambourine Man«, »Knocking on Heaven’s Door« oder »Blowing in the Wind« – bietet. Empfehlens- und hörenswert!
1. Song to Woody (1961)
In der Hudson Review stoße ich auf eine lesenswerte Besprechung Brooke Allens, die sich durch persönliche Erfahrungen der Rezensentin mit der Thematik des zu besprechenden Titels – der grassierenden, immer aggressiver und auch außerhalb universitärer Mauern auftretenden, anti-liberalen und anti-aufklärerischen Social Justice-Ideologie – auszeichnet. Allen berichtet:
Nach Abschluß meiner Promotion verließ ich die akademische Welt für fast zwei Jahrzehnte, um eine Familie zu gründen und freiberuflich zu arbeiten. Dann nahm ich eine Stelle als Literaturdozentin an einem kleinen Liberal Arts College an.
Roger Cohen heute in der der New York Times über das Für und Wider der Napoleon-Verehrung:
Jacques Chirac konnte ihn nicht ausstehen. Nicolas Sarkozy hielt sich fern. François Hollande mied ihn. Aber zum 200. Todestag von Napoleon Bonaparte in dieser Woche hat sich Emmanuel Macron entschieden, das zu tun, was die meisten jüngeren Präsidenten Frankreichs vermieden haben: den Mann zu ehren, der 1799 die entstehende französische Republik durch einen Putsch zerstörte.
Der Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider setzt in einer Tour d’horizon der Meinungsbildungsprozesse den abgesagten Tanz in den Mai als angesagte Lektüre in den Mai in Szene. In seinem lesenswerten und lehrreichen Beitrag für die NZZ heißt es unter anderem:
Für eine andere Studie bat die Psychologin Rebecca Lawson Versuchspersonen, in der groben Skizze eines Velos einige Details einzuzeichnen. 36 von 80 waren nicht in der Lage, Kette und Pedale korrekt zu positionieren.
[1] Dieter Henrich. »Als Philosoph nach München.« Die Philosophie im Prozeß der Kultur. Suhrkamp, 2006, pp. 142-55.
[2] Ethan Millman. »Paul Simon Sells Catalog to Sony Music Publishing.« Rolling Stone, March 31, 2021, https://www.rollingstone.com/pro/news/paul-simon-catalog-sale-sony-music-publishing-1149800/.
[3] Rebecca Onion. »A Modern Feminist Classic Changed My Life. Was It Actually Garbage?« Slate, March 30, 2021, https://slate.com/human-interest/2021/03/naomi-wolf-beauty-myth-feminism-conspiracy-theories.html.
[4] »Robert-Koch-Institut sieht keine Verzerrung durch Corona-Schnelltests.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.2021, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/robert-koch-institut-sieht-keine-verzerrung-durch-corona-schnelltests-17273655.html.
[5] Georg Simmerl. »Die hässlichen Seiten der Belle Époque.